19. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2016

Überlingen

von Renate Hoffmann

Freundliche, sympathische Stadt. Am Meer gelegen. Am großen Binnenmeer – dem Bodensee. An einem seiner westlichen Zipfel mit eigenem Namen: Überlinger See. – Sie atmet Historie und die lässt sich weit zurückverfolgen. Urkundlich bis ins Jahr 770. Doch eine Besiedelung datiert man, nach Funden, bereits in die Zeit um 4200 v.Chr. (kein Wunder in dieser schönen Umgebung). Friedrich I. Barbarossa und Kaiser Karl V. wirkten wohlwollend an der Stadtgeschichte mit.
Einstens Freie Reichsstadt von großem Einfluss auf Wandel und den Handel mit Getreide und Wein. Das Exportgeschäft florierte. Die Finanzlage gestaltete sich äußerst günstig. – Nunmehr Große Kreisstadt. Umgeben von Resten mittelalterlicher Schutz- und Trutzbauten (man hatte Privilegien zu verteidigen!). Aufgrund bester Rundum-Bedingungen wurde sie 1955 zum „Kneippheilbad“ erhoben. Angesichts der gepflegten Seepromenade, der Schlenderwege im artenreichen Stadtgarten und der Aussicht auf warmes Thermalwasser in der „Bodensee-Therme“, könnte man zum Kneippianer werden.
Was aber darüber hinaus für Überlingen einnimmt, ist die Mitgliedschaft in einer Bewegung zur Entschleunigung und Erhöhung der Lebensqualität in Städten („Cittaslow“). – Sollte es bei Gesprächen mit älteren Überlingern Verständigungsschwierigkeiten geben, so suche man die Ursache in ihrer „bodenseealemannischen“ Aussprache.
Den Stadtgang bestimmt das Münster St. Nikolaus. Sein Turm überragt schmale Gassen, schmuckvolle Bürgerhäuser, die den ehemaligen Reichtum verraten, Tore, das betagte Rathaus. In der Münsterstraße gehe ich auf einem würdigen Fußsteig, bestehend aus trittfesten Platten, die „der Großherzoglich badische Bezirksarzt Medizinalrat Eduard Würth auf eigene, erhebliche Kosten verlegen ließ. Er schuf damit im Winter 1904/05 für sich selbst einen festen Heimweg von seinem Stammlokal zu seinem Haus […] und für die Bürgerschaft ein Trottoir, das heute noch seinen Stifter lobt.“ Wohl gesprochen.
Im Münster voller Pracht und Macht überstrahlt der Hochaltar die übrigen Eindrücke spätgotischer Baukunst. Aus Lindenholz geschnitzt, lebendig, dramatisch. Mit zehn Metern Höhe ragt er weit in das Chorgewölbe hinauf und gestaltet, feierlich umrahmt von Engeln und Heiligen, das Marienleben. Schöpfer ist der „Bildhauer in Holz und Stein“ Jörg Zürn (um 1583 bis zwischen 1635 und 1638). Er und seine Werkstatt vollbrachten dieses Wunderwerk.
Wie ein Bürge für Bildung und soziales Engagement steht neben St. Nikolaus die Büste eines wohlmeinend blickenden Mannes. „Stadtpfarrer und Decan“. Seine Verdienste um Überlingen sind unbestritten. Aus der Beschriftung geht es hervor: „Dem Freunde des Volkes, dem Stifter des Schulfonds und der Bibliothek Franz Sales Wocheler (1778-1848). Die dankbare Stadt und seine Verehrer.“ Wochelers Sinnspruch: „Seid immer frohen Muthes!“ erhält meine Zustimmung.
Als ich nach Besonderheiten der freundlichen, sympathischen und – wie sich nun herausstellte – auch dankbaren Stadt fragte, verwies man mich an das „Städtische Museum“. Das stattliche Gebäude steht auf dem höchsten Hügel der Altstadt. Eigentlich ist es ein Palast, der sich in Großzügigkeit, Klarheit und den Anklängen italienischer Renaissance kaum überbieten lässt.
Vom Bauherrn, dem hochgeachteten, gelehrten, vielgereisten Arzt und Humanisten Dr. Andreas Reichlin von Meldegg (1402-1477) im Jahr 1462 errichtet. Für Gastlichkeit und Ansehen der Familie spricht der Besuch des Habsburgers Kaisers Friedrich III., der 1485 im Hause Einkehr hielt. Nach baulichen Veränderungen und Besitzerwechseln durch die Jahrhunderte zogen im Mai 1913 die „Städtischen Sammlungen“ ein.
Das Angebot der rund 30 Ausstellungsräume mit großem und kleinem Festsaal, der Kapelle St. Luzius und dem Terrassengarten taugt für einen Viertagebesuch. Kurzfassung: Geschichte und Kultur Überlingens und der Bodenseeregion, Kunstwerke von Gotik bis Biedermeier; Sonderausstellungen. Und 55 Puppenstuben als Deutschlands größte Sammlung dieser Art.
Während ich durch die Etagen wandere, zieht im großen barocken Festsaal eine Hochzeitsgesellschaft ein. Unter Trompetengeschmetter. Der lichte Raum mit üppigen Stuckaturen und umlaufender Galerie stimmt festlich. Noch dazu, wo die Glocken von St. Nikolaus zu läuten beginnen. War das bestellt?
Ich begegne den Honoratioren der Stadt, unter ihnen auch dem bildungsbeflissenen, der Aufklärung verbundenen F.S. Wocheler, und ergänze seinen Sinnspruch vom Denkmal durch einen zweiten: „Bessere Zeiten müssen durch bessere Menschen, bessere Menschen durch bessere Erziehung geschaffen werden.“ – Die Bildhauerfamilie Zürn und der herausragende Künstler des Rokoko Joseph Anton Feuchtmayer (1696-1770) sind mit Werken vertreten. Feuchtmayers Heiliger Christophorus zeigt so viel Körperschwung, dass man befürchtet, der kleine Jesus rutscht ihm gleich von der Schulter. Raritäten aus den Naturwissenschaften überraschen. Im Herbarium des Apothekers Hans Jakob Han von 1594 hätte ich gern geblättert.
Es fehlt nicht das Stadtmodell. Das Stadtleben jedoch spiegelt sich in der sogenannten Profanen Krippe von 1760. Hier quirlt alles durcheinander: Post- und Personenverkehr, die Militärkapelle spielt auf; dazwischen bewegt sich ein Prozessionszug. Fahnenschwenkende Soldaten und ein Trupp friedlicher schwarzer Krieger. Kamele und allerhand Kleingetier, worunter sich auch ein Elefantenschwein (seltener Mischling) tummelt. Die Bäckerin bietet frische Brötchen an. Im Hintergrund steht die Krippe von Bethlehem, die heiligen drei Könige sind soeben im Anmarsch. Es erstaunt, dass kein Lärm entsteht.
An den Puppenstuben führt kein Weg vorbei. Zeitgeist, gute Handwerkskunst, Fantasie und Freude am Detail wirken zusammen, den Kindern zum Vergnügen – den Erwachsenen auch. Es ist, als ginge man durch eine ungewöhnliche Stadt und dürfe ungebeten in jedes Fenster schauen. Ins „Raritätengeschäft“, in die Wohn- und Schlafzimmer, Kaufmannsläden, den Musiksalon und die Küchen mit gediegener Ausstattung – wo eine Maus über den Fußboden läuft und „Berthas Kinderkochbüchlein“ aufgeschlagen liegt (zum Nachkochen von „Hagebuttenmark-Suppe“). Und ins Haus mit dem hübschen Garten, in dem der Liegestuhl zum Gebrauch einlädt – wenn es nicht regnet …
Der Museumsgarten liegt in voller Sonne und ist ein „Lustgarten“. Er gewährt den schönsten Blick über Stadt und See und zu den fernen Bergen. Schmucklilien stehen in voller Blüte, die alten Kastanienbäume spenden Schatten. Heitere Hochzeitsmusik ertönt. Und über den Tag breitet sich satter Sommer.