19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Villa am Bodensee 

von Renate Hoffmann

Der Weg dorthin beginnt im Kunstmuseum Stuttgart. Es besitzt mit etwa 250 Werken von Otto Dix (1891–1969) die wohl bedeutendste Sammlung des Malers. Im Raum Nr. 7 stehe ich vor dem großen rotflammenden „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“; Öl und Tempera auf Sperrholz, in den Ausmaßen 120 x 65 cm. Ein Fanal. Rot in Rot. Schmal und biegsam im glänzenden Gewand, das ihr eng am Körper anliegt, leuchtet sie aus dem goldgelben Rahmen. Dieses Rot in seinen vielen Abstufungen lockt, verführt, macht verrückt – ein sinnlicher Rausch. Unterbrochen nur von Anitas Gesicht und Händen. Kalkig-weiß, überschminkter Mund, dünn gezogene Brauen und kupferrotes Haar, das in die Stirn fällt – gespenstisch. Eine Frau, die in den wilden Wirbel der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geriet, ihn auskostete und darin umkam. – Otto Dix sah die Tänzerin 1925 in einem Düsseldorfer Kabarett. Als Maler und Mann von ihr erregt, entstand, nach einigen Vorzeichnungen in Pastell, im selben Jahr noch das Gemälde.
Weiter nach Singen am Hohentwiel im Hegau, dem Gebiet der vulkanischen Kegelberge. Und ins Rathaus. Zweimal Dix sei dort zu erwarten. Der verschlossene Sitzungssaal wird mir auf meine Bitte hin geöffnet. Das große Wandbild (Fresko 500 x 1200 cm) verschlägt den Atem. Thematisiert als „Krieg und Frieden“, erweckt der Kriegsschauplatz Grauen und Abscheu. Die Schrecken dieser Auseinandersetzungen, verwoben mit dem Leidensweg Christi, sprechen eine deutliche Sprache. Es ist die immerwährende Gültigkeit menschlichen Leides durch den Menschen. Man schaudert und rettet sich zur anderen Hälfte des Gemäldes. Auferstandener Christus, aufgehende Sonne, blühende Bäume, Mütter und Kinder und die Friedenstaube nach Picasso. Betroffen verlasse ich den Saal.
Warten vor dem Trauzimmer. Ein Eheversprechen wird besiegelt. – Der Maler gestaltete die vier Wände, gemäß der Bestimmung des Raumes, mit „Szenen aus dem Paradies“. Den Lebensweg eines jungen Paares von der Verliebtheit bis zum endgültigen Abschied begleiten  Blumen und Tiere in hellen Farben, doch auch Ungeheuer und Dämonen. Spiegel des Lebens. Werden und Vergehen. Otto Dix: „Künstler sollen nicht bessern und belehren. Sie sind viel zu gering. Nur bezeugen müssen sie.“
Der weitere Weg führt nach Hemmenhofen am Bodensee zur Villa der Familie Dix. Genauer lokalisiert, am westlichen Teil des Binnenmeeres, dem Untersee. – Es regnet still und gleichmäßig. Das stattliche Anwesen, am Hang gelegen, umgibt ein wundersamer Garten. Frau Martha, unterstützt von Jan, dem jüngsten Familienmitglied, besorgte ihn. Gleich nach dem Einzug in das großzügige Haus im Jahr 1936 begann seine Gestaltung. Frau Dix war die Gärtnerin aus Liebe. Otto wohl weniger. Er nahm aber den Pflanzenreichtum häufig für Blumenstillleben oder auch motivbegleitend in seine Bilder auf, wie die silberblättrige Eselsdistel, die als Versamung noch im Garten wächst.
Ich steige über Stufen aufwärts. Der Phlox blüht farbenprächtig, blauviolette Iris, Rosen und Margeriten bestimmen die Staudenrabatte. Das „Museum Haus Dix“, folgerichtig seit 2013 zur Außenstelle des Stuttgarter Kunstmuseums gehörend, macht bekannt mit dem Leben einer Künstlerfamilie und zeigt zugleich den historischen Abstand zu ihr. Bereits beim Empfang ist die Kreativität seiner ehemaligen Bewohner zu spüren. Notenblätter von Bach, Beethoven, Grieg und Liszt auf dem Flügel im Musikzimmer, Blumen auf Tischen und an den Fenstern. Kaffeeduft zieht durch das Wohnzimmer, in dem man sich niederlassen darf, als sei man einer der vielen Freunde und Gäste der Familie. Sie hielt ein offenes Haus.
Die Behaglichkeit des Raumes unterstützt der Kachelofen – auch unbeheizt. Er zählt zur künstlerischen Hinterlassenschaft von Tochter Nelly (1923–1955). Sie malte, schrieb Geschichten und Gedichte, musizierte. Und schuf für den Ofen das Kachelgeschichtenbuch; in Leichtigkeit hingeworfene kleine Szenen und Figuren: Adam und Eva, die Ureltern sind aufgenommen. Ein Mann auf dem Esel, vergnügt und laut singend (man glaubt es zu hören). Der Hirte weidet seine Schafe, und ein Engel klimpert auf der Gitarre. Nellys Autogramm? Sie spielte vorzüglich Gitarre. Ein Nebenengel beschäftigt sich mit einem Kind, das einen Fisch trägt. Vielleicht gibt es dazu eine Geschichte, zum Beispiel diese: Das Kind fiel in den Untersee, ging beinah tot, herrjemine; der Vater saß beim Angeln. Der Engel hat es rausgefischt, bevor sein Lebenslicht erlischt; zuende ist das Bangeln. – Die hübsche Gärtnerin soll wahrscheinlich an Martha erinnern. Musikinstrumente und ein Notenblatt; die musikalische Familie hinterlässt ihre Merkzeichen.
Es war auch eine lesefreudige Familie. Nelly, die Lesebesessene, wählte für die Hauptaussage des Ofens einen Eichendorff; die Schlusszeilen aus dem „Wanderlied der Prager Studenten“: „Beatus ille homo / Qui sedet in sua domo / Et sedet post fornacem /  Et habet bonam pacem!“ – Glücklich ist der Mensch, der in seinem Haus sitzt, und hinter dem Ofen sitzt und hat guten Frieden.
In dieser Umgebung sitzt man auch gut beim Kaffee und genießt den Blick aufs Wasser. Heute überziehen den Untersee Regenschleier, als habe er Geheimnisse zu verbergen. – Etwas fehlt zur Authentizität der Räumlichkeiten: Aschenbecher. Früher standen sie in allen Zimmern. Ehepaar Dix rauchte. Zwar nicht im Schlaf, doch tagsüber am Stück. Otto schwor insbesondere beim Malen auf den Nikotindunst, er vernebele das Oberbewusstsein.
Noch etwa fehlt, was man erwartet hätte: Originale des Malers. Einige finden sich im Hause, aber der größere Teil ist verstreut, beziehungsweise in der Stuttgarter Sammlung vereint. Um diese Lücke zu schließen und gleichzeitig den Fortlauf der Zeit deutlich zu machen, fand man eine glückliche Lösung: Die Anbringung von „Abdruckbildern“, die an ihre ehemaligen Plätze in den Etagen zurückgebracht wurden. Schemenhaft und als Zeugen des Vergangenen. Dazu reduzierte man die jeweiligen Motive auf ihre Grautöne, druckte sie in Originalgröße auf Stoff und klebte sie an die Wand. Ungewöhnlich, aber eine fantasieanregende Ergänzung.
Am Aufgang zum Obergeschoss begegne ich Anita Berber – in Grau. Vor dem inneren Auge wandelt sie sich in das feurige Rot. Dix lag viel an diesem Gemälde. Nach langem Weg, den es genommen hatte, erwarb es der Maler auf einer Münchner Auktion wieder.
Das Atelier – ein hoher weiter Raum, der viel Licht hereinlässt An den Wänden auch Originalwerke des Malers. Die Staffelei und Ottos farbbekleckster Stuhl. Auf dem Tisch liegen Pinsel und Farbtuben. Darunter „Cadmium Rot“, Anitas Grundton? Und die Dixsche Berufsbekleidung, sein farbenstrotzender Malerkittel.
Otto Dix verlor 1933 seinen Lehrstuhl an der Dresdner Kunstakademie. Den neuen Machthabern war seine Antikriegshaltung suspekt. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München enthielt allein neun Bilder des Künstlers. Viele seiner Arbeiten wurden aus Museen entfernt oder beschlagnahmt. Es war kein Bleiben mehr. – Nach einem Zwischenaufenthalt in Randegg im Hegau, bezog die Familie das Haus in Hemmenhofen. Diese Übersiedlung in eine entlegene Gegend bereitete dem Maler Schwierigkeiten. „Ein schönes Paradies. Zum Kotzen schön […] ich müßte in der Großstadt sein. Ich stehe vor der Landschaft wie eine Kuh.“ Er blieb jedoch bis zu seinem Lebensende in der Villa am Bodensee.
Marthas „Salon“ und Ottos Schlafzimmer, wie auch das Kinderzimmer der Söhne Ursus und Jan befanden sich im Obergeschoss. Nelly hatte in der Mansarde ihr Reich. Die Familie war gut untergebracht, und für Gäste gab es immer noch geeignete Schlafplätze.
Ich verabschiede mich mit Gedanken an den Hausherrn, der am 2. Dezember seinen 125. Geburtstag feiern würde, wenn er ihn noch feiern könnte. – Dann gehe ich hinaus in den tropfenden Tag.