20. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein kleines Lied als Trostpflaster, Emils neue Berlin-Hymne und zwei Sonntagskinder in der Glückshaut …

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Winnie, dein Name passt zu Berlin. Und auch zu Dagmar Manzel; natürlich, sie ist ja hier geboren; und so gibt sie dem unentwegt nervös an- und abschwellenden Plapperton ihrer Winnie in Samuel Becketts das Ende vom Dasein beschwörenden Monolog „Glückliche Tage“ gern auch – „alter Stil“ ‑ einen feinen Klaps kesse Göre bei. Bitte keine Sentimentalitäten, dafür kecker Sarkasmus im Deutschen Theater. Tränen weggesteckt, Trauerkloß ist nicht. Dafür plätschert locker der alltägliche Redefluss, funkelt der Blick, wird wieder das Haar geschüttelt, das Hütchen gerichtet. Selbstdisziplin: „Bleib adrett, komme was da wolle.“ „Alter Stil“ eben.
Dabei weiß Winnie nur zu gut, was da kommt, was sich da mit grausamer Unaufhaltsamkeit an sie heran schiebt: das Ende nämlich. „Fahnenpurpur“ lacht sie, „bleiches Banner“ murmelt sie bitter beiseite. Aber noch kann sie ja den Kopf heben, senken, heben, „das immerhin“. Ansonsten klammert sie sich tapfer fest auf ihrem Stuhl am Bühnenrand vor hohen Spiegeln, viel mehr geht nicht an Beweglichkeit, am Ende wackelt nur noch der Kopf – doch das Mundwerk flattert: Und was flattert, lebt. Also ist dieser Tag ein glücklicher. „Keine Besserung, keine Verschlimmerung, keine Veränderung.“ Das ist schon viel, mehr Glück geht nicht an diesem „himmlischen Tag“. Geht längst nicht mehr. Also: Gute Laune, „alter Stil“ – und gelegentlich nach Willie gerufen, ihrem Gefährten auch im schmerzlich-finalen Glück. „Jetzt dauert‘s nicht mehr lange Winnie […].“ Jörg Pose gibt ihn knurrig; der kraftlos brave Alte hat nicht mehr viel zu knurren – mit blutigem Loch unterm Strohhut am Boden liegend gleich neben der offenen Tür, die Bühnenbildnerin Anne Ehrlich in die Spiegelwand schnitt.
Die Bühne ist kein weltallweit offener Raum mit zwei grabgleichen Erdlöchern für zwei arme Alte im Wartestand auf Tod – und womöglich Weltuntergang. Und Regisseur Christian Schwochow verbietet sich auch gleichnishaft platte Deutungen ins hochphilosophisch Tiefschwarze. Kein Nihilismus. Schwochow inszeniert mit leichter Hand und zart komödiantischem Einschlag ein Ehe- und Altenstück, ein Kranken- und Abschiedsstück, eine Tapferkeitshymne. Durch das immerwährendes Weh, immerwährende Tragik wie von fern (und deshalb uns so teuflisch nah!!) schimmern.
Dementsprechend nimmt sich die Manzel die Freiheit, über ihr Unfrei-Sein (alle Menschenkinder sind es) zu lächeln (kein Jammern und Klagen – „alter Stil“!). Mit einem leisen Triumph im Mundwinkel, mit einer ebenso leisen Bitterkeit und immer mal wieder mit ungenierter Kindlichkeit. Wie schön! Selten schön.
„Winnie, jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Dann darfst du, dann musst du deine Augen schließen – und geschlossen halten.“ Stammelt Willie am Schluss. Was soll sie da sagen. Sie summt ihm zart schmachtend ihr walzerndes Liebeslied: „Lippen schweigen, ‘s flüstern Geigen: Hab mich lieb […].“ ‑ Ach!

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„Knorke ist doppelt so schnafte wie dufte“, das hat Emil Tischbein (Ilja Pletner) auch erst lernen müssen, nachdem er zu Hause in Neustadt von Muttern in den Zug gesetzt wurde, um bei Oma und Cousine Pony Hütchen im fernen Berlin Ferien zu machen. Doch unterwegs in der Eisenbahn klaut ihm Grundeis, der fiese Mann mit dem Hut, die Reisekasse und obendrein die Extra-Knete, die Mama ihm als Zuschuss für Großmamas Rente mitgegeben hat. Zum Glück trifft am Hauptbahnhof Emil auf Gustavs Kinderbande. Und, nachdem das mit „knorke“ geklärt ist, geht’s kollektiv auf abenteuerliche Diebshatz quer durch Berlin. Einer für alle, alle für einen. Kinder an die Macht.
Erich Kästners Kinderbuch-Klassiker von 1930 „Emil und die Detektive“ – die wohl erfolgreichste Krimigeschichte für Kinder aller Zeiten – hat jetzt das beispiellos kreative Atze-Musiktheater im Berliner Wedding zum hinreißenden Singspiel umgemodelt (musikalische Leitung: Sinem Altan). Der wahrlich wunderbare Thomas Sutter textete und komponierte höchst einfallsreich. Und inszenierte die wilde verwegene Jagd der dufte-schnafte Pfiffikusse nach dem geldgierigen Ganoven mit schönen Momenten kontemplativen Innehaltens sowie fein aufschlussreich – hinsichtlich geschickt eingebauter politisch-sozialer Details von heutzutage.
Wie sich’s gehört gibt es auch Ohrwürmer zum Mitklatschen: „Wer Berlin nicht kennt, hat die Welt verpennt“ – eine neue Berlin-Hymne! Und natürlich „Parole Emil!“. Musiker und Ensemble mischen das Publikum auf. Auch die Hortgruppe der Havelland-Grundschule half mit (nächstens kommen andere Kids an die Reihe), den Bösewicht zu fassen. Action! Der Saal kocht – oder schreckt zusammen, wenn die Ermittlungen stocken oder das Böse zurück schlägt aufs Gute. Am glücklichen Ende massenhaft solidarisches Triumph-Geheul; klingt machtvoll im proppenvollen Gehäuse. Total toll! Wird jenseits der häuslichen Spielkonsolen absolut Kult. Nix wie hin!

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„Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin.“
Mit diesem gewagt gewundenen Satz beginnt das erste Kapitel des Romans „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann. Die koketten Skrupel, die der Autor dem charmant durchtriebenen, sympathisch betrügerischen Sohn eines rheinischen Sektfabrikanten ins gespitzte Mäulchen legt, mögen auch die beiden Jungschauspieler Leonard Scheicher und Felix Strobel gehabt haben, bevor sie sich im Berliner Ensemble unter aufmunterndem Zuspruch von Regisseur Veit Schubert daran machten, den Klassiker um das „in einer Glückshaut geborene Sonntagskind“ mit all seinen „Einfällen und Einbildungen“ übers Brettl zu jagen. Ihre Sorge – vergebens.
Denn mit hinreißendem Können gelang es den beiden, in einer umwerfend vergnüglichen Stunde ihre Lieblingsszenen aus immerhin 400 Seiten „Krull“ Revue passieren zu lassen. Tolles Kunststück, diese rasende Two-Men-Show, in der die phantastischen Zwei von einem Moment zum nächsten präzis die Rollen (und Romanfiguren) wechseln. Ein verwegener, geistreicher Spaß der beiden Theater-Sonntagskinder mit der Glückshaut, dieser verrückte Geschwindmarsch durch Manns Meisterwerk, das teils noch im amerikanischen Exil entstand und 1954, ein knappes Jahr vor Manns Tod, in beiden Deutschlands erschien. – An seine Tochter Monika schrieb der beinahe Achtzigjährige Autor: „Der Erfolg von ‚Krull‘ ist ganz lächerlich. Er hält schon beim 42. Tausend und hat eine verzückte Presse. Ich falle aus den Wolken, wie gewöhnlich.“ – Wir tun es ungewöhnlicherweise auch und sind verzückt ob dieser ganz und gar großartigen, überraschend wenig beachteten und nun nicht mehr lange gezeigten Theaterstunde mit Schleicher & Strobel, Mann & Krull. Denn am 2. Juli ist Schluss mit Peymann-BE; im Herbst kommt der Neue.