19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Haldern 2016 – bewegende Vielfalt

von Wolfgang Hochwald

Bereits im vergangenen Jahr habe ich unter der Überschrift „Open Air mit Ende 50“ vom Haldern Pop Festival – drei Tage im August – berichtet. Wir sind seitdem nicht jünger geworden, aber auch dieses Jahr haben mein Freund Günter und ich wieder unser Zelt und unsere Mini-Camping-Ausrüstung zusammengepackt und sind an den Niederrhein gefahren. Diesmal in aller Frühe, um nicht wieder den gefühlt letzten Zeltplatz zu ergattern und um vor dem angekündigten Regen alles aufzubauen.
Im letzten Jahr hatten wir wegen eines starken Unwetters am letzten Festivaltag unser Zelt vorzeitig abgebrochen. Heute wissen wir, was blöder ist als Regen am dritten Tag: geöffnete Himmelsschleusen am ersten Tag.

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Achtzehn Stunden Dauerregen verwandeln Zeitplatz und Festivalgelände in eine einzige Matschwüste, in der man knöcheltief versinkt und ohne Gummistiefel ziemlich verloren wäre. Dem Haldern Festival bleibt aber erspart, was vielen anderen großen Festivals in diesem deutschen Sommer passierte, nämlich die Absage von kompletten Tagen wegen Blitzeinschlag und Unwetter. Aber die Haldern-Besucher lassen sich vom Wetter sowieso nicht aus der Fassung bringen. Ihre Freundlichkeit, Gelassenheit, ihr Interesse an den anderen Besuchern, die Altersspannweite vom Neugeborenen bis zum über Siebzigjährigen und die gemeinsame Musikliebe machen die Unbill eines Regentages allemal wett und tragen ganz wesentlich zum Charakter dieses Festivals bei.
Der Regen hat auch sein Gutes. Wir flüchten ins Dorf und erleben in der Kirche den Beginn des Festivals: einen ungewöhnlichen Start, der aber für das Ziel der Veranstalter, genre- und generationsübergreifend zu überraschen und zu begeistern, typisch ist. Drei Stücke des gebürtigen Haldener Komponisten Heiner Frost werden vom Orchester „Stargaze“, dem Chor „Cantus Domus“ und einer Sopranistin zur Aufführung gebracht. Der tosende Applaus ist dem bescheidenen Komponisten, der – vom Dirigenten gebeten – nur widerwillig nach vorne kommt, fast peinlich.
Ein hochsympathischer Festivalbeginn, dem gleich ein weiterer Höhepunkt folgt, für mich gar eines der beiden bewegendsten Konzerte der drei Tage. Die Londonerin Ala.ni, die für ihre Aufnahmen und Auftritte Mikrofone aus den dreißiger Jahren verwendet, zündet als erstes einmal die Kerzen im Altarraum der Kirche an. Begleitet von einem Gitarristen klingt sie ein wenig wie eine heutige Billie Holiday und lässt Pop, Soul, Jazz, Blues und Oper in ihrer beeindruckenden Stimme verschmelzen. Als sie singend einmal durch die ganze Kirche geht, habe nicht nur ich feuchte Augen.
Der Auftritt von Ala.ni bekräftigt, was Haldern Pop Festivalleiter Stefan Reichmann in einem Interview mit dem Handelsblatt vom 10.08.2016 zur Auswahl der Musiker und Bands sagte: „Es macht sich bezahlt, dass wir uns das ganze Jahr mit Musik beschäftigen.“ Und: „Wir sind bekannt dafür, die Bananen zu pflücken, solange sie grün sind. Und dann darauf bauen, dass sie gelb werden.“ Über Ala.ni berichtete die ARD vier Tage vor ihrem Auftritt in Haldern in „ttt – titel, thesen, temperamente“. Diese Banane wird schon sehr bald gelb sein, und wer Gelegenheit hat, Ala.ni in diesem frühen Stadium ihrer Karriere live zu sehen (ab Mitte September konzertiert sie in München, Düsseldorf, Frankfurt und Hamburg), sollte sich das keinesfalls entgehen lassen.
In der folgenden Pause diskutieren wir mit unserem Sitznachbarn, der manchen Besuchern wegen seiner vor dem Festival erstellten Listen mit empfehlenswerten und weniger empfehlenswerten Auftritten als der „Listenmann“ bekannt ist, über das Programm. Gibt es zu viele Bands und Musiker beim Festival (und generell derzeit in der Musikszene), die „Gejammer“ produzieren, sprich: Musik, die zu verinnerlicht ist und etwas weinerlich daherkommt? Tatsächlich wünsche auch ich mir manchmal, dass wieder etwas mehr gerockt wird, aber letztlich können wir dem „Listenmann“ nicht folgen. Die Grenze zwischen Musik, die Gefühle nur vorzutäuschen scheint und der, die authentisch wirkt, ist fließend und entscheidet sich vielleicht allein im Ohr (oder der Gefühlswelt) des Zuhörers. Einig sind wir uns mit dem „Listenmann“, dass Cloves, eine zwanzig Jahre alte Australierin, die nach Ala.ni in der Kirche auftritt und ebenfalls nur von einem Gitarristen begleitet wird, tiefe Gefühle in ihren Songs zum Ausdruck bringt. Ihre markante Stimme erinnert mich an Adele.
Im Verlauf des Festivals ist uns lediglich der Auftritt von Damien Rice in der Nacht des ersten Festivaltages zu sentimental. Rice zergeht uns zu sehr im Seelenschmerz seiner Musik, in den Loops seines Gesangs und den Verzerrungen seiner Gitarre. Aber vielleicht ist es auch einfach zu anstrengend, seiner Musik zu lauschen, wenn Mitternacht vorbei ist, es immer noch regnet und man ständig aufpassen muss, im Matsch nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Auch den zweiten Festivaltag beginnen wir in der Kirche. Allerdings mit Verzögerung, denn erst einmal muss das Paar, das gerade seine Goldene Hochzeit in der Kirche begangen hat, umgeben von wartenden Festivalbesuchern den Kirchplatz verlassen. Besser lässt sich die Verwurzelung von Haldern Pop in der Region und bei deren Bewohnern nicht illustrieren, zumal, wie es heißt, der Chor „Cantus Domus“, dessen klassischem Chorgesang wir in der Folge lauschen, auch dem Jubelpaar ein Ständchen gebracht hat.
Zurück auf dem Festivalgelände sind „Ben Caplan & The Casual Smokers“ die nächste Entdeckung. Die Stimme erinnert an Tom Waits, Caplan haut in die Tasten, was das Zeug hält und liefert sich vor allem mit seinem weiblichen Bandmitglied wunderbare gesangliche Dialoge.
„Die Nerven“, eine der derzeit angesagtesten Punkbands aus Deutschland, liefern danach den lärmenden und rockigen Auftritt, den wir uns gewünscht haben und kommentieren den ihnen bestimmt nicht unlieben Live-Mitschnitt des WDR „Rockpalast“ lakonisch mit der Bemerkung, sie hofften, die Kameras würden uns nicht zu sehr stören.
Weiterer Höhepunkt dann die „GoGo Penguins“, ein Trio aus Manchester, in klassischer Jazz-Besetzung: Klavier, Kontrabass, Schlagzeug. Ist das Jazz, Klassik oder Rock? Keine Ahnung, aber es ist staunenswert und mitreißend, was die drei Musiker oft improvisierend auf die Bühne zaubern.
Eine schon ziemlich „gelbe Banane“ ist Michael Kiwanuka, der mit großer Band seine Mischung aus Soul, Blues und Folk zelebriert. Wir verstehen sofort, warum das Feuilleton dem Londoner besondere Aufmerksamkeit schenkt und sind recht sicher, einen bald auch kommerziell erfolgreichen Musiker gesehen zu haben.
Was Haldern auch und vor allem ausmacht, sind die bewegenden Momente, die für jeden Besucher im Laufe des Festivals andere sein werden, aber die irgendwann über einen kommen. Meine größte Rührung überfällt mich während des Auftritts von Glen Hansard am Abend des zweiten Tages. Hansard, der in Dublin als Straßenmusiker begann, ist manchen als Darsteller aus dem Film „Once“ bekannt und durch den Titel „Falling Slowly“ aus dem Film-Soundtrack, mit dem er 2008 den Oscar in der Kategorie „Bester Song“ gewann. Hansard liefert mit elfköpfiger Band, die Streicher und Bläser umfasst, ein Konzert, das womöglich der Großteil der Besucher als das mitreißendste überhaupt empfindet. Gegen Ende seines Auftritts spielt Hansard eines seiner ganz in der irischen Tradition verwurzelten Songs. Ich bin um zwei Jahre zurückversetzt in eine typisch Dubliner Kneipe mit einem Freund, der inzwischen verstorben ist. Tief bewegt folge ich dem Lied und ganz passend zur Erinnerung an den Freund kommt für das nächste Lied der Sänger der „Hothouse Flowers 3“ zu Hansards Band auf die Bühne und singt mit allem Nachdruck, den seine Stimme hergibt, Dylanʼs „Forever Young“. Viele besonders Guten bleiben zwar jung in ihrem Leben, aber leider ist es ihnen nicht vergönnt, alt zu werden.
Die Vielfalt der vertretenen Musikrichtungen („Wundertüte“ nennen das die Veranstalter) wird für uns am dritten Festivaltag, an dem übrigens tatsächlich die Sonne scheint, noch einmal besonders deutlich. Um 13:15 Uhr geht es auf der Hauptbühne mit „The Lytics“, fünf kanadischen Hip Hoppern los. Nicht meine Musik, aber ein volles Rund an jungen Zuhörern, die mit Hilfe der kreativen und ansteckenden Beats ihre wahrscheinlich viel zu kurze Nacht schnell vergessen.
Danach spielt die erst 19-jährige US-Amerikanerin Sara Hartmann, die ihr in diesem Jahr veröffentlichtes Album „Monsters Lead Me Home“ in ihrer Wahlheimat Berlin produzierte. Ich würde mir wünschen, solch gut gemachte, melodiöse und sympathische Pop Musik im Radio zu hören.
Dann der reine Wahnsinn in Form von „The Strypes“, vier knapp 20-jährigen Iren, die mit der Intensität ihres RhythmʼnʼBlues fast die Bühne abreißen. Knallige Gitarrenriffs, knallhartes Schlagzeug, mehrstimmiger Gesang, Mundharmonika und ein Bassspieler, der das Klischee vom ruhigen Bassmann völlig ad absurdum führt, lassen die sechziger Jahre auferstehen.
Bei „Wintergatan“ aus Schweden fragt man sich, wer mehr Spaß am Auftritt hat – das Publikum oder die Band. Vier hochsympathische Soundtüftler wechseln souverän zwischen den verschiedensten Instrumenten, darunter auch eine selbst gebaute, per Lochstreifen betriebene Art Spieluhr und das lange nicht mehr auf einer Bühne gesehene Theremin, das berührungslos gespielt wird und – unsachgemäß behandelt – zu wenig erbaulichen Klängen führen könnte. Vor unseren Augen und Ohren entsteht aber eine Musik, die im Halderner Begleitheft zum Festival als „instrumental, verzaubernd, extravagant“ bezeichnet und unter die Überschrift „Folktronic“ gesetzt wird. Leider konnte „Wintergatan“ ihre selbstgebaute Marble Machine nicht mit zum Festival bringen, die ihre Musik mithilfe rollender und fallender Stahlkugeln erzeugt. Man arbeite aber an einer reisefähigen Version, heißt es von der Band.
Anschließend ein weiterer abrupter Stilwechsel, der wiederum hervorragend funktioniert: Hubert von Goisern, inzwischen Mitte 60 und seit Jahren als Alpenrocker unterwegs, spielt die steirische Harmonika, bläst das Alphorn, hat einen hervorragenden amerikanischen Steel Guitar Player in seiner Band und bringt uns mit seiner rasanten Musik zum Tanzen. Und überzeugt auch aufgrund seiner (politischen) Haltung, die ihn weit über viele seiner Musikerkollegen hinaushebt.
Und schließlich die Amerikanerin Julia Holter, die mit Piano, Geige, Kontrabass und Schlagzeug eine komplexe Musikwelt erschafft, die zwar weniger Zuhörer hat als andere Bands, aber keineswegs weniger aufmerksame.
Wahrscheinlich hätte ich die meisten der hier beschriebenen Bands ohne den Besuch in Haldern nie live erlebt, sei es, weil sie nicht in der Umgebung meiner Heimatstadt spielen, sei es, weil ich aus Zeit- oder sonstigen Gründen die Gelegenheit nicht nutzen würde. So aber konnten wir in wenigen Stunden ein ganzes Schatzkästchen an musikalischen Gegensätzen genießen.
Wenn wir abends in das feuchte Zelt klettern, des Nachts von unseren zugegebenermaßen etwas jüngeren Nachbarn um den Schlaf gebracht werden und morgens mit müden Knochen aus dem Zelt krabbeln, denken wir, dies sei nun wirklich unser letztes Open Air. Wenn wir dann aber vor der Konzertbühne stehen und einen Auftritt sehen, den wir nicht mehr vergessen werden, denken wir, wir kommen alle Jahre wieder.
Ich werde jedenfalls berichten.