19. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal 64 Damenbeine, exakt auf Linie, eine Streitschrift, in etwa auf Brecht-Linie, sowie Münchner Jammerspiele mit Authentizitätsgeflunker …

***

Die größte Theaterbühne der Welt, Feuer und Wasser, massenhafter Einsatz von Material, Maschinen, Technik. Dazu Container voller Kostüme eines Weltstars der Mode, ein schmissiges Live-Orchester und Menschen, Menschen, Menschen – mehr als 100 aus 26 Nationen. Darunter die im Showgeschäft weltweit längste Reihe Tänzerinnen. Diese Damenschaft mit sage und schreibe 64 exakt auf- und einklappbaren Beinen mit orthopädisch gerade noch vertretbar Höchsthackigem an den gelenkigen Füßen, das ist unschlagbares Weltniveau, Alleinstellungsmerkmal und höchsttouriger Gefühlsmotor nicht nur für die Männlichkeit im massenhaft Schlange stehenden Publikum des Berliner Friedrichstadt-Palastes, der für seine neue Show „The One“ elf Millionen Euro Etat verbrät, verbraten muss auf seiner Fußballfeld-Bühne. Denn da muss bombastisch was los sein, und die Konkurrenz auf dem übergroßen Markt der Unterhaltungsindustrie ist hart, aber auch nicht ohne zündende Ideen. Also klotzen statt kleckern mit einem Tsunami an Eskapismus. Aber wer hat schon elf Millionen im Portemonnaie. Und was kann bei diesem Mordsaufwand noch schief gehen in dieser zwischen Fortissimo und Piano, Party-Blitzlicht, Nebelwolken, Lasersternen und romantischer Nachtstimmung fein austarierten Schlacht der Superlative? Nichts!
Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, selbst bis nach New York (es stand dort in der Zeitung): Las Vegas ist auch in Berlin. Schon jetzt sind, kaum zu glauben, im Vorverkauf sieben der investierten elf Millionen eingespielt. „The One“ läuft bis 2018, da dürfte ein hübscher Überschuss drin sein. Risikobereitschaft beim Gigantismus eines hochartifiziellen Überwältigungstheaters lohnt sich also; Intendant Berndt Schmidt hat alles richtig gemacht.
Erst recht war das Engagement von Modezar Jean Paul Gaultier der große (teure) Coup. Gaultier ist der ingeniöse Kerl, der für Madonna das weltbekannt ikonographische Korsett mit den beiden signifikant spitzen Tüten erfand. Und überhaupt berühmt ist für seine kühnen, frechen, witzigen Spielereien mit sexy Hinguckern, ohne die kein Kostümentwurf je das Atelier verlassen darf.
„The One“ ist eine riesige, rockende und schlagernde Gute-Laune-Maschine (Regie: Roland Welke), eine köstliche Frivolität und also für Jedermann der prima Ausstieg aus dem Räderwerk des Alltags hinein in eine Zauberbude voll verschwenderischer Pracht. Zum Staunen. – Das Allererstaunlichste aber, das so noch nie Gesehene, das ist meiner bescheiden lüsternen Meinung nach die besagte so genannte Girl-Reihe. Das atemberaubende Breitwand-Ornament aus Frauenbeinen. Freilich, diese Einzigartigkeit gilt als weithin leuchtendes Markenzeichen des Palastes schon seit Jahrzehnten. Aaaber: Noch nie-nie-nie wurde sie derart kunstvoll zusammengesetzt und wieder auseinandergezogen, mal überkreuz, mal als Welle, mal als Kreis, mal gebeugt oder gestreckt, dann wieder stramm auf Linie, in Slowmotion oder presto, presto, klippklapp. Ein choreografisches Meisterwerk von Alexandra Georgieva. Eine Nummer, die in die Revuetanzgeschichte eingehen dürfte. Unvergesslich. Und allein das ganze Eintrittsgeld wert.

*

Längst schon hat sich unüberhörbar Unmut ausgebreitet im Schauspielpublikum über den inflationären Einsatz diverser Theatermoden. Nun aber haben wir gleich ein ganzes Buch darüber, das sich auf 212 Seiten damit auseinandersetzt. Mit keckem Blick auf Bertolt Brecht („Lob des Kommunismus“) trägt es den heutzutage schon wieder erregenden Titel „Lob des Realismus“ (Verlag Theater der Zeit, 18,00 Euro). Geschrieben hat es Bernd Stegemann, ein in Theorie wie Praxis gestandener Theatermensch – als Dramaturg an der Berliner Schaubühne, als Dramaturgie-Professor an der Berliner Ernst-Busch-Hochschule. Und demnächst zusammen mit Intendant Oliver Reese ein Vordenker im Berliner Ensemble nach Claus Peymann.
Zunächst beschreibt Stegemann den Zusammenhang von eben jenen überall grassierenden Inszenierungs- und Darstellungsmoden mit dem fatalen „Zwang zur Selbstvermarktung im Neoliberalismus“. Der erfordere den „Umbau des Subjekts zum Performer seiner selbst“. Und so dominierten denn anstelle von Schauspielkunst (und dem Friedrichstadt-Palast nicht unähnlich) die aus Film, Musik, Tanz, Akrobatik, Sport, Doku-Texten und sonst was zusammengesetzten performativen Ästhetiken. Und diese wiederum machten die ganze postmodern-postdramatische Theaterkunst ziemlich affirmativ. Also kaum kritisch-aufklärerisch.
Deshalb Stegemanns Haken zu Brecht und dessen realistischem, zur Veränderung der Verhältnisse beitragen wollenden Theater. Deshalb, so der Knaller, sein Fordern einer „normativen Ästhetik“. Die freilich sei total unzumutbar in den Zeiten des regierenden Stil-Pluralismus, des Multimedialen, Transdisziplinären und der Ich-Fixierung. „Für realistische Kunst“, so Stegemanns deutlich linke Position, sei „Interesse an Welt, dialektisches Denken und Klassenbewusstsein“ vonnöten.
Das geht gegen gängiges Ironisieren und kryptisches, Brecht missverstehendes Total-Verfremden, gegen das bis zum Überdruss praktizierte Ausstellen von Authentizitäten durch journalistisch-naturalistisches oder semi-dokumentarisches Theater etwa durch sogenannte Experten des Alltags (Gruppe „Rimini Protokoll“) oder egomanische Selfie-Performer. Stegemann zitiert da „Realness“ und „Liveness“ und meint eine selbstreferenzielle „Kunst, die nicht darstellen will“. Eskapismus also. Wie l’art pour l’art. Das angesagt Avantgardistische als Verschleierung von Wirklichkeit. Oder als „Karikaturist der Gegenwart“. Deshalb (im Geiste Brechts) zurück (oder vorwärts) zu einem realistischen Theater der Aufklärung, das am ehesten dazu befähigt sei, im so besonderen, „geschlossenen Kunst- und Konzentrationsraum Bühne“ komplexe und mithin widerspruchsreiche Darstellungen der Wirklichkeit herzustellen.
Es geht Bernd Stegemann um eine neue Ernsthaftigkeit (oder auch: Bestimmtheit), um die endlich bestürzend geschrumpfte Relevanz eines nur noch für Spezies wichtigen Theaters zu überwinden. Also wieder große Geschichten mit großen Figuren, wieder Drama und Schauspielkunst statt im Übermaß politisierende Journalismus-Projekte, pseudoerregte Talk-Show-Diskurse oder aufgeblasen dokumentarisches Befindlichkeitstheater. Weg von zirzensischer oder pup-trockner VHS und Urania auf der Bühne und hin zum psychologischen Identifikationstheater, das inzwischen von hochmütigen Minderheiten so arg verpönt ist. Und genau dieser Hochmut geht der Publikumsmehrheit arg auf den Keks. Ein aktuelles Beispiel liefert München …

*

Chef der traditionsreichen Münchner Kammerspiele ist Matthias Lilienthal, ein erfahrener Festivalkurator (Theater der Welt), Dramaturg (einstmals Volksbühne Berlin unter Castorf, dessen Nachfolger Dercon er ins Spiel brachte) und zuletzt Manager des Berliner Performing-Komplexes „HAU1-3“. Lilienthal, ein Vorreiter des international vernetzten postdramatisch-multimedial-transdisziplinären Bühnenbetriebs. Er setzt programmatisch auf „Message“. Und wenig auf „Kunst“, die er als „Kunstkacke“ gern verhöhnt. Ganz anders übrigens sein Kollege Reese, Schauspiel-Chef in Frankfurt und demnächst wie gesagt mit Stegemann am BE; Reese erklärt, er arbeite unter dem Dogma „Im Mittelpunkt der Schauspieler!“. Bei Lilienthal sind es – knallig aufgemischt – politische Botschaften, ideologische Programme. Um einem bürgerlichen Milieu mit sehr, sehr viel Geld die vermeintliche Biederkeit auszutreiben. Das wiederum reagiert auf solcherlei Anmaßung mit wachsendem Liebesentzug. Wie auch die Schauspieler. – Da zog jetzt Kammerspiel-Star Brigitte Hobmeier spektakulär die Reißleine und kündigte ihr hoch dotiertes Engagement. Die intensiv und einseitig praktizierten „theatralen Hybridformen“ böten ihr allzu wenig künstlerischen Spielraum.
Dazu passt die weit über München hinaus gellende Lästerung „Jammerspiele statt Kammerspiele“. Das Wut-Wort arrogant abzutun als Publikumsborniertheit wäre Zynismus pur. Vielleicht blättert nun doch Matthias Lilienthal gelegentlich im Stegemann-Buch.
„Lob des Realismus“ anstatt unentwegt hybrid theatrales Authentizitätsgeflunker. Da beispielsweise durften die Münchner gegen guten Eintritt für eine Nacht in Zelten campieren. Und sich authentisch erschauernd als Obdachlose fühlen in den von Bühnenbildnern so aufwändig wie zünftig nachgestalteten Büdchen für Wohnungslose, die von Schauspielern gemimt wurden auf dem Edelboulevard Maximilianstraße draußen vor den Türen der Kammerspiele.