19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Bruno: Eine geschlossene Kindheit

von Heino Bosselmann

Der achtjährige Junge meiner Lebensgefährtin weist in der Schule wie selbstverständlich einen Notenschnitt von beinahe 1,0 nach. Es geht heute nur noch um den Schnitt, aber das ist Bruno einerlei. Er ist an seine ausgezeichneten Ergebnisse gewöhnt und beileibe nicht eingebildet. Ihn interessieren ganz andere Themen, und da er laufend und durchaus bis zur Penetranz nachfragt, erreicht er einen Grad an Allgemeinbildung, der in Deutschland selbst für viele, viele Ältere nicht nur längst vergessen ist, sondern den Kultusbürokraten als unsinnig abqualifizieren. Weil ihnen jeder Ansatz Humboldtscher Bildungsideale als reaktionär gilt, ebenso wie die Idee von Persönlichkeitsbildung im Sinne eines zweckfreien Lernens oder einfach nur eines Wissens-über.
Bruno jedenfalls kennt sich auf der Weltkarte wie auf der Deutschlandkarte aus; er redet nicht nur über die verschiedenen Hauptstädte und Flaggen, sondern weiß eine Menge Landeskundliches. Gesprächspartner findet er dazu in seiner Altersgruppe nicht, deswegen zieht es ihn zu Erwachsenen, obwohl er zum Glück nicht altklug wirkt. Gut, ein bisschen vielleicht.
Da ich Frühaufsteher bin, kümmere ich mich gern um den Jungen, der ebenfalls schon am Morgen unterwegs ist, wie natürlicherweise fast jeder Zweitklässler. Er sitzt in Strumpfhosen auf dem Teppich des Wohnzimmers. Die Heizung steht auf vier, am Anfang des roten Bereichs. Das Fenster ist geschlossen. Ich öffne es und regle die Heizung herunter, rede von frischer Luft und komme mir dabei opahaft vor. Auch darin, dass ich mich daran erinnere, wie ich in Brunos Alter um diese Zeit am Wochenende mit der Angel auf dem Rad Richtung Löcknitz aufbrach, um mit meinem Heinz-Blinker, einem meiner wichtigsten Schätze, an dem schmalen Flüsschen ein, zwei Hechte zu blinkern, sie dann stolz meiner Mutter zu bringen und so für ein Sonntagsessen zu sorgen: Gedünsteter Hecht auf Gemüse.
Solcher Geschichten müssen dem kleinen Strumpfhosen-Bruno allerdings so phantastisch vorkommen wie mir damals Indianer- oder Robin-Hood-Filme. Allein raus dürfen, mit dem Rad vier, fünf Kilometer unterwegs sein, noch dazu irgendwie eine mit Angel und Setzkescher balancierend, allein einen Fluss abblinkern – das könnte er nie. Nein, das könnte er wohl, aber das dürfte er nie. Heutzutage lassen die Mütter ihre Kinder doch nicht einfach so vor die Tür. Unbeaufsichtigt! Ohne Handy, also jeder Möglichkeit entbehrend, SOS-SMS zu senden. Nein, er hockt auf dem Teppich, ein hellwaches Jungengesicht, aber so blass, wie aus Formalin gezogen. Raus darf er nicht, und weil es ganz unausdenkbar für ihn wäre, weil er es nie tat und ihm der Gedanke gar nicht kommt, will er es auch nicht: Alles viel zu gefährlich, als lebte außerhalb von Elternhaus und Schule wieder der böse Wolf.
Abgesehen von meinen Angeltouren: Ging ich, Jahrgang 1964, vor die Tür, stand ich in einem lebendigen Dorf voller Kinder. Demographisch angeschaut verfügt mein Jahrgang in Ost wie West über den längsten Balken. Kam ich nach draußen, war ich nicht allein; die anderen warteten schon – auf jene Abenteuer, die nur die Kindheit bietet. Selbst wenn Bruno aber allein nach draußen dürfte, so wäre er dort ein einsamer Junge. Innerhalb eines verschwiegenen Eigenheimgebietes, das so steril ist wie langweilig. Ich frage mich, ob er den Mumm hätte, sich zu einer Gruppe oder Clique zu gesellen, die nicht den erwachsenen Regeln seines Grundschul-Morgenkreises folgt. Verglichen mit den erzieherischen Idealen seiner sehr intakten Schulklasse waren wir damals doch allesamt Rabauken und hatte von gewaltfreier Kommunikation nie gehört. Vermutlich würden unsere damaligen Elternhäuser heute geradezu als „dysfunktional“ gelten. Dumpften wir drinnen herum und gingen den Alten auf die Nerven, schmissen die uns raus: Los, haut ab, an die Luft! – Wir murrten, aber damit begannen die Erlebnisse in der Freiheit!
Bruno erlebt nichts dergleichen; er ist ein typisches Indoor-Kind, wie alle seiner Generation. Draußen gibt es zwar Tischtennisplatte, Basketball- und Bolzplatz, von wohlmeinenden Stadtplanern angelegt, um etwas für die Kinder und Jugendlichen zu tun, wie es so stereotyp heißt, aber diese Orte sind meist völlig verwaist. Gewissermaßen städtebaulicher Sondermüll, weil den Kids zum Spielen eine Konsole reicht. Bruno übrigens nicht! Der Junge ist „ganz im Kopf“, wie seine Mutter treffend sagt. Durchmisst er den gedanklich, ist er in seiner Welt, und das ist so natürlich wie – sein Problem.
Ja klar, ich gehe mit dem Jungen raus. Aber das ist etwas ganz anderes, als stromerte er allein mit seinen Kumpanen herum. Die es nun mal nicht gibt. Oder doch. Aber sie dürfen ebensowenig allein raus. Die Gefahren überall, der Verkehr und all das Schlimme, was man so liest …
Also bin ich mit ihm unterwegs, zeige ihm allerlei, Botanisches ebenso wie Geschichtliches. Wie er das alles versteht und verinnerlicht, das freut mich etwa so sehr, wie es mir andererseits unheimlich ist. Wir kommen auf die großen geographischen Entdeckungen zu sprechen, ich erzähle von der Eroberung Südamerikas, und er fragt und fragt. Irgendwann sind wir gar beim Versailler Frieden, bei der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und den beiden deutschen Staaten. Es ist die natürliche Neugier, die ein Kind einfach wissbegierig werden lässt, wenn es bereits die Dramatik von Ereignissen nachfühlen kann. Dann aber geht es um die Entstehung der Steinkohle aus den Farn- und Schachtelhalmwäldern des Karbon, und noch später um Planetensystem, Galaxie, Universum, um Schwarze Löcher und Doppler-Effekt. Oje, denke ich: Da weiß solch ein Knirps schon eine Menge von all dem, was die Schule nur mehr „exemplarisch“ und immer zurückhaltender vermitteln wird, weil sie ja niemanden überfordern will. Mag sein, die auffallend hohe Zahl der Hochbegabungen, die allerorten auffallen, hat ihre Ursache allein darin, dass immer weniger geboten respektive verlangt wird.
Du überfrachtest das arme Kind, denke ich. Was würde die Mutter dazu sagen? Aber nein, Bruno fasst das alles auf seine Weise auf und sitzt schon wieder gesichert in der Wohnung, in Strumpfhosen, auf dem Teppich, bei hochgeregelter Heizung und vor allem stets und ständig in der Dauerbetreuung Erwachsener.
Wir damals mieden Erwachsene. Sicher, am Abend war es mit den Eltern heimelig zu Hause, aber zwischen Schule und Abendbrot waren wir weg. Und keiner wusste wo. Nur wir. Oder wir zogen uns in unsere eigene Kinderzimmerwelt zurück. Kamen die Eltern von der Arbeit, war es mit dieser Gemütlichkeit vorbei. Bruno aber braucht seine Eltern. Eigentlich ist er nur mit ihnen zusammen.
Ab und an schildere ich die Abenteuer meiner Kindheit in den späten Sechzigern und Siebzigern im unbekannten Land DDR. Er hört gebannt zu, aber ebenso könnte ich vom Leben der Maya oder daherfabulierten Außerirdischen erzählen. Er versteht, was ich schildere, aber es ist ihm unvorstellbar. Armer Junge, denke ich mitleidvoll, aber unpädagogisch: Kein Luftgewehr, mit dem man auf alte Blumentöpfe ballern kann, kein olles Mofa, mit dem illegal Waldwege entlanggeheizt wird, nicht mal Rad-Ausflüge zum Baden im Sommer, einen Campingbeutel mit Keksen und Brause auf dem Rücken.
Obwohl er es aus seiner Grundschulklasse nicht kennt, habe ich ihm das schriftliche Addieren und Subtrahieren gezeigt. Dann gleich noch das Multiplizieren und Dividieren. Die Lehrerin wird verzweifeln, denn mit Proportionsgleichungen bereitete ich schon mal Prozentrechnung vor. Was soll ich denn machen? Ja, wir haben auch schon Flugmodelle aus Balsa-Holz gebastelt, aber während wir dabei waren, hat der Junge immer weiter gefragt, weil er mich als einen Kumpel sieht, den man eben abschöpfen kann. Er erfasst nun mal problemlos und ich mache einfach weiter. Vielleicht mit einem ersten Exkurs zur Stochastik. Man kann ja nicht einfach so Baumhäuser bauen. Wo denn? Bruno wohnt in einem durchkatasterten Gebiet. Rasenmäher schieben ist hier schon ein Abenteuer, Rasentraktor ein noch größeres. Damit hat es sich aber. Einmal wollte ich ihn eine Karre mit etwas Grünschnitt schieben lassen. Er traute es sich nicht zu; ich musste ihn lange ermutigen. Wir karrten damals noch unsere Geschwister herum …
Selbstverständlich habe ich ihm Schachspielen beigebracht, fehlte mir doch selbst ein Gegner. Aber Schach ist auch im Kopf. Bruno war sogleich vom Spiel infiziert und wählte an seiner Ganztaggsschule ein nachmittägliches Schachprojekt. Dort brachten sie ihm gleich allerlei Eröffnungen und gleich noch die Eröffnungsfallen bei. So dass er mich sofort in der Defensive hat, aus der ich immer weniger herausfinde. Meist gewinnt mittlerweile er.
Ganztagschule, denke ich hämisch, während er meinen König in einer Springer-Dame-Kombination annagelt, das wäre für uns ein Horrorbegriff gewesen. Den ganzen Tag Schule. Wir wollten raus. Spätestens halb zwei waren wir zu Hause, die Beflissenen von uns erledigten noch die Hausaufgaben, um den Rücken frei zu haben, und dann ab, in den Wald: Bunker graben, Buden bauen, am Kanal aus den Böschungssteinen Staudämme errichten, Papierboote drauf fahren lassen und schließlich mit einem Dammbruch eine Katastrophe herbeizuführen, die die Schiffe wegriss. Um von Katapulten mit aus Kugellagern geschlagenen Stahlkugeln mal lieber nicht zu reden. Schon gar nicht von Flaschenbomben mit geklautem Karbid. Lebensgefahr! – Statt dessen nimmt Bruno die „vielfältigen Angebote der Ganztagsschule“ gern in Anspruch, den Hort, den Bastel- und Nähkurs, den Schachklub; und wenn es ein Projekt zur gewaltfreien Kommunikation gäbe, fände er das sicher sehr erwägenswert.
Was meine Freunde und ich im Dorf, auf dem die besten Schätze bergenden Schrottplatz, am Fluss und in all den Feldscheunen erlebten, das würde ihm allzu krass erscheinen. Seiner Mutter ebenso. Aber unsere Mütter wussten ja gar nicht, dass wir darauf aus waren, unsere Initialen in der großen Blutbuche im alten Gutspark immer noch ein Stück höher als die anderen einzuschnitzen. Und dass wir auf dem Geländer der Löcknitzbrücke über den Fluss balancierten und vom Bootzer Wehr so gern Arschbombe machten. Obwohl das alles selbstverständlich verboten war. Damals schon.
Beinahe 1,0. Es stört nur die Drei in Sport. Oder vielmehr: Sie bildet das einzige Korrektiv im Notenbild – solange jedenfalls, bis der Sportunterricht aus sicher bald thematisierten Gerechtigkeitsgründen nicht die Normen ändert oder im Sinne der Antidiskriminierungsargumentation ganz auf Bewertungen verzichtet. Ansonsten bleibt Bruno immer noch eine Sportart, in der er brilliert: Schach.