19. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. September 2016

„Besenrein“ – oder: „Wie viel Staat steckt im NSU?“

von Gabriele Muthesius

So tief ist keine Versenkung,
dass alle Spuren vernichtet werden könnten […];
dazu gibt es zu viele Menschen auf der Welt,
um Vergessen endgültig zu machen.
Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen.
Deshalb kann auch nichts jemals „praktisch nutzlos“ sein,
jedenfalls nicht auf Dauer.

Hannah Arendt
Eichmann in Jerusalem.
Ein Bericht von der Banalität des Bösen

Ziel ist es, […] weiterhin eine
gründliche und größtmögliche Aufklärung zu leisten […].“

Untersuchungsausschuss 6/1
„Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“
des Thüringer Landtages,
Auftrag des Ausschusses [1]

Am 25. Juni dieses Jahres fand im Grünen Salon der Berliner Volksbühne eine Podiumsveranstaltung der LINKEN statt.[2] Unter der Moderation von Dieter Dehm ging es um den NSU-Komplex und speziell die Arbeit der beiden diesem gewidmeten Untersuchungsausschüsse des Thüringer Landtages. Dabei lieferten sich Katharina König, Abgeordnete der Linken im Thüringer Landtag und Mitglied beider Ausschüsse, und der Schriftsteller Wolfgang Schorlau sowie der Wissenschaftsjournalist Ekkehard Sieker einen zum Teil sehr heftigen Schlagabtausch.
„Wie viel Staat steckt im NSU?“ Diese Frage, die auch für die Zustandsbewertung der bundesdeutschen Gesellschaft hoch brisant ist, warf Schorlau im Grünen Salon auf. Sie habe ihn bewogen, seinen fiktiven Privatermittler Georg Dengler – einen früheren BKA-Zielfahnder und die Hauptfigur seiner mittlerweile acht, stets in der bundesdeutschen Realität angesiedelten Thriller – auf den NSU-Komplex „anzusetzen“. Dieses Mal mit einem professionellen Rechercheur im Hintergrund, Ekkehard Sieker. Das Ergebnis, der Roman „Die schützende Hand“, der noch in diesem Jahr für das ZDF verfilmt werden soll, wurde im Blättchen vor einigen Monaten besprochen.
Jetzt lassen speziell Entwicklungen im und um den zweiten Thüringer NSU-Ausschuss (amtliche Bezeichnung: „Untersuchungsausschuss 6/1 ‚Rechtsterrorismus und Behördenhandeln‘“), die bereits die Veranlassung zu der Veranstaltung im Grünen Salon gaben, es angeraten erscheinen, das Thema auch hier erneut aufzugreifen.

*

Am 4. November 2011, um 12:05 Uhr, entdeckten zwei Streifenpolizisten in Eisenach-Stregda ein Wohnmobil. Die offizielle Darstellung dessen, was anschließend passierte, lautet – kurzgefasst – so: Aus dem Camper wurde das Feuer auf die beiden Polizisten eröffnet (ein Schuss), die daraufhin in Deckung gingen. Sie hörten anschließend weitere Schussgeräusche aus dem Camper, in dem unmittelbar darauf ein Brand ausbrach. Nachdem die herbeigerufene Feuerwehr den verschlossenen Camper gelöscht und aufgebrochen hatte, entdeckte man zwei Leichen, von denen sich später herausstellte, dass es sich um die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt handelte. Nach dem Schuss auf die beiden Polizisten soll Mundlos erst Böhnhardt und dann sich selbst erschossen haben, nachdem er zwischenzeitlich noch das Wohnmobil in Brand gesteckt hatte.[3]
Diese Lesart kehrt allerdings zahlreiche Widersprüche, Ungereimtheiten und offene Fragen unter den Tisch, deren Aufdeckung nicht zuletzt dem Team Schorlau / Sieker zu verdanken ist und die auch Gegenstand der bereits erwähnten Besprechung im Blättchen waren.
Am 28. April 2016 wurde im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss erneut Michael Menzel einvernommen. (Er war am 31. März 2014 bereits vor den ersten Ausschuss – amtlich: „Untersuchungsausschuss 5/1‚ Rechtsterrorismus und Behördenhandeln‘“ – geladen worden.)
Menzel war als Leitender Polizeidirektor in Gotha am 4. November 2011 in Stregda vor Ort jener verantwortliche Ermittlungsleiter,

  • der im Einzelnen nicht mehr nachvollziehbare Veränderungen des Tatortes zumindest billigend in Kauf genommen hat, als er – vor irgendwelchen kriminaltechnischen Untersuchungen – das Abschleppen des Campers durch ein privates Unternehmen in eine Abstellhalle auf dessen Betriebsgelände in Eisenach anordnete. Dazu musste das Wohnmobil über eine etwa 30 bis 40 Grad schräge Rampe auf ein Abschleppfahrzeug gezogen werden. Zuvor hatte Menzel der angerückten sogenannten Tatortgruppe, der normalerweise die kriminaltechnische Tatortarbeit, Spurensuche und Sicherung des Tatortbefundes obliegt, keine Gelegenheit gegeben, sogenannte Spheron-Aufnahmen zu machen[4], die gegebenenfalls eine Tatortrekonstruktion nach der Abschleppaktion ermöglicht hätten.
  • unter dessen Verantwortung in Stregda die laut Thüringer Bestattungsgesetz zwingend vorgeschriebene ärztliche Leichenschau unterblieb, obwohl ein dazu befugter Notarzt und zwei ebenfalls befugte Gerichtsmediziner vor Ort waren.
  • der regel- und polizeipraxiswidrig den Camper samt Leichen abschleppen ließ.
  • der sich dem Verdacht aussetzte, bereits bei seinem Eintreffen am Tatort gegen 12:30 Uhr über detailliertes Vor-, um nicht zu sagen Täterwissen verfügt zu haben, denn er informierte bereits zwischen 16:30 und 17:00 Uhr[5] telefonisch einen Kollegen in Heilbronn, dass im Camper die Dienstwaffe der am 25. April 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter gefunden worden sei. (Laut Einsatzverlaufsbericht der Kriminalpolizeistation Eisenach wurde diese Waffe aber überhaupt erst um 23:11 Uhr aufgefunden und identifiziert[6].)
  • der auch dafür verantwortlich war, dass das Wohnmobil verladen und abtransportiert wurde, obwohl der Sachverhalt, dass sich scharfe Waffen an Bord befanden, durch Bergung und Entladung einer Pistole Heckler & Koch, Modell P 2000 aus dem Camper, die um 14:45 Uhr erfolgten[7], bekannt war.
    (Für den Abschleppunternehmer Matthias Tautz, der Verladung und Transport vornahm, barg dies ein hohes persönliches Risiko. Immerhin hatte es in dem Wohnmobil ja auch gebrannt. Laut Protokoll antwortete Tautz im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss auf die Frage, ob er über die Existenz scharfer Waffen informiert worden sei: „ […] Wenn ich gewusst hätte, dass da Handgranaten[8] drin wären, hätte ich es nicht gefahren. Also das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. […] Weil da ist nur eine Blechwand zwischen Wohnmobil und mir gewesen und das muss ich nicht haben.“[9])

Am 30. April 2016, zwei Tage nach Menzels zweiter Einvernahme und mit ausdrücklichem Bezug auf dieselbe, erklärte Katharina König gegenüber dem Sender FSK 93,0: „Na, ich glaub‘, das Entscheidende, was man sagen kann, ist, dass die großen Fragen und vor allem die großen Theorien und Möglichkeiten, was da am 4.11. nun alles hätte passieren können oder vielleicht passiert ist, durch den Thüringer Untersuchungsausschuss ausgeräumt sind. Also, die ‚Dritte-Mann-Theorie‘ ist ausgeräumt. Genauso ist ausgeräumt, dass da im Hintergrund irgendjemand mit sozusagen ‘ner großen steuernden Hand dahinter saß und den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verursacht hat. Genauso ist ausgeräumt, warum sozusagen in der Obduktion der beiden dann wenig Gehirn festgestellt wird, im Wohnmobil kein, vermeintlich kein Gehirn festgestellt wird. Und so weiter und so fort. Also, es ist relativ viel, eigentlich würde ich sagen … 90 Prozent sind ausgeräumt, der Theorien, beziehungsweise sind darauf die entsprechenden Antworten gefunden worden. Natürlich bleiben vereinzelt Fragen übrig und diejenigen, die sowieso davon überzeugt sind, dass hinter dem 4.11. ‘ne große steuernde Hand sitzt, die kann man auch nicht überzeugen, da ist es, glaube ich, egal, wie viele Antworten, wie viele Sitzungen, wie viele Jahre man sich mit dem 4. November 2011 beschäftigt, die erreicht man einfach nicht. Aber ich denk‘ so, für den, ja … für den größeren Teil ja der Gesellschaft kann man eigentlich jetzt sagen, der 4.11. ist durch den Thüringer Untersuchungsausschuss weitestgehend aufgeklärt und die sozusagen die Variante, die auch vom Bundeskriminalamt in den Akten ermittelt wurde, die ist zutreffend.“[10] Verbliebene Fragen änderten „im Gesamten nichts daran, dass der 4. November weitestgehend so abgelaufen ist, wie es auch […] in der Anklage in München vermerkt wurde“[11]. Zum Hergang am Auffindeort der Leichen sagte König des Weiteren: „Dann kommen natürlich auch Gerichtsmedizin, die hinzugezogen wird. ‘n Notarztwagen ist vor Ort, der hinzugezogen wird […].“[12] Nachdem die Feuerwehr den Brand im Wohnmobil gelöscht hätte, habe ein erster Blick in den Camper gezeigt: „[…] zwei Personen mit so großflächigen Kopfverletzungen, dass man davon ausgehen kann, die beiden, ja, leben nicht mehr, einfach weil, ja, mit so großen Löchern im Kopf, dem Brand vorher […] der gesunde Menschenverstand, so haben es uns die Polizeibeamten und auch Feuerwehr und auch Gerichtsmedizin gesagt, stellt der relativ (glucksendes Lachen), ja stellt der gesunde Menschenverstand fest, die können einfach nicht mehr leben, unabhängig davon, ob da jetzt ein Notarzt formal den Tod feststellt oder nicht.“[13]
Dieses summarische Fazit, mit dem König die Arbeit des Ausschusses, was die Vorgänge am 4. November 2011 anbetrifft, praktisch für erfolgreich beendet erklärte, wirft seinerseits eine Reihe von grundlegenden Fragen auf.
Zunächst einmal enthalten Königs Ausführungen zwei nachweisliche Unwahrheiten, wie ein Einblick in die Ausschuss-Protokolle zeigt:
Erstens – Der an den Auffindeort des Campers gerufene Notarzt Dr. Michael Schlichter wurde von den polizeilichen Einsatzkräften daran gehindert, das Wohnmobil auch nur zu betreten, geschweige denn eine Leichenschau, und sei es eine vorläufige, vorzunehmen. Schlichter fasste vor dem zweiten NSU-Ausschuss zusammen: „Ich kann das immer nur wieder sagen, wir sind dorthin gerufen worden, wir waren vor Ort, und uns wurde dann von den Einsatzkräften nicht gestattet, dahin zu gehen […].“[14] An der Zugangsverweigerung änderte sich auch dann nichts, als die zur Begründung zunächst angegebene Eigengefährdung durch einen vermuteten Sprengsatz im Camper sich als nicht stichhaltig herausgestellt hatte. – Der Notarzt verblieb seiner Aussage zufolge „relativ lange“[15] in Stregda, rückte aber schließlich unverrichteter Dinge wieder ab.
Zweitens – Gegen 13:15 Uhr trafen die nach Stregda gerufenen[16] Jenenser Gerichtsmediziner Prof. Dr. med. Gitta Mall und Dr. Reinhard Heiderstädt beim Wohnmobil ein. – Mall erklärte im zweiten Ausschuss auf den Hinweis von König, dass bis zu diesem Zeitpunkt, 13:15 Uhr, „der Tod der beiden noch nicht offiziell festgestellt“[17] worden sei: „Also das höre ich jetzt zum ersten Mal. Wissen Sie, mir war das nicht bekannt.“[18] Außerdem ist sich Mall selbst nicht sicher, ob sie, wie Menzel behauptet[19], den Camper überhaupt betreten hat: „Also es kann sein, dass ich da – da sind ja schon Stufen, glaube ich, rein – dass ich da irgendwie draufgestiegen bin, dann einmal reingeguckt habe.“[20] Und ihr Kollege Heiderstädt auf die Ausschuss-Frage „Wer hat den Tod festgestellt?“: „Das weiß ich nicht. Wir sind gerufen worden und ich ging davon aus, der Tod ist festgestellt.“[21].
Bleibt folglich festzuhalten, dass sowohl der Notarzt als auch die Gerichtsmediziner in Stregda nicht hinzugezogen worden sind, jedenfalls nicht zur Vornahme der vorgeschriebenen Leichenschau.
Deren Unterlassung, so wollte König auf FSK 93,0 die Öffentlichkeit wohl zugleich glauben machen, sei aber unerheblich, da ja schon „der gesunde Menschenverstand“ den Tod der beiden Personen infolge großflächiger Kopfverletzungen habe konstatieren können.
Damit offenbarte König einerseits ein für eine gewählte Abgeordnete befremdlich laxes Rechtsverständnis, denn das Thüringer Bestattungsgesetz, Paragraph 4.1, legt fest, dass „jede (Hervorhebung – G.M.) Leiche“ einer Leichenschau unterzogen werden muss. Und zwar durch einen Arzt.[22] Denn nicht nur aus Kriegen weiß man, dass Menschen auch mit schwersten Schussverletzungen im Kopfbereich noch leben und überleben können. Interessanterweise ist diese Problematik im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss zur Sprache gekommen – mindestens in dessen 8. Sitzung am 3.12.2015.[23]
Hinzu kommt, dass im Falle von Mundlos die Schwere seiner Kopfverletzung gar nicht ohne weiteres zu erkennen war, wie ein Ermittlungsfoto von der Auffindesituation zeigt, das Schorlau in seinem Buch veröffentlicht hat.[24] (Zum Foto hier klicken!)
Darüber hinaus aber schreibt das Thüringer Bestattungsgesetz zum Inhalt der Leichenschau nicht nur die Feststellung des Todes zwingend vor, sondern auch die „Feststellung […] des Todeszeitpunkts (Hervorhebung – G.M.), der Todesart und der Todesursache“[25]. Überdies hat der Gesetzgeber verfügt: „Die Leichenschau soll an dem Ort, an dem die Leiche aufgefunden wurde, vorgenommen werden.“ Mit einer möglichen Einschränkung: „Ist an diesem Ort eine ordnungsgemäße Leichenschau nicht möglich oder zweckmäßig, kann sich der Arzt zunächst auf die Feststellung des Todes, des Todeszeitpunkts und der äußeren Umstände beschränken.“[26]
Da mit der erneuten Einvernahme von Michael Menzel durch den Thüringer Ausschuss am 28. April 2016 „der 4.11.“, so König gegenüber FSK 93,0, „weitestgehend aufgeklärt [ist]“, sollte man wohl davon ausgehen können, dass dies auch für die Frage der unterlassenen Leichenschau gilt. Doch Fehlanzeige. Menzel bekannte zwar am 28. April im Hinblick auf das „Leichenschaugesetz“: „ […] ich kenne das sehr gut, weil ich habe es geschrieben, im Thüringer Innenministerium, oder durfte zumindest mitwirken […].“[27] Dann aber hakte der Ausschuss bei der folgender Einlassung Menzels nicht weiter nach: „[…] es gibt eben […] sichere Zeichen des Todes. Und das war für jeden auch nicht fachlich fundierten Menschen ersichtbar, dass bei diesen Verletzungen (von Mundlos und Böhnhardt – G.M.) der Tod zwangsläufig vorhanden ist.“[28]
Darüber hinaus sagte Menzel: „Die Todesbescheinigung ist dann in Absprache mit der Gerichtsmedizin passiert, das war dann unter meiner Führung, das heißt, wo die Gerichtsmedizin da war, wurde auch darüber gesprochen, wie dann entsprechend der Totenschein zu fertigen ist.“[29] Die Totenscheine von Mundlos und Böhnhardt, von Dr. Heiderstädt am 05.11.2011 in Jena ausgestellt, attestieren – ohne jegliche forensische Untersuchung – einen ganz exakten Todeszeitpunkt: 12:05 Uhr am 04.11.2011.[30]
Also weist der Einsatzleiter der Polizei an, und der Gerichtsmediziner – Forensik hin, Forensik her – pariert und stellt einen Gefälligkeitstotenschein aus?
Umso mehr stellt sich damit als ziemlich zentrale Frage die nach einem möglichen Grund für das Unterlassen oder gar zielgerichtete Verhindern der Leichenschau.
Diese Frage stellte die Autorin im Rahmen der Veranstaltung in der Berliner Volksbühne an Ekkehard Sieker. Dessen Antwort: „Bevor ich darauf eingehe, lassen Sie mich noch zwei weitere Sachverhalte erwähnen. Als erstes medizinisch kompetentes Fachpersonal traf ein Rettungswagen mit seiner Crew bei dem Camper ein. Noch vor dem Notarzt, und die Sanitäter erhielten auch schon keinen Zutritt. Überdies unterblieb unter Menzels Verantwortung das Herbeirufen eines Bestattungsunternehmens zur Bergung und zum Abtransport der Toten, wie es bei Unfallfahrzeugen vor dem Abschleppen die Regel ist. Die Toten wurden erst nach 18:00 Uhr in der Tautz-Halle von Polizeikräften geborgen und in Leichensäcken deponiert, bevor sie noch später dann dem Bestattungsinstitut der Stadtwirtschaft Eisenach übergeben wurden. Warum das nicht in Stregda geschah und warum Sanitäter, Notarzt und Gerichtsmediziner am unmittelbaren physischen Kontakt mit den Leichen – so muss man das ja wohl beschreiben – gehindert wurden, das ergibt keinen Sinn – es sei denn, es sollte verhindert werden, dass irgendjemand mit entsprechender Kompetenz feststellen konnte, dass bei Mundlos und Böhnhardt die Totenstarre schon teilweise oder vollständig ausgebildet war, dass die beiden also um 12:05 Uhr, zum Zeitpunkt des Eintreffens der Streifenpolizisten, bereits einige Stunden oder länger nicht mehr am Leben waren, und hier mithin wohl kein erweiterter Selbstmord vorlag, sondern Mord. Dass die Tür des Wohnmobils verschlossen war und von der Feuerwehr aufgebrochen werden musste, wie Menzel zu Protokoll gab[31], spricht nicht gegen diese These, denn Türen sind in der Regel doppelseitig verschließbar, und unter den Asservaten aus dem Camper befindet sich meines Wissens kein entsprechender Schlüssel.“
Auf diese Schlussfolgerung, dass Mundlos und Böhnhardt zum Zeitpunkt des Auffindens des Wohnmobils bereits tot waren, lief bekanntlich bereits Wolfgang Schorlaus Buch hinaus, und gestützt wird eine solche Annahme durch gravierende Indizien wie die folgenden, die Sieker und Schorlau in diversen Ermittlungsakten gefunden haben:

  • Um den Standplatz des Campers in Eisenach-Stregda, Am Schafrain 2, hat die Polizei noch am 4.11. Anwohner befragt und mehrere Aussagen protokolliert, denen zufolge der Camper bereits um 9:15 Uhr (Zeuge N.[32]) dort gesichtet wurde, um 9:30 Uhr (Zeuge H.[33]), um 10:00 Uhr (Zeugin C.[34]) und um 11:20 Uhr (Zeuge K.[35]). Das würde bedeuten, dass Mundlos und Böhnhardt den Überfall auf die Sparkasse am Eisenacher Nordplatz um 9:20 Uhr[36], der ihnen von der Polizei zur Last gelegt wird, nicht begangen haben könnten. –Das wäre dann aber auch nicht der einzige der 15 Banküberfälle, dessen Zuordnung durch die Ermittlungsbehörden an das Duo auf fragwürdiger Grundlage erfolgte. So war zum Beispiel im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss die Rede von einem Banküberfall, den die beiden am 7. September 2011 in Arnstadt begangen haben sollen. Dazu enthalten die polizeilichen Unterlagen (Lagefilm-Ordner) einen Hinweis auf „zwei Täter, davon einer dunkelhäutig“, bestätigt vom BKA: „gemischtrassig, afrikanischer Phänotyp, Mulatte“[37].
  • Die Kammer der Pumpgun, mit der Mundlos sich selbst erschossen haben soll, war leer und der Verschluss offen. Bei der Mechanik der Waffe bedeutet dies, dass Mundlos sie nach dem Schuss, der ihm das Hirn zerstörte, noch selbst entladen haben müsste. Mit physischem Kraftaufwand. Unmöglich.
  • Vor seinem Selbstmord soll Mundlos den Camper in Brand gesteckt haben. Bei lebenden menschlichen Organismen führt Rauchgaseinatmung aber zu einer erhöhten Kohlenmonoxid-Hämoglobin-Konzentration im Herzblut, die als sogenannter CO-Hb-Indikator mit viel höherer Verlässlichkeit zeigt, ob ein an einem Brandort gefundener toter Körper zum Zeitpunkt des Brandausbruches noch lebte oder nicht. In der am Institut für Rechtsmedizin in Jena vorgenommenen Sektionstoxikologie von Mundlos heißt es dazu: „Die […] enthaltene CO-Hb Konzentration lag mit 3% im physiologischen Normbereich, so dass eine Rauchgasvergiftung definitiv ausgeschlossen werden kann.“[38]

Ein weiteres entscheidendes Indiz: Unter den Asservaten aus dem Wohnmobil befinden sich keinerlei Gewebe- und Hirnteile sowie Schädelknochenfragmente, die durch die Nahschüsse in den Schädel, sogenannte Krönleinschüsse, mit denen Mundlos und Böhnhardt zu Tode kamen, mehr oder weniger großflächig im Camper verteilt worden sein müssten.[39] Solche Überreste werden zum Beispiel bei Selbstmördern, die sich vor einen Zug geworfen haben, mit großem Aufwand, auch unter Einsatz von Spürhunden, geborgen. Das ist schon ein Gebot der Wahrung der Totenwürde. Umso mehr Sorgfalt sollte man im vorliegenden Fall erwarten dürfen, da diese Überreste zugleich wichtige forensische Hinweise auf den Tathergang liefern können.
Bei den Sektionen in Jena wurden laut den Sektionsprotokollen in den Schädelhöhlen von Mundlos und Böhnhardt zusammen noch 660 Gramm Hirnmasse gefunden. In der Fachliteratur wird die durchschnittliche Hirnmasse von Männern mit 1.300 bis 1.400 Gramm[40] angegeben. Es wären also insgesamt um die 2,7 Kilogramm zu erwarten gewesen. Wo ist der Rest? Von Fragmenten der Schädelknochen der Beiden ganz zu schweigen. Und: Das bereits erwähnte Ermittlungsfoto der Auffindesituation von Mundlos zeigt neben und über dessen Kopf, also um vorgebliche Austrittsbereiche des Geschosses – je nachdem, ob sich Mundlos im Stehen oder im Sitzen erschossen hätte – keinerlei Spuren oder Spritzer von Blut und Gewebe. Auch Katharina König hat sich ein Foto der Auffindesituation von Mundlos, es trägt laut Ausschussprotokoll die Nummer 5055, in der 12. Ausschusssitzung am 3. März 2016 angesehen, zusammen mit dem Zeugen Heiderstädt, und dabei festgestellt: „Da sieht man ja den hinteren Bereich, in dem Mundlos gelegen hat, und sieht, dass im oberen Bereich Verbrennungen sind, aber keinerlei Gewebe, Blut oder sonstige Anhaftungen.“[41]
Trotzdem ist Königs Ausführungen am 30.04.2016 auf FSK 93,0 zufolge das Fehlen des Hirns nur ein angebliches.
Was wurde im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss konkret dazu festgestellt?
Während dessen 8. Sitzung fand zu dieser Frage folgender Dialog zwischen der Ausschussvorsitzenden Dorothea Marx (SPD) und Gerd Sopuschek von der Kriminalpolizeiinspektion Gotha statt, der am 5.11. in der Abstellhalle der Firma Tautz mit Spurensicherung im Wohnmobil befasst war:
Vors. Abg. Marx: […] Sie haben ja schon gesagt, dass neben Blut auch Hirnmasse …
Herr Sopuschek: Richtig.
Vors. Abg. Marx: … noch auf dem Boden gelegen hat. Und es gibt ein Bild, das Sie gemacht haben, da liegt ziemlich viel Hirnmasse vor dem Kühlschrank, also richtig schön rosa. Das hört sich jetzt ein bisschen makaber an.
Herr Sopuschek: Ja, wie Sie das so sagen!
Vors. Abg. Marx: Das ist das Bild img 5352. Ich meine, Blut ist klar, dass sich das da noch in dem Fahrzeug befunden hat. Aber Hirnmasse, ist das nicht etwas, was man dann auch noch besonders sichern müsste als identifizierbares Leichenteil? Das fehlte doch dann auch bei der Obduktion.
Herr Sopuschek: Gut, kann man geteilter Meinung sein. Die Identität, die DNA, dazu brauche ich das Gehirn nicht, für die DNA-Untersuchung. Die kann ich mit jedem x-beliebigen Blut von dem bei der Sektion machen. – Ja, es gehört zum Toten.
Vors. Abg. Marx: Es gehört zum Toten. Ich meine, es ist ja noch eine Obduktion dann gemacht worden und warum, wissen wir auch. Abgesehen davon, wenn dann Hirnmasse fehlt, dann kommen hinterher auch wieder Gerüchte auf, ob die Toten überhaupt in dem Wohnmobil getötet worden sind, wenn da Hirnmasse fehlt in Potenzen. Wie gesagt, es ist ein etwas schwieriges Thema, aber diese Hirnmasse liegt da. Sie haben die dann nicht gesichert, weil Sie Sachen rausgeholt haben, also klassische Asservate?
Herr Sopuschek: Ja, muss ich so sagen, wir haben es nicht gesichert.“[42]
In der 9. Sitzung am 14. Januar 2016, wurde dann Manfred Nordgauer, Kriminalhauptkommissar aus Stuttgart einvernommen, der im Zusammenhang mit der Auffindung der Heilbronner Dienstwaffen angereist und am 5.11. ebenfalls im Camper eingesetzt war:
Herr Nordgauer: […] Wir haben dann vor Ort den ganzen Tag gearbeitet, also ich meine, es waren ungefähr zehn/zwölf Stunden, bis das Fahrzeug besenrein war […]
Vors. Abg. Marx: Sie haben ja gesagt, Sie haben im Laufe des Tages dann unterstützt und am Abend dann quasi das Fahrzeug besenrein verlassen. Das ist für uns eine etwas neue Auskunft, das Wort ‚besenrein‘, weil wir Fotos haben, die nicht so ästhetisch sind […], das Fahrzeug war voller Blut, es waren auch noch Gewebespuren. Ist das von Ihnen auch schon irgendwie gesäubert worden? Sie haben ja gesagt Brandschutt, Inhalt der Schränke – eine Reinigung in dem Sinne?
Herr Nordgauer: Reinigung nicht, wir haben das Fahrzeug komplett ausgekehrt, das heißt, mit allen Geweben, mit allen Hirnmassen, alles, was da so rumliegt, das ist einfach die Aufgabe, das haben wir alles raussepariert, dann auch noch mal gesiebt, geguckt, denn oft haben Sie bei Bränden, wenn Sachen nach unten fallen, irgendwie Verbackungen, befinden sich in solchen Klumpen dann noch Beweisgegenstände. Auch die haben wir noch auseinandergemacht, haben dann draußen klar getrennt vom Müll her, von den Asservaten her. ‚Besenrein‘ einfach, es wird quasi zum Schluss – wenn Sie eine Wohnung haben, vielleicht mieten, da gibt es den Begriff ‚besenrein übergeben‘, Sie müssen es nicht auswaschen, aber zumindest sollte es sauber sein. So haben wir das Fahrzeug hinterlassen, so waren wir abends fertig.
Vors. Abg. Marx: Wir haben das letzte Mal die Zeugen aus der Thüringer Polizei mit Aufnahmen konfrontiert, wo zum Beispiel Hirnmassestücke noch am Boden zu sehen sind, und die Frage gestellt, ob die geborgen worden seien. Da wurde uns gesagt, nein, weil der Auftrag gewesen sei, an diesem Tag nach anderen Dingen zu schauen, nämlich nach Hinweisen auf die Identität der Opfer, nach Waffen, nach der Beute des Bankraubs, und man habe diese Dinge nicht asserviert.
Herr Nordgauer: Asserviert haben wir die nicht, aber sie waren nicht mehr im Fahrzeug, sie waren anschließend vor dem Fahrzeug.
Vors. Abg. Marx: Denn das war meine Frage im letzten Ausschuss an die anderen Zeugen, es handelt sich ja um Leichenteile, die dann eigentlich auch mit in die Gerichtsmedizin möglicherweise gehört hätten, und da hat er gesagt, auf diesen Aspekt hätte man nicht geachtet, das würde man im Nachhinein vielleicht so sehen können, aber seines Erachtens … Wir hatten bisher auch keine Hinweise darauf, dass diese Dinge asserviert worden sind. Aber Sie sind sich sicher,
Herr Nordgauer: Dass es da war.
Vors. Abg, Marx: … dass es da war. Also konkrete Asservierung, das heißt Aufnahme in Asservierungsliste, wäre dann nicht mehr Ihre Aufgabe gewesen? Sie haben es quasi nur rausgeschafft auf die Straße.
Herr Nordgauer: Ich gehe auch davon aus, dass es nicht asserviert wurde, weil es für uns nicht als Asservat galt, sondern wir sprechen immer von Gegenständen, nicht grad… Sie haben sicher Recht, wenn Sie sagen, hätte nicht möglicherweise eine Gehirnmasse mit zur Leiche gehört. Die Leichensachbearbeitung war nicht unsere Zuständigkeit, das haben sie nachts gemacht. Vielleicht hätte man das einpacken können mit den Leichen, ja, schwierig. Aber es war deutlich und viel Gehirnmasse da und es war anschließend nicht mehr im Fahrzeug. Aber sie wurde sicher nicht asserviert, aber sie war nicht mehr im Fahrzeug, weil es ausgekehrt, besenrein war.
Vors. Abg. Marx: Ja, besenrein und ausgekehrt, also dann Sonderabfall oder was war das dann?
Herr Nordgauer: Brandschutt ist immer Sondermüll, ob da jetzt noch ein bisschen Hirn mit drin ist oder nicht.“[43]
Es ergibt sich folgendes Bild: Bei der Spurensicherung im Wohnmobil wurden keinerlei organische Überreste der Toten – weder Hirnmasse oder -gewebe noch Knochenfragmente – asserviert, weil offenbar niemandem ein Auftrag dazu erteilt worden ist. Stattdessen wurden alle möglicherweise vorhandenen organischen Spuren bei Aufräumarbeiten beseitigt, so dass das Wohnmobil schon gegen Abend des seiner Auffindung folgenden Tages „besenrein“ war. Zwar existiert ein Tatortfoto (img 5352), auf dem ein Objekt zu sehen ist, bei dem es sich um zusammenhängende Hirnmasse handeln könnte. Leider ist aber auch das definitiv nicht mehr festzustellen, da dieses Objekt ebenfalls nicht ordnungsgemäß asserviert, vielmehr vermutlich als Sondermüll entsorgt wurde.[44]
Natürlich muss sich ein NSU-Untersuchungsausschuss nicht dafür interessieren, dass, sollte es sich um Hirnmasse gehandelt haben, damit seitens der Ermittlungsbehörden möglicherweise ein bis zu dreifacher Straftatbestand vorlag: Leichenschändung, Beweismittelvernichtung und Strafvereitelung im Amt. Wie man allerdings nach diesen Aussagen die Frage nach rund zwei Kilogramm fehlender Hirnmasse und nach fehlenden Schädelknochenfragmenten als beantwortet betrachten kann, bleibt zumindest das Geheimnis des Thüringer Ausschusses.
Katharina König allerdings weiß Bescheid: Wer immer noch die Frage nach der fehlenden Hirnmasse stellt, betreibt „[…] Verschwörungstheorie rund um den 4. November, weil zwei Komma irgendwas Gramm Kilo Nazihirn fehlen […]“[45]. Sagte sie im Grünen Salon der Volksbühne in Berlin und setzte noch einen drauf:Also Entschuldigung, ob Nazihirn im Sondermüll ist oder nicht, ist mir am Ende egal.“[46] Und auf die Frage von Sieker an König, wie der Ausschuss denn überprüft habe, ob Mundlos und Böhnhardt „nicht dort schon tot hingestellt wurden“ – antwortete sie, teils lachend: „Das ist jetzt keine ernsthafte Frage. […] Das ist pure Verschwörungstheorie. […] Warum sollen wir uns im Untersuchungsausschuss mit Verschwörungstheorien beschäftigen? […] Es gibt keinerlei Indizien, die darauf hinweisen […].“[47]
Keinerlei Indizien? Oder vielleicht besser: Sind alle Indizien, die der Lesart des Tathergangs von Katharina König und des BKA widersprechen, quasi per se Ausdruck von Verschwörungstheorie?
Dazu passt, was König zum Selbstverständnis ihrer Ausschussarbeit am 19. Dezember 2015 gegenüber FSK 93,0 hat durchblicken lassen: „Das sind so viele kleine Widersprüchlichkeiten, die da auftauchen, die wir versuchen sozusagen zu entkräften, beziehungsweise aufzuklären; und das schon allein deswegen, weil sich ja um den 4.11. sehr viele Verschwörungstheorien ranken, und ich denke, dass wir mit dieser Detailarbeit in Thüringen – so anstrengend die auch manchmal sein mag – ‘ne Chance haben, diesen Verschwörungstheorien entgegenzuwirken. […] Da werden wir höchstwahrscheinlich auch noch zwei, drei Monate damit zu tun haben […].“[48]
Ein Vierteljahr später ist folgende Bemerkung Königs direkt im Ausschuss, gegenüber dem Zeugen Heiderstädt, dokumentiert: „Es kursieren diverse Theorien, die davon ausgehen: kein Gehirn oder zu wenig Gehirn. Und deswegen sind die beiden ja gar nicht dort im Wohnmobil ermordet worden oder haben sich umgebracht gegenseitig. Wir versuchen auch so, ein Stück weit diese kursierenden Theorien einzudämmen.“[49]
War, so könnte man hier fragen, der Tatbestand der Zeugenbeeinflussung damit bereits überschritten oder nur touchiert?
Noch deutlicher wurde König gegenüber FSK 93,0 am 30. April 2016: „[…] der 4. November trägt nicht zur Aufklärung des NSU-Komplexes bei. Sondern der trägt, wenn überhaupt, dazu bei, dass man gewisse Theorien […] abschmettern kann […].“[50]
Die Frage im Übrigen, ob Mundlos und Böhnhardt am 4.11.2011 um 12:05 Uhr bereits tot waren oder nicht, hätte sich normalerweise durch eine forensische Todeszeitpunktfeststellung beantworten lassen. Da eine Leichenschau aber unterblieb, wurden am Tatort auch keine dafür notwendigen Temperaturmessungen an den Körpern vorgenommen.
Das hält Katharina König, wie sie im Grünen Salon unter Berufung auf die im Ausschuss gehörten Gerichtsmediziner deutlich gemacht hat, offenbar für eine lässliche Unterlassung, da durch den Brand im Camper praktisch sowieso keine verwertbaren Messungen hätten vorgenommen werden können.[51]
Tatsächlich hatte die Rechtsmedizinerin Mall im zweiten Thüringer Ausschuss erklärt: „Normalerweise würde die Feststellung der Todeszeit in der frühen postmortalen Phase – das wäre hier zum Beispiel über die Temperaturmessung – erfolgen; Rektaltemperatur würde gemessen. Dann würde man aus der Abkühlung der Leiche rückrechnen […] Aber in diesem Fall, muss man sagen, war ein Brand und damit hat sich die ganze Temperaturmessung und die Schätzung oder Rückrechnung aus der Abkühlung erübrigt. Also das ist wirklich ein Fall, in dem eine Todeszeitschätzung aus rechtsmedizinischer Sicht, aus rechtsmedizinischen Anhaltspunkten völlig unmöglich ist.“[52]
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es sich beim Brand in dem Wohnmobil nur um ein kurzzeitiges Feuer gehandelt hat. Insbesondere die Leiche von Mundlos wies einerseits keine erheblichen Brandspuren auf und Rücken sowie Gesäß waren durch die Wand und den Boden des Campers, an der die Leiche lehnte und auf dem sie saß, geschützt. (Zum Foto hier klicken!) Mall, die sich ja nicht sicher ist, ob sie den Camper überhaupt (kurzzeitig) betreten hat, hat auf jeden Fall am 04.11.2011 in Stregda keine Begutachtung von Mundlos und Böhnhardt vorgenommen, auch nicht im Hinblick auf möglicherweise bereits vorliegende Anzeichen von Totenstarre, so dass ihre Aussage „völlig unmöglich“ eher einer Mutmaßung gleich kommt, als dass sie das Gewicht einer forensisch untersetzten Feststellung hätte. Ganz abgesehen davon, dass die Jenenser Rechtsmedizin mit dem Finite-Elemente-Modell als neues Verfahren mit physikalischem Modellansatz über eine patentierte, besonders exakte Methode zur Todeszeitpunktbestimmung verfügt.[53]
Im Übrigen hat dieses „völlig unmöglich“ ihren nachgeordneten Kollegen Heiderstädt, aber seltsamerweise nicht daran gehindert, die bereits erwähnte Angabe auf den Totenscheinen vorzunehmen und dadurch den hypothetischen – nur durch polizeiliche Kolportage untermauerten – Todeszeitpunkten von Mundlos und Böhnhardt amtlichen Charakter zu verleihen.
Ausgerechnet zur entscheidenden Todeszeitpunktfrage überraschte Katharina König bei der Podiumsveranstaltung im Grünen Salon das Auditorium dann aber doch noch mit einem Paukenschlag: Der Thüringer Ausschuss verfüge neben den Obduktionsbefunden über ein weiteres „offizielles, von der Gerichtsmedizin ausgestelltes Schreiben, nämlich dass der Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am Freitag, am Freitagvormittag, im Zeitraum circa acht bis elf Uhr stattgefunden hat. […] Freitagvormittag, ich glaube, acht bis elf steht drinne […].“[54] Das korrigierte sie zwar kurz darauf, wobei sie implizit ihre konkrete Zeitangabe zurücknahm: „Entschuldigung, das war jetzt mein Fehler. Freitagvormittag […].“[55] Aber auch der Vormittag endet um 12:00 Uhr mittags. Steht damit also fest, dass Mundlos und Böhnhardt bereits tot waren, als die Streifenpolizisten um 12:05 Uhr am Camper eintrafen?
Zu den „großen Fragen“, die Katharina König zufolge vom Thüringer Ausschuss jetzt zu 90 Prozent aufgeklärt worden seien, zählt nicht zuletzt auch ein Vorgang um den bereits erwähnten damaligen Polizeidirektor in Gotha, Michael Menzel, und die Dienstwaffen der Heilbronner Polizisten Michèle Kiesewetter und Martin Arnold. Beide Waffen, die die Täter bei dem Überfall auf die Polizisten am 25.04.2007, bei dem Kiesewetter erschossen und ihr Kollege schwer verletzt wurde, entwendet hatten, sind im polizeilichen Einsatzverlaufsbericht vom 04.11.2011 als Funde im Camper dokumentiert.
Dazu hatte Menzel dem ersten Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss, in dessen 60. Sitzung am 31.03.2014, erklärt: „In der weiteren Untersuchung (im Camper am Tatort in StregdaG.M.) wurde gegen 16.00 Uhr festgestellt, dass es sich bei einer Waffe, die sich in diesem Wohnmobil befand, die lag auf dem Tisch, in dieser Sitzecke, ggf. um die Waffe der Polizeibeamtin Kiesewetter handeln kann, da die ermittelnde Beamtin vor Ort die Individualnummer dieser Pistole aufgeschrieben hat und mit dem Fahndungsbestand der Polizei abgeglichen hat und hierbei die Nummer der in Fahndung stehenden Pistole den Hinweis darauf gab, dass es sich hierbei um die Waffe von Frau Kiesewetter handeln könnte.“[56] Menzel war zu diesem Zeitpunkt selbst bereits nicht mehr in Stregda. Er hatte den Tatort nach eigenem Bekunden bereits um 14:30 Uhr wieder verlassen[57]. Zwischen 16:30 und 17:00 Uhr informierte er von seinem Büro aus telefonisch die Polizei in Heilbronn über das Auffinden der Kiesewetter-Waffe. Auch Manfred Nordgauer, der erwähnte Kriminalhauptkommissar aus Stuttgart, bestätigte später gegenüber dem zweiten NSU-Ausschuss: „[…] der Anruf, mich hat er erreicht so gegen viertel nach sieben abends zu Hause: Man hätte die Waffe von der Frau Kiesewetter in einem Wohnmobil in Eisenach gefunden.“[58]
Zu all den genannten Zeitpunkten – 16:00 Uhr, zwischen 16:30 und 17:00 Uhr, 19:15 Uhr – lag die Kiesewetter-Waffe vom Typ Heckler & Koch, Modell P 2000 aber noch unberührt und vor allem unidentifiziert im Camper, auf dem Tisch, unter Brandschutt fast unsichtbar. Sie wurde laut polizeilichem Einsatzverlaufsbericht überhaupt erst um 23:11 Uhr geborgen und anschließend identifiziert.[59]
Dass der erste Thüringer Untersuchungsausschuss Menzel deshalb nicht sofort der uneidlichen Falschaussage überführt hat, mag daran gelegen haben, dass der Ausschuss zum Zeitpunkt der Einvernahme Menzels (noch) keine Kenntnis von dem Verlaufsprotokoll hatte. Zwischenzeitlich hat allerdings Wolfgang Schorlau die Diskrepanz zwischen Menzels Aussage und dem tatsächlichen Ablauf öffentlich gemacht und die daraus sich im Hinblick auf Menzel, der im Roman Stenzel heißt, ergebende Frage auf den Punkt gebracht: „Vorwissen? Täterwissen?“[60]
Laut Einsatzverlaufsbericht ist am 4.11.2011 noch eine zweite Heckler & Koch vom gleichen Modell gefunden und geborgen worden – und zwar in der Nasszelle des Campers, um 14:45 Uhr. Die anschließende Überprüfung ergab, dass es sich um die Dienstwaffe von Martin Arnold handelt. Sie wurde als einzige Waffe überhaupt bereits vor dem Abschleppen des Wohnmobils in Eisenach-Stregda geborgen. Dazu der Leiter der Tatortgruppe am 04.11.2011 in Stregda, Tilo Hoffmann, vor dem zweiten NSU-Ausschuss:Also, die Spurensicherung an sich hat ja erst in der Halle stattgefunden. Da schließe ich jetzt mal die Sicherung der Pistole aus der Nasszelle aus. […] Die Pistole aus der Nasszelle, die haben wir ja im Prinzip nur rausgeholt, weil es da wirklich wahrscheinlich gewesen wäre, dass sie verrutscht wäre.“[61]
Auch dazu hatte Menzel dem ersten NSU-Ausschuss im Dialog mit dessen Vorsitzender, damals ebenfalls schon Dorothea Marx, eine zumindest in Teilen falsche Aussage aufgetischt:
Vors. Abg. Marx: […] Dann ist meine nächste Frage noch einmal auf die Polizeiwaffen, die Heckler & Koch-Waffen im Wohnmobil und da waren ja zwei. Das eine ist das Foto, was ich Ihnen gezeigt habe, die Waffe, die dann später der Michèle Kiesewetter zugeordnet werden konnte, die auf dem Tisch lag. Und da ist aber dann ja auch noch eine zweite Polizeiwaffe im Wohnmobil gewesen, und zwar die Waffe des Kollegen von der Frau Kiesewetter, des Herrn Arnold. Und die lag ja relativ unbeschädigt und auch gut zu erkennen […] in der Nasszelle. Wann haben Sie denn diese Waffe gesehen, die hätte man doch wahrscheinlich sehr schnell identifizieren können, weil, die war nicht angeschmort und nicht mit verglühtem Material?
Herr Menzel: Ja, ich war nicht in der Nasszelle. Das ist ganz einfach die Erklärung.[…] Ich habe diese (die Waffe – G.M.) nicht gesehen, weil ich sie (die Tür der Nasszelle – G.M.) nicht geöffnet habe.“[62]
Die Tür sei überdies durch die Leichen blockiert gewesen, weshalb diese zweite Heckler & Koch in Stregda keinesfalls habe geborgen werden können:
Vors. Abg. Marx: Also hätte man da über die Toten hinwegsteigen müssen?
Herr Menzel: Nicht nur das, sondern man muss ja auch noch die Tür öffnen können und wenn ich mich richtig dran erinnere, lagen die Leichen vor diesem Öffnungsbereich der Tür, das hätte gegebenenfalls, ich sage es jetzt mal, auch einer Veränderung der Leichen bedurft.“[63]
Das bereits mehrfach erwähnte Foto der Auffindesituation von Mundlos zeigt allerdings, dass die Tür zur Nasszelle keineswegs geschlossen war, sondern im Gegenteil völlig offen stand und von Mundlos‘ linker Schulter quasi in dieser Stellung fixiert wurde. Lag der Vorsitzenden Marx dieses Foto bei Menzels Befragung (noch) nicht vor? Und falls ja: Warum ist der Widerspruch dann auch später nicht aufgefallen?
Zurück zum zweiten NSU-Ausschuss: Wie sind dort bisher die unvereinbaren Aussagen um die Heilbronner Dienstwaffen behandelt worden?
Ziemlich zu Beginn seiner erneuten Befragung flocht Menzel, dem inzwischen klar geworden sein dürfte, in welche Schwierigkeiten ihn seine offensichtlichen Falschaussagen vor dem ersten Untersuchungsausschuss bringen könnten, beiläufig eine Bemerkung ein: „Aber wenn ich mich erinnere, ist das LKA Baden-Württemberg, mit dem ich die Absprache am 04.11. unmittelbar nach Identifizierung der Waffe Arnold – war es glaube ich, ich hatte damals, glaube ich, gesagt Kiesewetter, aber es war Arnold wohl – hatte ich die angerufen und hatte ihnen den Informationsstand gegeben, den ich hatte.“[64]
Aus dem Ausschuss keine Nachfrage dazu an Menzel.
Später im Ausschuss dann noch dieses:
Abg. Henke: Und wie wurde die Waffe Kiesewetter identifiziert?
Herr Menzel: Die Identifizierung der Waffe Kiesewetter ist nach meinem Gedächtnisstand am 04.11. in den späten Abendstunden gewesen.
Abg. Henke: Gut, vielen Dank.“[65]
Der Abgeordnete Jörg Henke hatte nicht an der Arbeit des ersten Thüringer Ausschusses teilgenommen und demzufolge wohl keine Kenntnis von Menzels völlig anders lautende Äußerungen am 31.03.2014. Anders jedoch Katharina König, die laut Sitzungsprotokoll bei Menzels erster Ausschusseinvernahme anwesend war.[66] Sie hakte bei dessen zweiter Einvernahme am 28.04.2016, auch da weist das Protokoll ihre Anwesenheit aus[67], nicht nur nicht nach, sondern stellte Menzel statt dessen zwei Tage später auf FSK 93,0 quasi einen Persilschein aus: „Ich glaube, wenn Herr Menzel da ’n Stück weit von, ich nenn’s jetzt mal verletzte Eitelkeit oder auch generell verletzte Persönlichkeit, wenn er das ’n bisschen lassen könnte und an zwei, drei Stellen einfach sagen könnte, das mag aus heutiger Perspektive ’n Fehler sein, aus damaliger Sicht war’s die richtige Entscheidung, dann wär‘ das alles überhaupt keine […] Frage mehr.“[68]
Und auch die Ausschussvorsitzende Marx war am 31.03.2014 anwesend, Hat aber bei der erneuten Einvernahme Menzels am 28.04.2016 ebenso wenig eingehakt wie König.
In der 16. Ausschusssitzung am 02.06.2016 wurden schließlich drei Polizisten aus Baden-Württemberg, die ab 05.11.2011 in Eisenach und Gotha im Einsatz waren, befragt – unter anderem zum Telefonat Menzels mit Heilbronn am Nachmittag des 04.11.2014: Alexander Rinderknecht, Tamara Hemme und Sabine Rieger.
Rinderknecht sagte aus:Am Abend des 04.11. – ich hatte in dieser Woche Urlaub – bin ich kontaktiert worden abends gegen 18.00 Uhr von meiner Dienststelle, die mir mitgeteilt hat, dass in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach die Dienstpistole von der Kollegin Kiesewetter aufgefunden worden sei. Ich bin dann im Anschluss zur Dienststelle gefahren und wurde dort von meinem Abteilungsleiter so kurz nach acht in den Sachverhalt eingewiesen. Dort war bekannt, dass ein Wohnmobil in Eisenach aufgefunden worden ist, das ausgebrannt war. In diesem Wohnmobil wurde bei der Durchsicht die Waffe der Kollegin Kiesewetter aufgefunden.“[69]
Der Zeuge wurde anschließend von der Ausschussvorsitzenden Marx befragt: „Jetzt haben Sie gesagt, dass am Nachmittag des Freitag, gegen 16.00 Uhr, schon in Baden-Württemberg die Meldung aufgeschlagen sei, dass die Dienstwaffe von der Frau Kiesewetter gefunden wurde. Nach unseren Unterlagen ist zuerst die Waffe von dem Kollegen Arnold identifiziert worden und die Waffe von Frau Kiesewetter dann erst im Laufe des Abends oder späteren Nachmittags. Kann es sein, dass Sie sich da irren, oder sind Sie ganz sicher, dass es die Waffe von Kiesewetter war, oder dass man gesagt hat, eine Waffe, die im Fall Kiesewetter zur Fahndung ausgeschrieben ist?“[70]
Der Zeuge relativierte daraufhin seine Aussage: „Nein, es kann durchaus sein, dass ich mich irre. Also in meinem Gedächtnis war, dass zunächst die Waffe von der Kollegin Kiesewetter aufgefunden wurde. Aber wenn Sie mir das jetzt so vorhalten, möchte ich mich jetzt da nicht zu 100 Prozent festlegen. Aber auch das lässt sich anhand der Unterlagen nachweisen.“[71]
Nach Rinderknecht gab die Zeugin Hemme zu Protokoll: „Ich bin in der Nacht vom 04. auf den 05.11. von Stuttgart nach Gotha gefahren, nachdem wir die Nachricht gekriegt haben, dass dort eine Waffe von der Michèle Kiesewetter in dem Wohnmobil gefunden wurde […].“[72]
Auch diese Zeugin wurde von Marx befragt: „Ja, nach unseren Unterlagen und bisherigen Aussagen anderer, ist die Dienstwaffe von Frau Kiesewetter diejenige, die erst abends identifiziert worden ist, an dem Freitag. Die erste, die identifiziert worden war, ist die Waffe von ihrem Kollegen Arnold gewesen. Sie haben das jetzt wieder andersherum erzählt. […] Ja. Könnte es sein, dass man mitgeteilt haben könnte, man hat eine Waffe gefunden, die also im Rahmen der Tötung von Michèle Kiesewetter zur Fahndung ausgeschrieben ist? Also es ist definitiv wohl die Waffe von Herrn Arnold gewesen, die zuerst identifiziert wurde.“[73]
Auch diese Zeugin relativierte daraufhin ihre Aussage: „Gut, es waren alle Ausrüstungsgegenstände, die Individualnummern trugen, ausgeschrieben zur Sachfahndung. Explizit müsste es eigentlich in unserem Protokoll drinstehen. Ich meine eigentlich, dass die von der Michèle zuerst … Aber vielleicht ist es tatsächlich so, dass es so geschrieben war: ‚[…] im Rahmen der Sachfahndung wurde […]‘.“[74]
Es folgte die Aussage der Zeugin Rieger: „Und ich habe […] die Information, einen Vermerk (Hervorhebung – G.M.) vom Herrn Rittenauer – das ist der Leiter von der Kripo in Heilbronn –, der den Anruf bekommen hat, mit dem Herrn Menzel telefoniert hat, […]. Und da steht drin, die Waffe der Michèle Kiesewetter – also definitiv.“[75]
Marx befragt wiederum:
Vors. Abg. Marx: ‚Ihre Aktenlage ist: Rittenauer bekommt einen Anruf von Herrn Menzel.‘
Frau Rieger: ‚Genau.‘
Vors. Abg. Marx: ‚Die Waffe von Michèle Kiesewetter ist gefunden.‘
Frau Rieger: ‚Genau.‘
Vors. Abg. Marx: ‚Und das ist auch wirklich die Waffe von Michèle Kiesewetter und nicht etwa eine Waffe im Zusammenhang mit dem …‘
Frau Rieger: ‚Es ist eindeutig geschrieben.‘“[76]
Die Zeugin Rieger relativiert also nicht, weil der Vorgang protokolliert ist.
Das bestätigt sich, als Katharina König ansetzt:
Abg. König: ‚Okay, dann noch mal eine Nachfrage zu den Waffenfunden: Die Erstinformation, dass eine Waffe Kiesewetter gefunden wurde, kommt telefonisch ohne Waffennummer?‘
Frau Rieger: ‚Bevor ich etwas Falsches sage, müssen wir echt diesen Aktenvermerk – ‚Eingang der Meldung‘, so heißt das – anfordern […]. Aber, wie gesagt, Michèle Kiesewetter stand da und das – ich meine sogar, da stand drin: ‚aufgrund der Waffennummer‘.‘“[77]
Da bleibt König nur noch – gerichtet an Rieger – festzustellen: „Wir hatten mehrere Zeugen, die immer davon gesprochen haben, die Waffe Kiesewetter sei als erstes gefunden worden. Anhand unserer Aktenlage, die in Thüringen angefertigt wurde, wird allerdings die Waffe Arnold zuerst gefunden und auch zuerst identifiziert. Und 23.11 Uhr wird erst die Waffe Kiesewetter gefunden. Das ist sozusagen so eine irritierende Frage hier in Thüringen[78], was ist denn nun zuerst gefunden worden. Und jetzt sind Sie die Ersten, die sagen, wir haben dazu Vermerke – die unseren Akten in Thüringen widersprechen. Insofern wäre es interessant, die Akten dann auch hier …“[79]
Ja was? Zur Kenntnis zu nehmen? Dem ist – und schon gar nach diesen wiederholten Versuchen, den Erinnerungen der Baden-Württemberger Polizisten eine andere Richtung zu geben, schwerlich zu widersprechen. Und dann kommt vielleicht doch noch der Moment, wo im jetzigen Thüringer NSU-Ausschuss Menzel die Frage gestellt wird, woher er bereits am Nachmittag des 04.11.2011 gewusst hat, dass sich am Tatort Camper die Kiesewetter-Waffe befand. Das wäre dann ein geeigneter Auftakt, auf mögliche weitere Vertuschungssachverhalte (wie etwa die unterlassene Leichenschau) mit wirklicher Aufklärungsabsicht zurückzukommen …

*

„Wie viel Staat steckt im NSU?“ Zur Beantwortung dieser Frage haben die beiden Thüringer Untersuchungsausschüsse bisher allenfalls Bruchstückhaftes beigetragen, das kein einigermaßen klar konturiertes Bild ergibt. Im Falle der Katharina König kann sich die Autorin überdies des Eindrucks nicht erwehren, dass unter dem Motto „Verschwörungstheorien abwehren“ eine recht selektive Wahrnehmung und Interpretation von Fakten, Erklärungen, Zusammenhängen und Indizien stattfindet. Der Auftritt im Grünen Salon der Volksbühne in Berlin hat diesen Eindruck nicht gemindert.

*

Bei Wolfgang Schorlau antwortet der frühere Chef des fiktiven Privatermittlers Dengler beim BKA auf die Frage „Welche Geschichte wird uns mit dem Ableben der beiden Neonazis erzählt?“: „Schwer zu sagen. Vermutlich wurde ein Schlussstrich gezogen. Plötzlich wird eine der größten Mordserien in der Geschichte der Bundesrepublik zu Ende ermittelt, die Morde an den türkischen Geschäftsleuten werden aufgeklärt, der mysteriöse Mord an der Polizistin Kiesewetter, der Nagelbombenanschlag in Köln, ein weiterer Anschlag, einige Banküberfälle und vielleicht noch ei­niges anderes. Ein Sammelsurium, könnte man sagen. Es ist eine Schlussstrichgeschichte. Wir haben die Täter, ein Terror-Trio, die das allein zu verantworten haben. Zwei sind tot, der dritten Per­son wird der Prozess gemacht. Danach, nach dem Urteil in Mün­chen, können wir alle wieder zur Tagesordnung übergehen, und niemand soll mehr fragen, was die Dienste damit eigentlich zu tun haben.“[80] (Die schützende Hand, S. 189) Und: „Schauen Sie mal nach Thüringen, Dengler. Dort wurde die Suppe angerührt.“[81]
Wo stände die Bundesrepublik, wenn Schorlau in die richtige Richtung wiese?
Entsprechende Befürchtungen kann man zumindest mit einer Herangehensweise, wie sie in den Thüringer NSU-Ausschüssen bisher an den Tag gelegt worden sind, nicht widerlegen und schon gar nicht aus der Welt schaffen.

[1]http://www.thueringer-landtag.de/landtag/gremien-und-rechtsgrundlagen/sonstige-gremien/untersuchungsausschuss_6_1/; aufgerufen am 07.07.2016.

[2] – Die Autorin dankt Alexej Stoljarow (Mollstr. 15, 10178 Berlin; mobil: 0171-7973273; E-Mail: astoljar@t-oinlinme.de), der einen offiziellen Tonmitschnitt der Veranstaltung angefertigt hat und diesen kurzfristig zur Verfügung stellte; Bei nachfolgenden Zitaten als Tonmitschnitt Grüner Salon bezeichnet.

[3] – Diese offizielle BKA-Version hat auch Eingang in die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft für den Münchner NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe gefunden: „Uwe Mundlos erschoss […] Uwe Böhnhardt […] und legte in dem Wohnmobil Feuer, bevor er sich selbst […] erschoss.“ (Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Anklageschrift v. 5. November 2012, 2 BJs 162/11-2, S. 214.)

[4] – Vgl.: Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 15. Sitzung am 28. April 2016: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 15), S. 24 f.

[5] – Diese Angabe machte Menzel selbst – im ersten Thüringer NSA-Ausschuss; vgl.: Thüringer Landtag, 9. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 60. Sitzung am 31. März 2014: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 5-1, 60), S. 119.

[6] – Vgl.: Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9 (Sachbearbeitung durch Möckel, KHM): Einsatzverlaufsbericht (im folgenden: EVB), S. 2.

[7] – Vgl.: ebenda, S. 1.

[8] – Im Camper war auch eine Handgranatenattrappe gefunden worden; vgl. UA 6-1, 15, S. 76.

[9] – Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 5. Sitzung am 27. August 2015: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 5), S. 228 f.

[10] – FSK 93,0: Ein Prozess – Ein Land – Keine GesellschaftViel NSU, 30.04.2016, Interview mit Katharina König; http://www.freie-radios.net/76977; Aufruf und Download am 09.05.2016 (im Folgenden: FSK 93,0_1); ab Minute 00:11. – An anderer Stelle, auf dem Podium im Grünen Salon, wies König eine Einlassung Siekers, sie vertrete die Linie des BKA, allerdings heftig von sich: „Und dann zu unterstellen, dass ich BKA-Linie verfolgen würde, weil ich ‘n Jahr lang mir alles angeschaut habe, weil ich alle möglichen Zeugen befragt habe […], weil ich die Akten gelesen hab‘, weil ich die zum Teil aus‘m Effeff wiederhergeben kann, weil ich mir jedes Bild angeschaut habe, weil ich mir die Spheron-Aufnahmen im Detail angeschaut hab‘ – das muss man sich vorstellen wie Counterstrike sozusagen, wo man reinzoomen kann, ins Gehirn, ich weiß nur nicht, von wem’s ist, ob Mundlos oder Böhnhardt […].“(Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 42:00.)

[11] – FSK 93,0_1, ab Minute 00:11.

[12] – Ebenda. – Drei Monate zuvor hatte König, ebenfalls gegenüber FSK 93,0, auf die Frage nach dem Stand der Ausschussarbeit Gegenteiliges geäußert: „Wir sind immer noch mit dem 4. November 2011 beschäftigt. […], dass im Wohnmobil keine, ja kein Gerichtsmediziner, kein Notarzt, niemand sozusagen drin ist, der rein formal den Tod der beiden feststellt […].“ (FSK 93,0: Ein Prozess – Ein Land – Keine GesellschaftViel NSU, 19.12.2015, Interview mit Katharina König; http://www.freie-radios.net/74294 – im Folgenden: FSK 93,0_2 –, Aufruf und Download am 17.08.2016, ab Minute 17:23)

[13] – FSK 93,0_1, ab Minute 00:11.

[14] – Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 8. Sitzung am 3. Dezember 2015: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 8), S. 102.

[15] – ebenda, S. 90.

[16] – Menzel sagte zunächst aus, dass er die Gerichtsmediziner herbeizitiert habe (vgl.: UA 6-1, 15, S. 20), meinte aber kurz darauf, es könne auch sein Kollege Lotz gewesen sein (vgl.: ebenda, S. 25).

[17] – UA 6-1, 5, S. 362.

[18] – Ebenda.

[19] – Vgl.: UA 6-1, 15, S. 11.

[20] – UA 6-1, 5, S. 321.

[21] – Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 12. Sitzung am 3. März 2016: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 12), S. 98.

[22] – Vgl.: Thüringer Bestattungsgesetz (ThürBestG). Vom 19. Mai 2004
(http://landesrecht.thueringen.de/jportal/?quelle=jlink&query=BestattG+TH&psml=bsthueprod.psml&max=true  – aufgerufen am 17.08.2016).

[23] – Vgl.: UA 6-1, 8, S. 101.

[24] – Vgl.: Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand, Köln 2015, S. 370.

[25]ThürBestG, § 5.1.

[26]ebenda, § 6.1.

[27] – UA 6-1, 15, S. 60.

[28] – Ebenda.

[29] – Ebenda.

[30] – Vgl.: Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1380-014717-11/8: Sterbefallanzeige – Erfassungsbeleg, S. 4 (Mundlos) und Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1380-014715-11/0: Sterbefallanzeige – Erfassungsbeleg, S. 4 (Böhnhardt).

[31] – Vgl.: UA 6-1, 15, S. 43.

[32] – Vgl.: Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9 (Sachbearbeitung durch Möckel, KHM): Ermittlungsprotokoll (im Folgenden: Ermittlungsprotokoll), S. 2.

[33] – Der Zeuge gab an, um 8:00 Uhr mit seinem PKW, der am späteren Auffindeort des Campers geparkt war, eine Fahrt unternommen und bei Rückkehr zum genannten Zeitpunkt seinen Parkplatz durch einen weißen Camper besetzt vorgefunden zu haben. Er parkte sein Fahrzeug daher vor dem Camper ein. Außer der Unterschrift dieses Zeugen trägt die protokollierte Aussage u. a. noch die Unterschrift T. Meisel, Polizeikommissar und ist im Übrigen falsch datiert: auf den 03.11.11.

[34] – Vgl.: Ermittlungsprotokoll, S. 1.

[35] – Vgl.: Ebenda.

[36] – Angabe der Polizei – vgl.: Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9 (Sachbearbeitung durch Mayer, POK): Aktenvermerk, S. 1.

[37] – UA 6-1, 15, S. 147.

[38] – Universitätsklinikum Jena, Institut für Rechtsmedizin, Sektionstoxikologie – 7182-11-3: Mundlos, Uwe, S. 2.

[39] – Das Asservatenbuch zum Camper allein umfasst im Übrigen 1.500 Seiten, und darin sind alle Funde bis hin zu Tankstellenbons und ähnlichen Alltäglichkeiten minutiös dokumentiert.

[40] – Vgl.: Heidegard Hilbig: Geschlechtsunterschiede aus neurowissenschaftlicher Sicht (http://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/geschlechtsunterschiede-aus-neurowissenschaftlicher-sicht/4636 – aufgerufen am 17.08.2016).

[41] – UA 6-1, 12, S. 115.

[42] – UA 6-1, 8, S. 228 f.

[43] – Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 9. Sitzung am 14. Januar 2016: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 9), S. 98 ff. – Irritierenderweise bestritt König diese Aussage Nordgauers im Grünen Salon glatt, als sie erklärte, das Durchsuchen des Campers, das Asservieren und das Säubern des Wohnmobils habe „kein Schwabe gemacht, weil Sie (gerichtet an Sieker – G.M.) das ja vorhin so schwäbisch vorgetragen haben, das war […] einer der Leiter der Thüringer Tatortgruppen […].“ (Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 45:47.) Das wirft zumindest auf Königs ebenfalls im Grünen Salon vorgetragenes vollmundiges Eigenlob, “die Akten“, zu denen ja auch die Sitzungsprotokolle des zweiten Thüringer NSU-Ausschusses zählen, „aus’m Effeff wiedergeben“ zu können (vgl.: Zitat in Fußnote 9), zumindest den Hauch eines Zweifels.

[44] – Katharina König lieferte im Grünen Salon eine Erklärung für diese unprofessionelle Art der Spuren„sicherung“, die sie offenbar für hinreichend plausibel hält: „[…] am 4. November gehen sie (die Polizeikräfte im Camper – G.M.) von einer anderen Ermittlungslage aus, […] da wissen sie noch nicht mal, wer die beiden sind, und an diesem Tag machen sie die Tatortarbeit so, wie es ihnen sozusagen laut Lehrbuch oder laut sonstiger Vermittlung oder oder oder vermittelt worden ist.“ (Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 46:33.) – Gegenüber FSK 93,0 hatte König in Bezug auf die Identifizierung der Leichen allerdings von einem sehr frühen Zeitpunkt am 4.11. gesprochen: „[…] also […] 3:17 Uhr, glaub‘ ich, ist die Identifikation von Uwe Mundlos, und da, sag‘ ich jetzt mal, wenn Uwe Mundlos identifiziert ist, da kommt man relativ schnell dann darauf, dass Uwe Böhnhardt und Beate Tschäpe … mit da … logischerweise mit dazugehören.“ (FSK 93,0_1, ab Minute 09:28.) Demzufolge hätten die Ermittler also sehr wohl bereits vor Beginn der Spurensicherung in der Tautz-Halle gewusst, wen sie vor sich hatten. Trotz der gravierenden polizeilichen Fehler am 4. und 5.11.2011 erzählte König auf FSK 93,0, ein Mitglied der Tatortgruppe habe ihr gesagt: „So detailliert, wie diesen Tatort, wie dieses Wohnmobil haben wir selten einen Tatort aufgearbeitet […].“ Und König unterstrich dies ihrerseits: „Und das ist auch per Aktenlage, das ist schon Wahnsinn, also wie detailliert da gearbeitet wurde […].“(FSK 93,0_1, ab Minute 22:30.) – Wie man sich das praktisch vorzustellen hat, machte König wiederum im Grünen Salon deutlich: „[…] es wurden Geschossteile gefunden, nämlich vorne auf dem Sitz, also auf dem Fahrersitz im Wohnmobil. Die wurden allerdings erst im Dezember […] oder Januar, also Dezember […] zwei elf oder Januar zwei zwölf gefunden.“ (Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 33:11.) Also Spurenfunde im Camper, auf dem Fahrersitz? Ein bis zwei Monate, nachdem das Wohnmobil (am 05.11.2011) „besenrein“ gemacht worden war?

[45] – Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 34:50.

[46] – Ebenda.

[47] – ebenda, ab Minute 52:40.

[48] – FSK 93,0_2, ab Minute 19:14.

[49] – UA 6-1, 12, S. 114 f.

[50] – FSK 93,0_1, ab Minute 23:00.

[51] – Vgl.: Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 1:01:20.

[52] – UA 6-1, 12, S. 8.

[53] – Vgl.: http://www.remed.uniklinikum-jena.de/Arbeitsbereiche+und+Dienstleistungen/Forensische+Medizin/Todeszeitbestimmung.html – aufgerufen am 17.08.2016.

[54] – Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 1:02:08.

[55] – Tonmitschnitt Grüner Salon, ab Minute 1:04:35.

[56] – UA 5-1, 60, S. 8 f.

[57] – Vgl.: ebenda, S. 104.

[58] – UA 6-1, 9, S. 98

[59] – Vgl.: EVB, S. 2.

[60] – Wolfgang Schorlau, a.a.O., S. 358.

[61] – UA 6-1, 15, S. 179.

[62] – UA 5-1, 60, S. 101 f.

[63] – ebenda, S. 104.

[64] – UA 6-1, 15, S. 34 f.

[65] – ebenda, S. 117.

[66] – Vgl.: UA 5-1, 60, S. 3.

[67] – Vgl.: UA 6-1, 15, S. 3.

[68] – FSK 93,0_1, ab Minute 21:10.

[69] – Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 16. Sitzung am 2. Juni 2016: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 16), S. 7.

[70] – ebenda, S. 13

[71] – Ebenda.

[72] – ebenda, S. 60.

[73] – ebenda, S. 64 f.

[74] – ebenda, S. 65.

[75] – ebenda, S. 91.

[76] – ebenda, S. 92.

[77] – ebenda, S. 114 f.

[78] – Dieser Thüringer Ausschuss-Eiertanz um die Auffindezeiten der Heilbronner Polizistenwaffen ist umso befremdlicher, weil der polizeiliche Einsatzverlaufsbericht zum 04.11.2011 dazu von Anfang an ebenso eindeutige wie präzise Angaben machte: Waffe Arnold – Auffindung: 14:45 Uhr, Identifizierung: 16:20 Uhr; Waffe Kiesewetter – Auffindung: 23:11 Uhr, Identifizierung: keine gesonderte Angabe; vgl.: EVB, S. 1 u. 2.

[79] – UA 6-1, 16, S. 116.

[80] – Wolfgang Schorlau, a.a.O., S. 189.

[81] – Ebenda.