20. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2017

Doppelte Staatsbürger

von Peter Petras

Deutsche Politiker und Medien haben Probleme mit den doppelten Staatsbürgern, also jenen Menschen, die in zwei Ländern und Kulturen leben. Im deutsch-US-amerikanischen oder deutsch-französischen Verhältnis wird das gern als Vorzug kommentiert, während in der deutsch-türkischen Beziehung dies immer wieder als Schwierigkeit kommuniziert wird. Der rechte Teil der CDU hatte damit einst sogar Wahlen gewonnen (Roland Koch, Landtagswahl in Hessen 1999), indem sie parallel zur Wahl eine Unterschriftenkampagne gegen eine damals von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung angestrebte Reform des Staatsbürgerrechts initiiert hatte.
Da ist zunächst das Problem der Doppelten Staatsbürgerschaft. Nachdem im Februar der Journalist Deniz Yüzel in der Türkei verhaftet worden war, unter welchen fingierten Vorwänden auch immer, hieß es in den deutschen Medien immer, die Türkei „betrachte“ den Mann als türkischen Staatsbürger, während er doch die deutsche Staatsbürgerschaft habe. Mittlerweile hat die türkische Regierung der deutschen Botschaft in der Türkei den Zugang zu dem Inhaftierten erlaubt. Das war jedoch eine Kulanz-Sache. Im Völkerrecht ist das eindeutig geregelt. Wer zwei Staatsbürgerschaften hat, wird in jedem der beiden Länder als eigener Staatsbürger betrachtet und unterliegt dem dortigen Recht. In einem Drittland kann er sich aussuchen, welchen der Pässe er vorzeigt – und wird entsprechend behandelt. In einem der beiden Heimatländer kann er das nicht, kann er sich auf die jeweils andere Staatsbürgerschaft nicht berufen, sondern ist Inländer. Insofern muss – angesichts der innenpolitischen Verschärfung in der Türkei, des Abbaus der Bürger- und Freiheitsrechte, der Verhaftungswellen und Verfolgungen – jeder politisch aktive Mensch, wie etwa ein Journalist, der kritisch über Erdogan und dessen AKP-Partei berichtet, wissen, was er tut, wenn er die türkische Staatsbürgerschaft behält: Er muss mit den Häschern rechnen. Alles andere sind Ausreden.
Nach vielen Auseinandersetzungen, auch um öffentliche Auftritte türkischer Regierungspolitiker in Deutschland, hat nun am 16. April das Referendum über die Einführung des Präsidialregimes in der Türkei stattgefunden. Dabei haben 51,4 Prozent für Erdogans Sultanats-Projekt und 48,6 Prozent dagegen gestimmt, bei einer hohen Wahlbeteiligung von über 85 Prozent. Trotz aller Manipulationen und Repressionen gegen die Nein-Kampagne ein bemerkenswertes Resultat. Das hatte Erdogan offenbar nicht erwartet und mit einer höheren Zustimmung gerechnet. In fast allen Großstädten, im Westen und Südosten des Landes hatte er keine Mehrheit. Das Land ist faktisch geteilt. Erdogan leitet aus dem Ergebnis dennoch eine Ermächtigung ab.
Die Wahlbeteiligung der Auslandstürken in Deutschland betrug nur etwa 49 Prozent und lag damit deutlich niedriger als in der Türkei. Von den 2,8 Millionen Türkischstämmigen in Deutschland haben 1,4 Millionen die türkische Staatsbürgerschaft und waren wahlberechtigt. Von denen haben knapp 700.000 abgestimmt, darunter 400.000 für Erdogan. Das waren etwa 63 Prozent Ja-Stimmen, also prozentual mehr als in der Türkei, bezogen auf die Gesamtpopulation jedoch eine Minderheit. Am höchsten war die Zustimmung mit fast 76 Prozent in Essen, am niedrigsten in Berlin mit gut 50 Prozent. In anderen EU-Ländern lag die Zustimmungsquote noch höher als in Deutschland, so in den Niederlanden, in Dänemark, Belgien und Österreich über 70 Prozent. In Bulgarien dagegen waren es nur 29 Prozent. Offenbar sinkt unter den Auslandstürken die Zustimmung zu Erdogan mit der geographischen Nähe zur Türkei.
Hierzulande sorgten vor allem die Wahlergebnisse in Deutschland für politische Unruhe. Grünen-Chef Cem Özdemir monierte, die in Deutschland lebenden Türken würden die Vorteile der hiesigen Demokratie genießen, in der Türkei aber für die Errichtung einer Diktatur eintreten. Das seien „Versäumnisse der Integrationspolitik“. Die CSU-Landesgruppenchefin im Deutschen Bundestag, Gerda Hasselfeldt, meinte ebenfalls konsterniert: „Wenn man den Ergebnissen trauen kann, hat eine große Mehrheit der Türken, die bei uns alle demokratischen Freiheiten in Anspruch nimmt, entweder gar nicht gewählt oder der Verfassungsänderung zugestimmt und damit die eigenen Landsleute dazu verurteilt, künftig in einem autoritären Staat zu leben.“ Beatrix von Storch, Europa-Abgeordnete von der AfD, betonte ebenso: „Ihr verachtet offenbar unsere Werte von Demokratie und Freiheit. Ihr wollt islamische Diktatur.“ Sie forderte die Deutschtürken, die für Erdogan gestimmt haben, zur Rückkehr in die Türkei auf.
Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament und stellvertretende CSU-Vorsitzende Manfred Weber nannte die EU-Beitrittsperspektive für die Türkei eine „Lebenslüge“, die nun vom Tisch genommen werden müsse. Auch die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner erklärte: „Die Tür zu einem EU-Beitritt ist nun endgültig zu – und finanzielle Heranführungshilfen an die EU sind spätestens jetzt hinfällig.“ Die Türkei hatte im Zuge des Beitrittsprozesses zwischen 2007 und 2013 4,8 Milliarden Euro von der EU erhalten. Für den Zeitraum 2014 bis 2020 sind weitere 4,45 Milliarden Euro eingeplant. Auch FDP-Präsidiumsmitglied Alexander Graf Lambsdorff forderte ein Ende der Beitrittsverhandlungen. Die Beziehungen zur Türkei sollten „sich endlich von diesem gescheiterten, zombiehaften Prozess lösen und auf eine ehrliche Grundlage gestellt werden“. Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok plädierte in einem Welt-Interview dafür, die Beitrittsverhandlungen nur bei einer Wiedereinführung der Todesstrafe abzubrechen – Erdogan hatte nach seinem Sieg im Referendum gesagt, er sehe es als eine „erste Aufgabe“ an, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Linke und Grüne forderten nach dem Referendum Konsequenzen für die militärische Zusammenarbeit mit der Türkei: Die etwa 260 auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten sollten abgezogen und alle Waffenlieferungen gestoppt werden.
Die deutsche Politik aller Couleur zeigt sich wieder einmal in all ihrer Unbeholfenheit. Offenbar ist das dem doppelten Staatsbürger eigene Problem der doppelten Identität nicht begriffen. Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Ferhad Seyder von der Universität Erfurt (tagesschau.de, 18. April 2017) hatte einen wichtigen Hinweis gegeben. Er meinte, viele hatten „das Gefühl, dass die Türkei von allen Seiten angegriffen wurde. Die in Deutschland lebenden Türken wollten ihre alte Heimat also in Schutz nehmen.“ Hinzu kam, „dass die AKP die Kritik an Erdogan als Medienkampagne dargestellt hat. Da kam dann unter Deutschtürken so ein Gefühl auf wie: „Das ist ungerecht.“ Viele Türken, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, „fühlen sich natürlich als Deutsche. Aber in bestimmten Situationen glaubt man, dass man die alte Heimat verteidigen muss. Denn der türkische Nationalismus ist nie erloschen. Er ist Bestandteil der türkischen Republik seit Kemal Atatürk, das hat also etwas mit Tradition zu tun. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber man kann ein deutscher Bürger sein, aber man hört eben auch nie auf, türkischer Bürger zu sein“.
Wahrscheinlich können aus der DDR kommende Deutsche das besser nachvollziehen, als geborene Westdeutsche.