19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Bluff und Realität auf dem Subkontinent

von Edgar Benkwitz

Bisweilen spielen sich zwischen den Nachbarstaaten Indien und Pakistan seltsame Dinge ab. Am Morgen des 30. September erfuhr die indische Öffentlichkeit von ihrer Regierung, dass die Streitkräfte mit einer Kommandoaktion jenseits der line of control (bis 1972 Waffenstillstandslinie – 740 Kilometer lang) in Kaschmir eine Anzahl von sogenannten Terrornestern zerstört haben. Nach „informierten Kreisen“ flogen Militärhubschrauber in pakistanisches Gebiet, 38 Terroristen und Unterstützer, aber auch zwei pakistanische Soldaten wurden getötet. Erstaunlicherweise teilte Pakistan auf diese hochbrisante Nachricht mit, dass auf seinem Gebiet keine derartigen Handlungen vor sich gegangen seien, es habe lediglich – wie so oft – an verschiedenen Stellen der Grenze heftige Schusswechsel gegeben, wobei zwei pakistanische Soldaten getötet worden seien. Indien, so die pakistanische Regierung, wolle offensichtlich mit einem Bluff von inneren Problemen, insbesondere der angespannten Lage in Kaschmir, ablenken.
Natürlich erhebt sich bei diesen sich widersprechenden Erklärungen die Frage, was ist tatsächlich geschehen, wer macht der Öffentlichkeit hier etwas vor?
Obwohl die (angebliche) Aktion durch die indische Öffentlichkeit begrüßt und mit unüberhörbarem nationalistischen Beifall bedacht worden ist, kamen auch in Indien Zweifel am Hergang des Geschehens auf. Doch ein Blick auf den Niedergang der indisch-pakistanischen Beziehungen in den letzten Monaten verleiht einer indischen Aktion mehr Glaubwürdigkeit als der geschilderten pakistanischen Reaktion darauf. Erst zwei Wochen zuvor, am 18. September, war es in dem Ort Uri nahe der line of control zu dem schwersten Zwischenfall der letzten Jahre gekommen. Nachts wurde ein indisches Armeelager überfallen, bei dem 19 Soldaten ums Leben kamen. Die Angreifer, die bei der Schießerei getötet wurden, sollen vom pakistanischen Teil Kaschmirs eingedrungen sein.
Bereits im Januar dieses Jahres versuchten aus Pakistan stammende Terroristen den großen Luftwaffenstützpunkt Pathankot im Nordosten Indiens zu stürmen. Trotz von Indien bereitgestellter eindeutiger Beweise – so wurde Masood Azshar, Chef der Jaish-e-Mohammad, als Kopf des Unternehmens identifiziert – waren die pakistanischen Behörden bisher nicht zu wirkungsvollen Maßnahmen gegen die Hintermänner dieser Aktion bereit. Ähnliches erlebte Indien bereits früher, so nach dem Terroranschlag in Mumbai (Bombay) 2008, der 168 Opfer forderte. Maßgeblicher Drahtzieher war damals Hafiz Saeed, Chef der islamistischen Vereinigung Jamaat-ud-Dawa, der sich noch heute in Pakistan frei bewegt und immer wieder zu Anschlägen in Indien aufruft. Auf ihn haben die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt, da sich unter den Opfern von Mumbai sechs amerikanische Bürger befanden.
Der Schluss liegt nahe, dass die fehlenden oder halbherzigen Maßnahmen pakistanischer Behörden bei der Verfolgung des grenzüberschreitenden Terrorismus in Indien das Fass zum Überlaufen gebracht haben, zumal sich die Angriffe auf militärische Einrichtungen häuften. Pakistan hingegen hat vor allem aus gesichtswahrenden Gründen Anlass, das indische Vorgehen als ungeschehen darzustellen. Zu oft haben seine führenden Militärs in der letzten Zeit gedröhnt, dass unter keinen Umständen eine Verletzung der Grenzen zugelassen wird. Der Mythos von der Unverletzlichkeit Pakistans hätte bei einem Eingeständnis Schaden genommen. Auch würde man niemals zugeben, dass sich auf pakistanischem Boden terroristische Kräfte sammeln, um gegen  Nachbarstaaten vorzugehen. Afghanistan lässt grüßen!
In das Geschehen passt auch die durch das pakistanische Establishment in der letzten Zeit entfesselte antiindische Hysterie, die sich insbesondere auf die schwierige Lage im indischen Kaschmir konzentriert. Sicherheitsexperten weisen darauf hin, dass der Besitz atomarer Waffen beim pakistanischen Militär offenbar zu einem Realitätsverlust geführt hat. Unter ihrem Schirm – man spricht mittlerweile von 120 bis 150 atomaren Sprengkörpern – glaubt man sich sicher und hat gegenüber Indien eine härtere Gangart angeschlagen. Kraftmeierisch wird unverhohlen von einer Befreiung Kaschmirs gesprochen, die provozierenden Grenzzwischenfälle haben zugenommen. Der pakistanische Verteidigungsminister Khwaja Asif verstieg sich sogar öffentlich zu der Feststellung, dass sein Land vorbereitet sei, nukleare Waffen gegen Indien einzusetzen.
Das unverantwortliche Hantieren mit Kernwaffen und die Infragestellung des status quo in Kaschmir haben jetzt die Großmächte aufgeschreckt. Es scheint, dass Pakistan seine Karten überreizt hat. Deutliche Worte kommen aus den USA, wo nach wie vor Sorge besteht, dass nukleare Waffen in die Hände von Terroristen fallen könnten. Hillary Clinton und Außenminister Kerry riefen Pakistan auf, nicht nur seine Rhetorik zu überdenken sondern auch sein Nuklearprogramm zu begrenzen. Als atomwaffenbesitzender Staat müsse Pakistan Verantwortung zeigen. Den Überfall auf das Armeelager in Uri ordnete das State Department als Teil des grenzüberschreitenden Terrorismus ein, ein Sprecher forderte von der pakistanischen Regierung, terroristische Gruppierungen wie das Haqquani-Netzwerk und Jaish-e-Mohammad zu bekämpfen.
Auch dem Verbündeten Pakistans, dem „Allwetterfreund“ China, passt der gegenwärtige Kurs Islamabads nicht. China hat bei der Verwirklichung seiner großangelegten, geopolitisch bedeutenden Investitionsvorhaben in Pakistan ohnehin Sicherheitsprobleme, militärische Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan würden seine Pläne empfindlich stören.
Kommandoaktion ja oder nein – deutlich wird, dass die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan einer neuen Eiszeit entgegengehen. Die indische Regierung ist bemüht, Pakistan international bloßzustellen und die von seinem Territorium aus geduldeten und teilweise geförderten Aktivitäten terroristischer Kräfte international ächten zu lassen. Zu einem politischen Dialog, wie er sich Anfang des Jahres hoffnungsvoll abzeichnete, ist sie nicht mehr bereit. Sie sagte auch eine Teilnahme am im November geplanten Gipfeltreffen der Vereinigung südasiatischer Staaten (SAARC) in Islamabad ab. Indiens Haltung wurde von anderen Mitgliedern unterstützt, so dass die Tagung abgesagt werden musste.
Neu Delhi spricht ferner von der Rücknahme der Pakistan 1996 einseitig gewährten Meistbegünstigungsklausel im Handel sowie vom Überdenken des für Pakistan lebenswichtigen Vertrages über die Aufteilung des Induswassers. Maßnahmen sind im Gange, um die mehr als 3.200 Kilometer lange Grenze zu Pakistan bis Ende 2018 zu befestigen und wirkungsvoll zu kontrollieren.
Realistische Stimmen in Neu Delhi warnen indes die Regierung, nicht zu überziehen. Wichtig sei vor allem, endlich die hochbrisante Lage in Kaschmir in den Griff zu bekommen, Pakistan so die Argumente für eine Einmischung aus der Hand zu nehmen. Seit Anfang Juli, der Tötung des Separatistenführers Burhan Wani, ist im Kaschmir-Tal mit der Hauptstadt Srinagar das öffentliche Leben zum Stillstand gekommen. Bei Einsätzen der Sicherheitskräfte starben nahezu einhundert Zivilisten, die Schulen sind geschlossen, der Verkehr ist eingestellt. Kaschmir ist zu einem großen Sicherheitsproblem für Neu Delhi geworden, auf das es mit immer mehr militärischer Präsenz antwortet. Die Times of India stellt fest, dass die gegenwärtigen Protestaktionen die Perspektivlosigkeit der überwiegend muslimischen Bevölkerung, vor allem der jüngeren Generation, widerspiegelt.
In der Tat muss die indische Regierung ihre Hausaufgaben machen, in der Vergangenheit begangene Fehler und Versäumnisse korrigieren, Repressionen beenden sowie endlich einen vernünftigen Dialog mit der Bevölkerung suchen. Wie weit sie damit kommt, sei dahingestellt. Denn mit der pakistanischen Herrschaftselite, steht ihr jenseits der Grenze ein in der Machtabsicherung erfahrener Gegner gegenüber. Und das Schüren antiindischer Stimmungen hat sich dabei noch immer bewährt.