19. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2016

Bei Hesse in Calw

von Bruno K. Fischer

In den Baumwipfeln auf den Bergkämmen des Schwarzwaldes haben sich gegen Mittag dieses Tages im Spätherbst noch immer Reste von Nebel verfangen. Die Schluchten an den Serpentinen, die der Bus auf seinem Weg im Württembergischen nimmt, sind tief. Manche Bäume füllen sie bis zum Rand auf. Im Tal ein schmales Flüsschen oder breiter Bach, bei Schneeschmelze und Hochwasser vielleicht ein reißender Strom.
Die Fahrt nach Calw, das knapp 20 Kilometer südlich Pforzheims liegt, führt durch einige Ortschaften. Wenig Häuschen, viele Häuser, zuweilen Villen am Wegesrand. Manche in Fachwerk gebaut oder in der oberen Hälfte gänzlich mit Holz verkleidet, manche mit handwerklich reizvollen Schnitzereien geschmückt, manche mithilfe der schönenden Macht des Geldes und architektonischer Meisterschaft. De Schwabe muss ebe schaffe und baut also wirklich Häusle.
Erste Sehenswürdigkeit am Ort ist der Bischofsbrunnen. Da weiß der Fremde von Glaube schon am Zentralen Busbahnhof und „Grüß Gott!“ als Standard. „Calw. Die Hermann-Hesse-Stadt“ ist dank flächiger Sichtwerbung nicht zu verfehlen. Ihre Prellsteine sind zwei mehrstöckige Parkhäuser. Eines für den Markt und eines für „Kaufland“. Hinter ihnen findet sich reizvoll Mittelalterliches und weniger reizvoll Neuzeitliches. Der unstete Knulp steht mit seinem Bündel vor der denkmalstiftenden Sparkasse. Dort packen kräftige Herren gerade Sofa, Bank und Sessel auf einen Anhänger.
Der dem Nobelpreisträger für Literatur von 1946 gewidmete Platz samt Brunnen liegt am Rande des Zentrums und irgendwo zwischen alt und neu. Bis zur Nikolausbrücke über das Flüsschen Nagold ist es kaum ein Steinwurf. Hier kommt Hermann Hesse des Wegs wie du und ich. Ein freundlicher alter Herr mit dem Hut in der Hand. Er mag dem Verehrer ein gemeinsames Foto nicht verweigern. Kein Selfie, eine Touristin assistiert dem Touristen. Der einst so schwierige Sohn der Stadt, der von Calw aus in die Weltliteratur aufbrach, ist hier längst allerwegen. Wie Mozart in Salzburg. Auch der muss dort keinen Pfad, keine Entfernung und Steigung, kein Gefälle gescheut haben, wenn man den dort wie hier von rührigen Heimatvereinen gesetzten Ortsmarken Vertrauen schenkt.
Mag dem Flachländer der steile Stadtgarten mit dem Hermann-Hesse-Weg trotz lockender und gepriesener Orte zum Verweilen mit Gedichten zu hoch sein, „Der Lange“ ist es sicher nicht. Vom mittelalterlichen Gefängnisturm, in dem eine mutmaßliche Hexe schmachtete und der „Hochwächter“ des Amtes waltete, eröffnet sich ein Rundblick auf den Schwarzwald in den Farben eines sonnigen Herbsttages und die Stadt. Der Ausblick macht jetzt aber Winterpause. Am Marktplatz, der gerade von den Händlern geräumt wird, steht mit der Nr. 6 Hesses Geburtshaus. Montag, den 2. Juli 1877, wurde Hermann abends um halb sieben Uhr in der Wohnung im zweiten Stock rechts geboren, vermerken örtliche Chroniken.
Hesses Museum findet sich fast eineinhalb Jahrhunderte später gegenüber der Volksbank und neben dem „Café Montagnola“. Das bringt seinen langjährigen schweizerischen Wohnort ins Spiel. Doch hier hat man vom Stadtpalais „Haus Schüz“, in dem sich seit 1990 das Hesse-Museum befindet, einen direkten Blick auf den Calwer Marktplatz und das Geburtshaus des Dichters. Seine Handschriften, Zeichnungen und Aquarelle wecken hier Aufmerksamkeit, Erst- und seltene Ausgaben auch manche Begehrlichkeit. Besonders berührend vielleicht jene Fotos, die Hermann Hesse als Großvater zeigen – Aufnahmen des Sohnes Martin Hesse in einer Sonderausstellung. Die wurde des Zuspruchs wegen bis Ende des Jahres verlängert
Der kleine Shop im Erdgeschoss bietet auch Aquarelle von Hesses Hand im Postkartenformat. Ich wähle kaum, ich nehme. Die freundliche Schwäbin an der Kasse verweist vorsorglich auf einen sich zur Summe addierenden Preis. Ein Lesezeichen mit dem scharf geschnittenen Konterfei des Dichters gibt es gratis: „Damit das Mögliche entsteht, muß immer wieder das Unmögliche versucht werden.“ Che Guevaras „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“ ist dem überraschend nah.

„Hermann Hesse: Vom Wert des Alters“, bis 31. Dezember 2016.
Hermann Hesse-Museum Calw, Marktplatz 30, Haus Schüz, 75365 Calw; weitere Informationen im
Internet.