20. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2017

„Geh hinaus und bau Dir eine Hütte“ – Zum 200. Geburtstag von Henry David Thoreau

von Mathias Iven

Zwar bietet die Weltliteratur „Vollendeteres und Glänzenderes, aber nichts Innigeres und Reineres“. So urteilte Hermann Hesse im Jahre 1927 über Henry David Thoreaus Buch „Walden oder Das Leben in den Wäldern“. Zweifellos gehört dieser Text zu den literarischen Meisterwerken – wenngleich er weit häufiger zitiert als gelesen wird. Frank Schäfer, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits diverse Romane und Sachbücher veröffentlicht hat, zeigt in seiner soeben erschienenen, äußerst anregenden Biographie, wie aktuell Thoreaus Werk ist und was es noch zu entdecken gilt …
Thoreau wird am 12. Juli 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten in Concord, einer 1635 gegründeten kleinen, ländlichen Gemeinde in Massachusetts, geboren. Lebenslang mit diesem abgeschiedenen, westlich von Boston gelegenen Städtchen verbunden, vertraut er seinem Tagebuch 1856 an: „Ich habe niemals mit dem Staunen aufgehört, dass ich am schätzenswertesten Ort der ganzen Welt geboren wurde, und noch dazu im idealen Augenblick.“
Sein kurzes, nur 44 Jahre währendes Leben wird wesentlich geprägt durch die Bekanntschaft mit dem 14 Jahre älteren Ralph Waldo Emerson, dem er im Herbst 1837 zum ersten Mal begegnet. Der von einigen Zeitgenossen abfällig „Yankee-Platon“ titulierte Emerson, der sich zwei Jahre zuvor in Concord niedergelassen hatte und dessen erste Essay-Sammlung gerade erschienen war, übernimmt die „Rolle einer intellektuellen Vaterfigur“. In seinem Haus holt sich Thoreau Anregungen, „die ihm seine zwar kultivierte, belesene, aber eben nicht akademisch gebildete Familie kaum bieten kann“. Das Verhältnis zu Emerson ist jedoch nicht frei von Spannungen. „Thoreaus ewiger Widerspruchsgeist, seine Kompromisslosigkeit auch in Kleinigkeiten und sein bis zur Unhöflichkeit knorriger Eigensinn“ machen, so bringt es Schäfer auf den Punkt, „den Umgang mit ihm nicht immer leicht“.
Mitte 1838 gründet er gemeinsam mit seinem Bruder John eine Privatschule. Als dieser im Januar 1842 an einer zu spät erkannten Tetanusinfektion stirbt, ist das eine „Tragödie, die Thoreau für eine Weile völlig aus der Bahn werfen wird“. Vier Personen, die er allesamt bei Emerson kennenlernt, helfen ihm über den Verlust hinweg. Zum einen ist das der Pädagoge und Frauenrechtler Amos Bronson Alcott, „einer der letzten Philosophen“ und, wie es später in „Walden“ heißt, ein „wahrer Menschenfreund“. Zum anderen ist da Richard Fuller, den Thoreau für die Aufnahmeprüfung in Harvard vorbereitet und mit dem er im Juli 1842 eine längere Wanderung unternimmt, in deren Folge er seinen Essay „A Walk to Wachusett“ publiziert. Hinzu kommt Nathaniel Hawthorne, der im Sommer 1842 ein Haus in Concord bezieht. Mit seinen Kontakten zur Literaturszene verschafft er Thoreau nicht nur Publikationsmöglichkeiten, sondern macht zugleich Werbung für dessen Werk. Und schließlich kümmert sich der Dichter Ellery Channing, Thoreaus erster Biograph, um ihn.
In einem am 5. März 1845 geschriebenen Brief wird Thoreau von Channing ermuntert, sich am drei Kilometer südlich von Concord gelegenen Waldensee eine Hütte zu bauen. Sofort beginnt er mit der Arbeit. In den kommenden Wochen fällt er Bäume und legt ein Feld für Kartoffeln, Bohnen, Mais und Rüben an. Am 4. Juli 1845, es ist der 69. Unabhängigkeitstag der USA, transportiert Thoreau sein spärliches Hab und Gut hinaus zum See. „Die Natur“, so hält er ein Jahrzehnt später in seinem Tagebuch fest, „die für den einen eine nackte und grässliche Einöde ist, ist für den anderen eine süße, zärtliche und wohltuende Gesellschaft.“ Zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage lebt er auf nur 15 Quadratmetern. Am 6. September 1847 kehrt er in die Stadt zurück. Schnell reift der Entschluss, aus dem „Experiment“ ein Buch zu machen – allerdings wird Thoreau den ersten Entwurf noch sieben Mal überarbeiten. Erst Anfang August 1854 erscheint „Walden oder Leben in den Wäldern“ in einer ersten Auflage von 2000 Exemplaren.
Um zwischenzeitlich seinen Lebensunterhalt zu sichern, legte Thoreau, wie Schäfer es formuliert, „eine gewisse Yankee-Findigkeit an den Tag“. So eignete er sich autodidaktisch nicht nur die erforderlichen Kenntnisse an, um als Landvermesser zu arbeiten, er intensivierte vor allem seine Vortragstätigkeit. Manche taten ihn zwar als „philosophierenden Waldschrat“ ab, die Presse hingegen bewarb seine Auftritte mit dem Versprechen: „Es gibt keinen einzigen jungen Mann in diesem Land – und nur sehr wenige Alte –, die von einem aufmerksamen Besuch dieser Lesung nicht profitieren.“
Am 26. Januar 1848 spricht Thoreau „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat“. Seit Jahren zahlt er keine Steuern, da er „einen kriegstreiberischen, mit den Sklavenhaltern gemeinsame Sache machenden Staat nicht auch noch finanziell unterstützen wolle“. Er will, so erklärt Thoreau, „nicht als Mitglied irgendeiner Vereinigung angesehen werden“, „in die [er] nicht eingetreten“ ist. „Thoreau betrachtet sich“, so Schäfer, „als souveränes Individuum, das außerhalb der Gesellschaft steht und folglich nicht für deren Belange zur Kasse gebeten werden darf.“ Allerdings – und das fällt auch an anderer Stelle auf – schöpft der Vortrag „sein Wirkungspotential vor allem aus seiner literarischen Suggestionskraft und nicht unbedingt aus einer stichhaltigen und kohärenten Argumentation“.
Ein dritter, nach „Walden“ und neben der „Pflicht zum Ungehorsam“ auch heutigentags noch einflussreicher Text ist „Walking“ (deutsch „Vom Wandern“ oder auch „Vom Spazieren“). Im Juni 1862, kurz nach Thoreaus Tod veröffentlicht, zählt er zu den grundlegenden Dokumenten der Naturschutz- und Nationalpark-Initiative der USA. Sich gegen eine kontinuierliche Domestizierung der Umwelt wendend, bekräftigte Thoreau darin noch einmal seine Auffassung, den Menschen in erster Linie „als einen Bewohner oder wesentlichen Bestandteil der Natur“ und nicht so sehr „als ein Mitglied der Gesellschaft“ zu sehen.
Thoreau stirbt am Morgen des 6. Mai 1862. Am Ende des Nekrologs seines Freundes Emerson heißt es: „[…] wo immer es Wissen gibt, wo immer es Tugend gibt, wo immer es Schönheit gibt, wird er eine Heimat finden“.

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„Wir verehren Thoreau, weil er alles Materielle verachtete.“ Das zumindest ist die Meinung von Susan Cheever. In ihrem bereits vor zehn Jahren in Amerika publizierten, jetzt in einer deutschen Ausgabe vorliegenden Buch „American Bloomsbury“ hat sich die an der New Yorker New School lehrende Autorin nicht allein mit Thoreau und Emerson beschäftigt, sondern darüber hinaus deren gesamten Freundes- und Bekanntenkreis in den Blick genommen. Als sie im Jahre 2000 gefragt wurde, ob sie nicht Lust hätte, ein Vorwort zur Neuauflage von Louisa May Alcotts Roman „Little Women“ zu schreiben, sagte sie ohne zu zögern zu. Doch ihre Lektüre lenkte sie in eine andere Richtung und der Auftrag war schnell vergessen. Cheever hatte bemerkt, dass Alcotts Buch „in Wahrheit das facettenreiche Porträt mehrerer amerikanischer Schriftsteller [ist], die zur selben Zeit am selben Ort gelebt hatten“. Es ging darin um Concord, genauer gesagt um die Bewohner von drei Häusern an einer Kreuzung in Concord: Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Amos Bronson Alcott und dessen Tochter Louisa May, Nathaniel Hawthorne sowie Margaret Fuller.
Cheevers umfassende Darstellung der damaligen Ereignisse beginnt an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 1840 mit der Ankunft der Alcotts in Concord und endet 1882 mit dem Tod von Emerson. Die Begebenheiten der dazwischenliegenden vier Jahrzehnte werden von ihr teils mehrmals, jeweils aus der Sicht eines anderen Protagonisten, erzählt, um so den „engen Beziehungen untereinander gerecht zu werden“. Im Zentrum steht dabei die Frage: Warum kam es um die Mitte des neuzehnten Jahrhunderts gerade in Concord zu einer solchen Eruption schöpferischen Genies? Für Cheever gibt es nur eine Antwort: „[…] im gemächlichen Rhythmus eines dörflichen Lebens, konnten Männer Bedeutendes ersinnen, ohne von anderer Leute Ansichten und Regeln gestört zu werden“.
Fraglos sind Cheevers Protagonisten „die Väter und Mütter der amerikanischen Literatur, sie bildeten Amerikas ersten literarischen Zirkel“. Und nicht nur das, waren sie doch zugleich die ersten „Berufsschriftsteller“ des Landes. Gedanken, die unsere Welt bis heute prägen, nahmen hier ihren Anfang. Bei all dem erklärt sich dann auch der von ihr gewählte Titel „American Bloomsbury“, der nicht nur auf die englische Bloomsbury Group um Virginia Woolf verweist, sondern den Mitte des 19. Jahrhunderts mit Concord verbundenen Schriftstellern den entsprechenden Stellenwert in der Geschichte der Ideen von Freiheit und Demokratie zuweist.

Frank Schäfer: Henry David Thoreau – Waldgänger und Rebell. Eine Biographie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 253 Seiten, 16,95 Euro.

Susan Cheever: American Bloomsbury – Ein Leben zwischen Liebe, Inspiration und Natursehnsucht, Insel Verlag, Berlin 2017, 288 Seiten, 24,00 Euro.