19. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2016

Russland – meine Geschichte

von Johnny Norden

Vor vier Jahren war ich das letzte Mal in Moskau. Diesen Sommer flog ich wieder dorthin. Ein guter Freund hatte runden Geburtstag.
Die Stadt hat mich angenehm überrascht. Überall regt sich Neues. Von der Verwaltung unter dem neuen Bürgermeister Sergej Sobjanin – ehemals Leiter der Präsidialaministration von Präsident Putin – werden enorme Anstrengungen unternommen, die Lebensqualität der zwölf Millionen Einwohner zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist die WDNCH: das 100 Hektar große Gelände im Nordosten Moskaus mit der „Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften“. Seit ihrer Eröffnung 1938 war die WDNCH ein gesellschaftliches Zentrum des Landes, Anziehungspunkt für die Hauptstädter und ein „Muss“ für jeden Moskau-Reisenden. Bei meinem letzten Besuch war das schöne Areal zu einem Schandfleck verkommen. Verfallene Gebäude, armselige Kioske, in denen die Betreiber ihren mehr oder weniger legalen Geschäften nachgingen. In dunklen Ecken des Parks türmten sich Abfallberge. Und jetzt – es war wie Tag und Nacht: Das Gelände ist wieder ein Erholungs- und Vergnügungspark der Moskauer geworden mit großzügigen Blumenrabatten und Springbrunnen, mit Restaurants, Sportstätten, Spielplätzen, Ausstellungen, Theatern und Kinos, mit technischen Kabinetten und Selbsthilfewerkstätten. Im vorigen Jahr hatte die WDNCH 10 Millionen Besucher.
Im Hotel fiel mir eine Werbebroschüre der WDNCH in die Hände. Darin las ich, dass Sobjanin am 30. April in einem der großen Pavillons eine Dauerausstellung unter dem Titel: „Russland – meine Geschichte“ eröffnet hatte. Ich war elektrisiert: Das musste ich mir ansehen! Denn die staatsoffizielle russische Geschichtsschreibung versucht gegenwärtig, eine einheitliche Auffassung von der Geschichte des Landes vorzugeben. Das war mir schon klar, denn ich hatte einzelne Veröffentlichungen gelesen. Aber wie sich das zu einem Gesamtbild formen sollte, konnte ich bisher nicht erkennen.
Ich nahm mir also viel Zeit für den Besuch des Pavillons.
Die Ausstellung ist kein verstaubtes Geschichtsmuseum und auch keine altkluge Sammlung von schwer verständlichen Dokumenten, sondern ein übersichtlich gestaltetes gewaltiges Lehrkabinett mit hoher Allgemeinverständlichkeit, mit klug eingesetzter Multimediatechnik. Man kann sich durch die Ausstellung von einem Audioguide führen lassen.
Die Eintrittspreise sind relativ hoch: 600 Rubel, mich erkannte man als „Pensionär“ und so zahlte ich nur 300 Rubel. Die Empfangsdame erläuterte mir, dass Schulklassen und Jugendgruppen freien Eintritt haben, das betrifft auch Eltern mit Kindern zwischen sieben und 17 Jahren. Mir wurde erklärt, dass diese Ausstellung ganz besonders als ein Bildungsangebot für die nachfolgenden Generationen gedacht ist, dafür würden auf Wunsch auch gezielte Führungen, Vorträge, Gesprächsrunden und historische Filme angeboten.
Ich hatte den Eindruck, dass diese Ausstellung ein klares politisches Ziel verfolgt: Sie ist Bestandteil eines breit angelegten nationalen Projektes der patriotischen Erziehung, der Schaffung eines Gefühl des Stolzes auf das russische Vaterland – so wie es momentan für jeden Russlandbesucher zu spüren ist.
Die Ausstellung hat drei Teile. Erstens: Das Zarengeschlecht der Romanows und Russlands Geschichte bis zum ersten Weltkrieg. Zweitens: Die Zeit 1914–1945 unter dem Titel: „Von den großen Erschütterungen zum großen Sieg“. Drittens: Die Zeit 1945 bis 2000 (Eröffnung im Jahr 2017).
Natürlich hat mich vor allem Teil Zwei interessiert. Aber der Reihe nach.
Der Teil Eins ist durchaus unterhaltsam gestaltet (aber sehr ausführlich). Die zentrale Aussage: Die tausendjährige Geschichte Russlands war ein ständiger Überlebenskampf der Russen gegen äußere Feinde, ein Kampf, der schreckliche Opfer gekostet hat und der immer dann siegreich war, wenn das Land über große Führerpersönlichkeiten verfügte, die in der Lage waren, die Russen politisch zusammenzuführen und wenn die orthodoxe Kirche durch ihre geistige Kraft in der Lage war, die Menschen zu beseelen.
Im Teil Zwei versuchen die Macher der Ausstellung folgende Entwicklungen zu dokumentieren: Russland wurde durch Intrigen der Westmächte in den I. Weltkrieg hineingezogen. Nikolaus II. war ein ehrlicher aber schwacher Monarch, der durch den Verrat der Generäle und die Missgunst der bürgerlichen Politiker gestürzt wurde. Damit brach Chaos aus, das Land stürzte in einen Abgrund von Bürgerkrieg, ausländischer Intervention, wirtschaftlicher Zerrüttung. Wertfrei werden über Personen die verschiedenen Seiten der inneren Kämpfe präsentiert: Kerenski, Lenin, Trotzki, Denikin, Machno. Die Bolschewiki werden als letztliche Sieger herausgestellt.
In der Entwicklung der Sowjetmacht erkennen die Macher der Ausstellung zwei Etappen: zuerst der Versuch der Errichtung des neuen Staates auf der Basis des bloßen Bewusstseins, verbunden mit der Zerschlagung der Kirche und dann die segensreiche Phase der Rückkehr Russlands zur alten Größe durch eine gewaltige Industrialisierung und durch die konsequenten Verwirklichung der modernen Großraumwirtschaft auf dem Lande. Die Ausstellung dokumentiert die Bildungsoffensive der Sowjetmacht, den Aufschwung von Kultur und Wissenschaft und konstatiert, dass das Land in den Dreißigern wieder zur Weltmacht aufstieg. Eher nebenbei werden die Hungerkatastrophen und der „Große Terror“ erwähnt, als eine Art von zwangsläufigen Erscheinungen, die für russische Umbruchzeiten über viele Jahrhunderte immer schon typisch gewesen seien.
Sehr ausführlich und anschaulich wird der Große Vaterländische Krieg behandelt. Der Sieg der Sowjetunion wird als Ergebnis der heroischen Gesamtleistung eines Volkes dargestellt, welches über eine enorme Opferbereitschaft, hervorragende Führer und eine leistungsfähige Wirtschaft verfügte. Viel Raum wird Einzelschicksalen von einfachen Soldaten, Heerführern, Partisanen und Kundschaftern gewidmet.
Zum Konzept der Ausstellung gehören viele Zitate von Persönlichkeiten der russischen beziehungsweise sowjetischen Geschichte. Zwei sind mir besonders in Erinnerung geblieben: „Russe ist nicht, wer russischer Nationalität ist, sondern wer sich als Russe fühlt.“ (D. Jermolenko, Philosoph) – „Wer den Zerfall der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz; wer die Sowjetunion mit den alten Mittel wieder herstellen will, hat kein Hirn.“ (W. Putin)
Das große Problem dieser Ausstellung: Sie verzichtet völlig darauf, die politischen Auseinandersetzungen in der russisch/sowjetischen Geschichte als Kämpfe um Besitzverhältnisse zu beleuchten, als sozialökonomische Kämpfe von Klassen der Gesellschaft. Dadurch bleibt die Darstellung zentraler historischer Vorgänge dem Oberflächlichen verhaftet. Das betrifft gerade Wendepunkte in der russisch-sowjetischen Geschichte. Ein Beispiel: Ohne die Bodenfrage zu behandeln sind zum Beispiel die Jahre 1917 bis 1920 nicht zu erklären. Es waren eben die Bauern, welche in den entscheidenden Phasen des Bürgerkriegs das Rückgrat der Roten Armee bildeten und die allmächtige Denikin-Armee 1919 bei Orjol in die Flucht jagten, nachdem klar geworden war, dass die Weißen die Bodenreform rückgängig machten.
Als ich mittags die WDNCH verließ, begann im Einlassbereich unter der riesigen Lenin-Statue die Beschallung der bei schönstem Wetter hereinströmenden hunderten Besucher mit sowjetischem Liedgut. Los ging es mit dem patriotischsten aller Lieder der dreißiger Jahre „Schiroka strana moja rodnaja…“ gesungen von einem mächtigen Männerchor. Ich beobachtete eine Gruppe junger Leute, die adrett frisierten Jungs in dunklen Anzügen und die Mädchen in sittsamen Kleidchen mit Blumensträußen in den Händen (später erklärte man mir, dass dies Abiturienten gewesen seien, glücklich über ihren Abschluss). Sie versuchten mit viel Spaß und nicht ungeschickt, zu dem Marschlied zu tanzen. Als sie sahen, dass ich zuguckte riefen sie: „Komm, Onkelchen, tanz mit uns!“ Ich habe mich schnell verzogen.