20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Eine andere Dimension von Westöstlichkeit?

von Wolfgang Schlott

Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.“
(J. W. von Goethe, West-östlicher Divan)

In seiner Abhandlung „Goethe und Hafis. Verstehen und Missverstehen in der Wechselbeziehung deutscher und persischer Kultur“ erläutert der persische Exil-Schriftsteller Mahmood Falaki auch den spezifischen Charakter des west-östlichen Verhältnisses nach dem 11. September 2001. Es gäbe „trotz unterschiedlicher Meinungen über die orientalische Kultur und besonders über den Islam“ zwei konträre Positionen: „Einerseits verteidigen viele Diskutanten die Grundlagen der Demokratie und die historischen Errungenschaften von Humanismus, Aufklärung, Säkularisierung und vor allem der Meinungsfreiheit, andererseits meinen auch viele, dass man in seiner Meinungsfreiheit nicht die religiösen Gefühle der Muslime verletzten dürfe.“
In seinen Ausführungen belegt Falaki an zahlreichen Beispielen, wie westliche kritische Haltungen gegenüber der islamischen Religion unter der Einwirkung von politischen Prozessen in Positionen umschlagen, deren Vertreter unter Verweis auf europäische Menschenrechtskonventionen die Empörung islamischer Kreise über Mohammed-Karikaturen unter Verweis auf die Verletzung religiöser Gefühle verteidigten. Besonders widersprüchlich sei der Wandel der Haltung des Schriftstellers Günter Grass gewesen, der 1989 sich für den in England lebenden pakistanischen Autor Salman Rushdie eingesetzt hatte, als dessen Roman „Die satanischen Verse“ , eine satirische Persiflage auf Mohammed, in den arabischen Staaten auf den Index gesetzt und ein Kopfgeld für die Ermordung des Autors ausgesetzt wurde. Als kein deutscher Verlag es wagte, das Buch zu veröffentlichen, gründete Grass mit einer Reihe renommierter Schriftstellerkollegen einen Verlag, um „Die satanischen Verse“ auf den Markt zu bringen. Sieben Jahre später, als Mohammed-Karikaturen in Westeuropa zu Ausschreitungen in islamischen Ländern führten und Impulse für die Radikalisierung religiöser islamischer Kreise lieferten, habe Grass „sein Verständnis für die ‚Verletzung der Gefühle der Muslime‘“ bezeugt und „die Reaktionen der Muslime, also den Mordaufruf und die Attentatsdrohung, als eine ‚fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Tat‘“ bezeichnet.
Ähnlich motivierte Kritik an diesen Karikaturen kam, wie Henryk M. Broder feststellte, von deutschen Politikern, während der renommierte Historiker Wolfgang Benz die Islamkritiker mit den Antisemiten des 19. Jahrhunderts verglich, „als die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ als ‚antisemitisches Pamphlet, das eine jüdische Weltverschwörung belegen sollte“, entstanden. Falaki verweist an dieser Stelle auf die Position eines Gegners derartiger Interpretationen. So vertrete Richard Dawkins die Meinung, dass die Verletzung der Gefühle „der Muslime durch Mohammed-Karikaturen“ nicht darauf beruhte, dass „irgendein Mensch Gewalt oder Schmerzen erleiden“ würde. Er wende sich auch gegen die überaus respektvolle Haltung der westlichen Gesellschaften gegenüber den islamischen Religionen. Im Gegensatz dazu würden die Muslime keine Rücksicht auf die Gefühle von Menschen anderer Religionsgemeinschaften nähmen. Es bestehe ein auffälliger Kontrast „zwischen der hysterischen ‚Verletztheit‘ der Muslime und der bereitwilligen Veröffentlichung judenfeindlicher Karikaturen in arabischen Medien.“
Seit 2007, so Falaki, häuften sich auch in den deutschen Medien die kritischen Stimmen gegenüber dem politisierten Islam. Der Publizist Henryk M. Broder verurteilte die nachgiebige Haltung des Westens, der beispielsweise die islamische fundamentalistische Organisation Hisbollah nicht als terroristische Vereinigung einstufte, obwohl deren Ziel die Zerstörung Israels war. Er wandte sich auch gegen die lasche Behandlung von Flüchtlingen, die mit ihrem „Migrationshintergrund“ trotz rechtlicher Vergehen gegen die zivilrechtliche Gesellschaft eine besonders wohlwollende Behandlung durch die Behörden erfahren würden. Falaki äußert sich sowohl gegen Broders einseitige Behauptungen als auch gegen Thilo Sarrazins Position in dessen Publikation „Deutschland schafft sich ab“ (Berlin 2010). Sarrazin schere Menschen mit Migrationshintergrund „über einen Kamm“ und benutze „Statistiken und Zitate nicht für einen fundierten Diskurs“, sondern verwende sie als Mittel für die Provokation.
Andererseits verweist Falaki auch auf kritische Stimmen, die den politischen Islam verurteilten, wie in den Schriften der in Istanbul aufgewachsenen Necla Kerek. Die deutsche Soziologin mit tscherkessischen und türkischen Wurzeln forderte die in Westeuropa lebenden Muslime auf, „sich von der Scharia zu lösen, sie müssen den politischen Islam ächten und sich vorbehaltlos zur Bürgergesellschaft (und zu) deren Rechten und Pflichten bekennen.“
Wie unterschiedlich die Positionen westeuropäischer Publizisten gegenüber dem politischen Islam und dessen immer radikaler werdenden islamistischen Organisationen um 2010 waren, verdeutlicht Falaki in einem kontrastiven Zusammenschnitt toleranter und intoleranter Stimmen gegenüber den in EU-Staaten lebenden Muslimen. Er wendet sich gegen die falsche Toleranz gegenüber eingebürgerten wie auch mit Duldung lebenden Menschen aus islamischen Ländern. Andererseits kritisiert er auch die Haltung von Necla Kerek, deren Aufruf „an jene, die sich als Muslime mit den westlichen Werten arrangieren sollen“, von „Unachtsamkeit und mangelnde Sensibilität gegenüber der Komplexität der islamischen Gesellschaft, besonders der schiitischen Seite“, zeuge.
Es sind im Wesentlichen zwei Argumente, die nach Falaki eine dialogische Annäherung muslimischer Kreise an die westliche Bürgergesellschaft außerordentlich erschweren. Muslime, die über viele Generationen eine Religiosität verinnerlicht hätten, könnten sich nicht „auf Knopfdruck“ von der intensiven Verflechtung von Islam und Machtpolitik lösen. Darüber hinaus werde die Modernisierung der Denkweise in islamischen Ländern mit einer zusätzlichen Schwierigkeit konfrontiert. Die seit Jahrhunderten aufgrund von diktatorischen Herrschaftsformen nicht eingeübte Dialogizität und die fehlende Unterscheidung von religiösem und öffentlichem Leben in den islamischen Staaten erlaubten bislang kaum demokratische Umgangsformen.
Mit der Auslösung des Bürgerkriegs in Syrien im Jahre 2012, der einsetzenden riesigen Flüchtlingswelle durch die Türkei in Richtung Europa und der sich häufenden Terroranschläge des so genannten Islamischen Staates in Westeuropa wie auch seit 2016 in der Türkei sind gegenseitige Verständigungsangebote kaum zu erwarten. Zumindest so lange nicht, bis der Daisch und sein proklamiertes Kalifat vernichtet worden ist. Ob die von ihrem terroristischen Geschwür befreiten muslimischen Staaten und die europäischen Demokratien in diesem Fall einen auf gegenseitigen Kompromissen beruhenden Dialog beginnen werden, ist abzuwarten. Ungeachtet der zahlreichen nach Westeuropa geflüchteten muslimischen Intellektuellen, die sich dort für eine Verständigung zwischen dem Islam und dem christlichem Abendland einsetzen, wird ein solcher von gegenseitiger Toleranz erfüllter Dialog und dessen überaus schwierige Realisierung noch Jahrzehnte dauern. Vorausgesetzt die von den Großmächten abhängigen muslimischen Staaten und von kriegerischen, religiös motivierten Auseinandersetzungen gelähmten Staaten des Vorderen Orients können, was gegenwärtig unwahrscheinlich ist, in der nahen Zukunft die gegenseitige Anerkennung üben. Der aus einem muslimischen Staat emigrierte Mahmood Falaki ist trotz zahlreicher Denkanstöße aus den Reihen „moslemischer Reformisten“ skeptisch mit dem Blick auf seine orientalischen Landsleute: „Die Orientalen (…) verallgemeinern alle Werte und verbinden die individuelle Tat eines Menschen mit der ganzen Gesellschaft und deren Regierung.“
„Orient und Okzident / sind nicht mehr zu trennen“ – die aus dem Nachlass zum Buch des Sängers aus dem „West-östlichen Divan“ stammenden Verse setzen mit der Erkenntnis ein: „Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen.“ Es ist also eine zweihundert Jahre alte Erkenntnis, dass die westliche und die östliche Hemisphäre gleich hohe ethische und kulturelle Werte verkörpern sollten. Sie stammt aus der Feder eines deutschen Dichters, der den kreativen Dialog mit dem im 14. Jahrhundert lebenden persischen Dichter Hafis (1315–1390) pflegte, ohne selbst zu dessen Lebenswelt gepilgert zu sein. Rund zweihundert Jahre später findet ein ununterbrochener Austausch von Nachrichten und Stellungnahmen statt, der auf hohem wissenschaftlichem und diskursivem Niveau die Ursachen für das ausbleibende gegenseitige Verstehen auslotet. Mit einem vorläufig deprimierendem Ergebnis: Bedingt durch die sich verhärtenden machtpolitischen Konfrontationen nicht nur innerhalb der muslimischen Staaten, sondern auch zwischen den sich auflösenden westlichen Staatengebilden und den west-östlichen Machtblöcken ist auch die religiöse Dialogbereitschaft gebremst worden, woran auch die terroristische Unterwanderung der demokratischen Gesellschaften ihren wesentlichen Anteil hat. Gibt es eine andere Art von Westöstlichkeit in der Begegnung von Orient und Okzident? Bleibt das bescheidene, von der UNESCO gespendete, Goethe-Hafis-Denkmal in Weimar lediglich ein Sinnbild für einen ersehnten, aber erst in grauer Zukunft umgesetzten Dialog zwischen westlichen und orientalischen Kreisen? Was die deutsche am Orient interessierte Goethe-Germanistik betrifft, so hat sie auf Mahmood Falakis umfassende Abhandlung erst vier Jahre nach ihrer Veröffentlichung reagiert. Ist das ein Nachweis für das Interesse an einem anderen west-östlichen Dialog?