20. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2017

Konsensmomente und ein bisschen Schwarz
Im Gespräch mit – Stefan Reichmann, Haldern Pop

Haldern ist ein Ort am Niederrhein mit etwa 6000 Einwohnern, der international bekannt geworden ist durch sein alljährliches dreitägiges Musikfestival, über das im Blättchen bereits berichtet wurde.
Neben dem Festival haben sich die Halderner seit dessen Beginn im Jahre 1984 mit einem eigenen Musiklabel, der Pop Bar und einem Vinyl-Plattenladen mitten im Ort und einem seit 2015 stattfindenden Schwesterfestival in Kaltern/Südtirol ein eigenes musikalisches Universum geschaffen.
Wir sprachen mit Stefan Reichmann, dem Veranstalter des Haldern Pop Festivals, über Heimat, Gemeinschaftsgefühle und natürlich über Musik.

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Herr Reichmann, während des Festivals finden die Konzerte vor allem auf der großen Bühne und im kleineren Spiegelzelt statt, aber auch in der Kirche …
Stefan Reichmann: Das Festival mit den Kirchenkonzerten zu beginnen, war eine der besten Entscheidungen überhaupt. Ich bin ja mit dieser Kirche groß geworden, habʼ da auch als Messdiener gestanden, und ich fand diesen Ort immer spektakulär. Und natürlich habe ich auch mal gedacht: jetzt Jimmy Page mit einer lauten Gitarre. Doch heute weiß ich, dass es keinen Sinn ergibt, in einer Kirche die große Konfusion stattfinden zu lassen; man muss vielmehr den Kontext Kirche wirken lassen.

Ein gutes Konzert ist wie eine Messe.
Reichmann: Genau. Da trifft man sich, da entwickelt man Konsens und dann geht man auseinander. Im Jugendheim der Pfarrei, das in den 50er Jahren gebaut worden ist, hat im Grunde alles angefangen. Das war immer Milieu, immer Schnittstelle, da wurde nie diskutiert, wer evangelisch oder katholisch war. Da trafen sich der Kirchenchor und die anonymen Alkoholiker, ein richtiger melting pot, der mitten im Dorf lag, das heißt, man musste gucken, dass man sich mit dem Nachbarn arrangierte. Und dort haben wir viel Musik gehört, da ist das Festival gegründet worden.
Diese Headline in einer der letzten Welt am Sonntag – habʼ ich beim Bäcker gesehen – „Der neue Luxus ist das verwöhnte, gepflegte Selbst“ finde ich furchtbar. Jeder denkt immer darüber nach, wie er unique sein kann und darüber verlieren wir den gemeinsamen Moment. Die Leute sind früher einmal in der Woche in die Kirche gegangen, um ihre Ängste in den Griff zu bekommen, aber auch um diesen Moment mit den anderen zu teilen. Und ich glaube dieser Moment ist wichtig, wenn man da gemeinsam sitzt und in eine Richtung schaut und das Gefühl hat, wir teilen so gewisse Dinge miteinander.
Diesen gemeinsamen Nenner zu schaffen, ist ganz wichtig bei einem Festival, der darf nicht zu groß, der darf aber auch nicht zu klein sein. Gerade in unseren Tagen ist es wieder an der Zeit drüber nachzudenken, was wir gemeinsam haben, egal mit wem.

Ein besonderer Moment war das Konzert von Patti Smith vor drei Jahren …
Reichmann: Ja, als Patti Smith im Gedenken an Lou Reed dessen „Perfect Day“ gesungen hat, habe ich gemerkt, wie sie selbst emotional ergriffen war, als das Publikum angefangen hat zu singen. Da veränderte sich der ganze Auftritt. Als wenn sie den Rucksack wegwirft und die letzten Meter zum Gipfel einfach rennt. Patti Smith tastet sich sehr sensibel an so einen Auftritt ran. Die geht ja erstmal davon aus, dass die ersten Leute sich umdrehen und weggehen, weil es zu leise ist. Die klopft ganz vorsichtig an und schaut, was das heute für ein Auftritt wird.

Wieso ist das Festival so enorm erfolgreich geworden?
Reichmann: Ich glaube, alles was wir hier erreicht haben, haben wir über unsere Gastfreundschaft erreicht. Dass wir uns wahnsinnig darauf freuen, wenn die Musiker und die Besucher – auch von weit her – zu uns kommen. Letztendlich ist Haldern auch klein geblieben, weil wir gute Gastgeber nur für diese Größe sein können. (Die Veranstalter verkaufen maximal 7000 Tickets für das Festival – Anm. der Red.) Wir versuchen die Qualität, die Musik hat, für einen Moment zu potenzieren, und etwas zu erzeugen, das die Leute mit nach Hause nehmen können.
Haldern lebt wesentlich von der Aufmerksamkeit des Publikums. Ein großer gemeinsamer Nenner ist die Sehnsucht der Menschen und ihre Freude, Musik zu hören und zu teilen. Und die Reaktion auf die Musik bei uns löst sich ja in der Regel nicht durch Ekstase direkt wieder auf, sondern ist eher ein Gefühl, das sich statisch auflädt und das man nur ganz langsam wieder abgibt. Die Musiker reden auch immer davon, dass es hier so eine gewisse Spannung gibt und eine unsichtbare Verbindung zum Publikum. Man wird getragen und spürt die Kräfte, die Musik entfalten kann.

Ohne die Verwurzelung des Festivals im Ort hätte das Ganze sich sicher nicht so entwickeln können?
Reichmann: Es gibt einen Schützenverein, da schalten wir eine Anzeige. Wir finden das gut, da haben wir großen Respekt vor. Wie dieser Ort immer schon gewachsen ist, da wollen wir uns nicht drüber stellen, aber auch nicht drunter. Und die Dinge funktionieren ja nur, wenn man sich gegenseitig respektiert.
Mein Festival der Zukunft ist, dass man einen Ort bespielt, aber das nicht überall eine Bühne steht, sondern dass einfach Musiker sich treffen, ein gutes Gefühl miteinander teilen und zusammen essen und trinken und sich austauschen und in den verschiedensten Formationen in den Ort strömen und gucken, wen sie bespaßen können.

Das Motto des Trailers, mit dem die ersten Bands für 2017 angekündigt wurden, lautete „Try to keep it simple“. Darüber kommen wir auf das Thema Handys bei Konzerten zu sprechen.
Reichmann: Es gibt ja Leute, die haben geradezu Angst, Dinge eins zu eins wahrzunehmen. Die widersetzen sich schönen Momenten, indem sie anfangen, sie zu fotografieren und zu speichern. Als ob das Motto lautete: „Ich will den Moment nicht genießen, ich will ihn besitzen.“

Als ich mit meiner Frau in Russland war, hat die Reiseleiterin gesagt, wir sollen in den Kirchen mit den Augen fotografieren.
Reichmann: Richtig. Das Schöne ist doch, so wird es erst eine Geschichte. Wenn ich mit den Augen fotografiere, dann kann ich diese Geschichte hinterher erzählen. Wenn ich hingegen in einer Runde sitze und man erzählt was und dann packt einer sein Smartphone aus und zeigt Fotos, dann können drei, vier Leute etwas sehen, die anderen hören auf zu sprechen, sind unterbrochen, alles vorbei.

Wer stellt das Programm beim Festival zusammen und wer bucht die bis zu 60 Künstler?
Reichmann: Das Programm mache ich. Ich rede mit einigen Kollegen, mit Freunden, die mir nahestehen, und fahre zu vielen Festivals und Konzerten, um die Bands live zu sehen – nach Island, Nordamerika, England, Holland, Osteuropa. Ich versuche, so viel wie möglich mitzukriegen, aufmerksam zu sein. Das ist kein demokratischer Prozess, wo abgestimmt wird. Dann wären wir vielleicht schneller erfolgreich gewesen, aber uns würde es heute nicht mehr geben, da bin ich mir sicher. Manche Besucher haben eine Riesen-Erwartungshaltung an das Festival, Und wenn mich zwischenzeitlich etwas aufregt, dann sind das Leute, die sagen, früher sei alles besser gewesen. „Ich habe bezahlt, also bin ich“ und fangen dann an, Forderungen zu stellen. Wenn ich dächte, ich müsse diesen oder jenen mit dem Festival beeindrucken, dann würde ich den roten Faden verlieren. Darüber hinaus habe ich durch das Festival über die Jahre gelernt, wenn der Rahmen bunter ist als das Bild, dann hatte der Künstler keinen Einfluss auf die Ausstellung oder er ist ein schlauer Designer.

Reichmann kann trotz seiner langen Zeit im Musikbusiness immer noch ins Schwärmen geraten.
Reichmann: Ich habe jetzt wieder ein paar Sängerinnen entdeckt, die unfassbar sind. Zum Beispiel „Mahalia“ aus Leicester: Ich habe selten so eine junge, selbstverständliche Sängerin gesehen, die sich hinstellt und ohne Arroganz was zu sagen hat. Das ist so beeindruckend.

So wie letztes Jahr „Ala.ni“, die vor ihrem Konzert erst mal die Kerzen am Altar der Kirche angezündet hat?
Reichmann: Das war aber keine Intendanzentscheidung, nach dem Motto: Jetzt machen wir es einmal besonders spannend. Da hat die Künstlerin niemanden gefragt, die hat das einfach gemacht. Das ist ein schönes Bild für gesunden Menschenverstand und Eigenverantwortung, sich einfach Dinge herausnehmen, die den Moment zieren, ohne dass man irgendwas zur Explosion bringt.

Gibt es eine Band, die Sie unbedingt haben wollten, aber nie gekriegt haben?
Reichmann (antwortet ganz schnell): Na klar, Peter Gabriel. Aber ich habe einen Freund, der ihn kennt, und vielleicht kommt Peter Gabriel ja mal irgendwann vorbei und spielt „Here Comes The Flood“ auf dem Klavier in der Kirche. Das würde mir reichen. Musiker sind ja auch keine Trophäen.
Eine Band, die sich immer noch gut entwickelt und die ich gern hätte, ist „Radiohead“, aber deren Peripherie lässt gar nicht zu, dass die in Haldern spielen. Die treten da auf, wo es die meiste Kohle gibt. Doch vielleicht haben die irgendwann mal so einen Sehnsuchtsmoment, wo ihnen ihr Bank-Filialleiter auch nicht mehr weiterhelfen kann.

Können Sie sich vorstellen, Bands aus dem arabischen Raum zu buchen?
Reichmann: Ich bin gerade mit einer palästinensischen Band aus Ramallah zugange. Ich würde das gerne machen, aber das ist organisatorisch nicht so einfach.

Wie sehen Sie die Bandbreite der Bands, die für das Festival infrage kommen?
Reichmann: Wir hatten 1998 das Festival Alexandra und Jeff Buckley gewidmet. Da haben sich die Leute gefragt, warum gerade diese Beiden. Alexandra war doch Schlager. Klar wurde an der immer viel rumproduziert, aber die war eine außerordentliche Frau. Ich habe kein Problem mit Kitsch zum richtigen Augenblick. Bei Produktionen im Studio sage ich aber auch schon mal: Das Lied ist gut, allerdings fehlt mir ein Schwarz. Ein Lied kippt, wenn es nicht genug Tiefe hat.
Mir gefällt es, wenn musikalische Welten aufeinandertreffen und nicht an ihrem Anspruch zerschellen, sondern korrespondieren, wie im vergangenen Jahr auf dem Kaltern Pop mit Cantus Domus und einem wirklich guten Udo Jürgens Interpreten, Stefan aus dem „Lustigen Krokodil“. Das war ein Fest für alle und spontan. Diese beiden Welten würde ich gerne eintüten und den Journalisten schicken. Mit der Anmerkung: Wenn ihr uns katalogisieren wollt – dazwischen liegt alles, was wir gut finden.

Dann kommen wir auf Bob Dylan und den Nobelpreis zu sprechen.
Reichmann: Bob Dylan hat mich schockiert mit seiner ganzen Verhaltensweise. Ich schätze ihn als Musiker sehr, aber hier hätte er doch direkt sagen sollen, ach lass mal, ist zwar gut gemeint. Aber ich bin raus.

Ich habe mich sehr gefreut. Und viele Menschen haben ja auch gesagt, dass sie die Verleihung wie eine stellvertretende Ehrung empfunden haben: „Das ist für einen von uns.“
Reichmann: Ganz genau. Ich habe mich ja auch gefreut, als ich die Nachricht gehört habe, Bob Dylan. Und dann geht er so damit um. Wirklich schade, denn damit wurde tatsächlich eine ganze Generation geadelt, und dann hat er das den Leuten einfach vor die Füße geworfen.

Wie viele Konzerte können Sie sich anhören beim Festival?
Reichmann: Ich nehme mir den Freiraum und versuche, alle Bands zu sehen. Ich fahre dann immer mit dem Fahrrad hin und her. Natürlich muss ich auch organisatorische Sachen regeln und Entscheidungen fällen. Aber die Hierarchien und Strukturen sind alle organisiert, wir sind ein großes Team und mit dem Produktionsleiter stehe ich in ständigem Dialog.

Wie viele Personen zählt das Team während des Festivals?
Reichmann: Ohne Security sind wir so 380. Und die müssen ja auch immer guter Dinge sein. Ich bin da im Prinzip wie so ein Fußballtrainer in der Kabine.

Wie lange machen Sie den Job noch?
Reichmann: Kann ich nicht sagen. Das hängt ein bisschen davon ab, wie sich die Umstände entwickeln. Das Problem ist die Wirtschaftlichkeit, das Projekt über Wasser zu halten. Solange man Lust hat, das Festival weiterzuentwickeln, hat man Spaß dran, aber der ökonomische Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen. Wäre unser Laden in Köln oder Düsseldorf, würde er Kultursubventionen bekommen, aber wir kriegen keinen Pfennig. Das müssen wir alles selber richten, schauen, dass wir passende Sponsoren gewinnen.

Gibt es eine Nachfolgeregelung?
Reichmann: Da kümmere ich mich gerade drum, aber es ist nicht so einfach, junge Leute heranzuführen. Diese Arbeit muss man schon leben. Und man muss eine Frau haben, die das akzeptiert.

Was war die schwierigste Situation in 34 Jahren Haldern und was die schönste?
Reichmann: Wunderbarer Weise gab es sehr viele schöne Konzertmomente. Eine der schwierigsten Situationen war, als wir vor zwei Jahren kurz davor standen, das Festival zu evakuieren, als ein Unwetter auf uns zu donnerte. Dank der Wetterdaten ergab sich zum Glück, dass sich das Gewitter kurz vor Dinslaken wieder beruhigte.
Schwierig war auch die Situation, als wir Anfang der 1990er Jahre durch einen Auftritt von Bob Geldof das erste Mal ausverkauft waren und so viel Geld verdient hatten, dass wir nicht wussten, was wir damit tun sollten. Da lief das Festival zum ersten Mal Gefahr, über so einen Aspekt zu stolpern. Zuviel Geld ist auch schlecht.

Welche Haupteigenschaft braucht es, um 34 Jahre durchzuhalten und so erfolgreich zu sein?
Reichmann (denkt länger nach): Ich höre immer noch gerne Musik. Und die Wirkung von Musik beeindruckt mich tief. Ich bin mal gefragt worden, wie das Festival angefangen hat. Und da habe ich gesagt, ich glaube mit der roten und der blauen Platte der Beatles. Mit denen bin ich auf mein Fahrrad gestiegen und zu meinem besten Freund gefahren und habe dem die vorgespielt. Diese Form von Begeisterung ist entscheidend.
Und Respekt vor Menschen muss man haben, die Dinge können, die man selbst nicht beherrscht. Auf der Beerdigung des Vaters eines guten Freundes fiel mir der Spruch ein, „An etwas zu glauben ist kein Instrument der Wissenschaft, aber der Zuversicht.“ Zuversicht ist das, was Menschen brauchen, besonders derzeit. Und Musik kann Zuversicht geben.

Ich wünsche uns allen, dass Sie noch lange Spaß an der Musik haben und das Festival noch lange Bestand hat. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Wolfgang Hochwald am 14. Februar 2017.