19. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2016

Hinaus aufs Land

von Renate Hoffmann 

Auf dem Lande leben – Traum durch die Zeiten. Ob in einer Villa rustica inmitten eines ausgedehnten Parkes oder in einem Sommerhaus mit nichts als Natur drum herum oder in einer Laube, unweit vom Stadtrand mit Hühnern, zwei Ziegen und Gemüsebeeten. – Blicke in die Literaturszene geben Kunde von einem starken Drang des Menschen, sein angestammtes, trautes Heim zu verlassen und sich zeitweilig oder auf Dauer im Grünen anzusiedeln. – Erfreulicherweise suchte, sammelte und bündelte German Neundorfer diese Eindrücke und brachte sie in der Fischer TaschenBibliothek heraus.
Vor dem Landleben steht das Verreisen; eingeleitet von Kurt Tucholsky (1890–1935) und seinen Maßgaben für „Die Kunst, falsch zu reisen“. Denn auch das will gelernt sein. Man verlange von der Gegend, in die man sich zurückziehen möchte, ALLES. Tucholskys bekannte Zusammenfassung lautet: „ – also: vorn die Ostsee und hinten die Leipziger Straße. Ist das nicht vorhanden, dann schimpfe.“ Erleichtert stellt man fest, dass auf die bissigen Zeilen am Ende ein ermunterndes Wort über „Die Kunst, richtig zu reisen“ fällt. Denn, so plädiert Tucho: „Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an. […] Und laß dich im einzelnen von der bunten Stunde treiben.“
Herr Friedrich Nietzsche (1844–1900) dagegen verhält sich anders. Wenn er verreist, dann geschieht es mit einem straffen Plan: „Das Nibelungenlied. […] Am besten frühmorgens zu lesen im Freien. […] Persius und Juvenal. Wesentlich vom ästhetischen Standpunkt aus. […] Vielleicht am besten von neun bis zwölf zu lesen, um nach der Nibelungenlektüre eine scharfe Abwechslung zu haben. Danach Novum Testamentum. Jesus als Volksredner zu betrachten. Dazu die Evangelien durchlesen. […] Einige Nächte sind zum Komponieren zu verwenden.“ Bliebe er nicht besser zu Hause? („Was ich mir für die Ferien vornehme“)
Franz Kafka (1883–1924) schildert in düsteren Farben eine Reise durch Regenschauer und Morast und Finsternis. („Die Fahrt aufs Land“) – Während Paula Modersohn-Becker (1876–1907) die Worpsweder Landschaft mit den Augen einer Malerin aufnimmt und in einem Brief beschreibt: „Da kamen die blanken Kanäle, in denen der Himmel blau wiederlachte, mit den schwarzen Torfschiffen, die lautlos dahinglitten. Und schließlich kam die braune Heide mit fröhlichen, blitzenden Birken dazwischen, ein sonderbar Gemisch von Schwermut und Leichtsinn.“ Beim Lesen stellen sich Paulas Gemälde „Moorgraben“ und „Worpsweder Landschaft“ ein. („Worpswede“)
Johann Heinrich Merck (1741–1791), Naturforscher, Herausgeber, Essayist und Freund Goethes, wägt ab, was er bevorzugen soll: Stadt oder Land? Er habe sehr wohl das Gefühl für die Natur, „es schlief aber und ward nicht entwickelt.“ Ihn begeisterten einstens die Ferien auf dem Land, weil sie ihm jegliche Freiheit boten und die Enge der Stadt vergessen ließen. Doch am Ende trugen Vergil, Horaz, Cicero und die Universitäten den Sieg davon. („Landleben – oder doch lieber die Stadt?“)
Mit „Gespräche in Pfeiffering“ wird ein Kapitel aus „Doktor Faustus“ von Thomas Mann (1875–1955) eröffnet. Auf einer Radtour halten „der deutsche Tondichter“ Adrian Leverkühn und Jürgen Schildknapp, der Übersetzer, Einkehr im alten Bauernhof der Familie Schweigestill. Else, gestandene, lebenskluge Frau des Hauses, spricht schweifend über ihre Pensionsgäste und deren Lebensstationen. – Man taucht ein in des Romanciers  wunderbare Erzählwelt.
Von Leo Tolstoi (1828–1910), dem besten Kenner des Landlebens, seiner Vorzüge, seiner Nachteile, wählte der Herausgeber eine Episode aus „Anna Karenina“. Die Stiefbrüder Sergej Iwanowitsch Kosnyschew, ein bekannter Schriftsteller, und der Gutsherr Konstantin Lewin treffen sich auf dem Lande. Dabei begegnen sich zwei Meinungen, wie sie nicht unterschiedlicher hätten sein können. Der Geistesarbeiter Sergej Iwanowitsch erwartet von diesem Aufenthalt „Erholung von der Arbeit“ und „der städtischen Verderbtheit“. Für ihn ist es der Ort des „Müßiggangs“. Konstantin Lewin hingegen liebt „das platte Land“, weil es ihm die Möglichkeit bietet, „für eine unzweifelhaft nützliche Arbeit“. Jedem das Seine. („Soll man das Landleben lieben?“)
Was wäre das Reisen über Land ohne das Wetter? Obwohl stets vorhanden, genießt es in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung. Es soll dem Wunschdenken des Ausflüglers weitgehend entsprechen: Tagsüber Sonne bei 24 Grad Celsius, allenfalls Durchzüge einiger Cumulüsse, Regen falle anderswo. Nachts: Milde Temperaturen und Vollmond; das Kreuz des Südens auch im Norden sichtbar.
Der Wichtigkeit dieses atmosphärischen Zustandes eingedenk, äußern sich prominente Literaten zum Thema. Sogar Publius Vergilius Maro (70–19 v. Chr.) mischt sich ein. – Grillparzer und Stifter kommen wieder zu Wort, und man erfreut sich ihrer ruhigen, ehrfürchtigen Betrachtung der Natur.
Falls sich Unsicherheiten in der Beurteilung der Wetterlage einstellen sollten, so weiß Julius Stettenheim (1831–1916) Rat: „Zuverlässiger als der Laubfrosch ist der Regenschirm. Ist man ohne solchen ausgegangen, so ist ein plötzlicher Niederschlag zu erwarten, obschon es auch trocken bleiben kann, und hat man den Regenschirm mitgenommen, so bleibt es wahrscheinlich trocken, obschon es auch zu regnen anfangen kann.“ („Sommerwetter“)
Mit der Zartheit und Tiefe des Gedankens schreibt Virginia Woolf (1882–1941) von einer Sommernacht nach einem sehr heißen Tag. („Der Augenblick: Sommernacht“) Und Victor Aubertin (1870–1928) schildert als heiterer Betrachter den Ablauf eines Tages, den er auf dem Lande verbringt. („Ein Tag in der Sommerfrische“)
Über Erlebnisse und glückliche Momente fern der großen Städte und des Alltags berichten weitere Autorinnen und Autoren. – Empfehlung: Lesen, hinaus ziehen ins Freie und sich sein eigenes Bild schaffen.

German Neundorfer (Herausgeber): Der Traum vom Leben auf dem Land, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2016, 324 Seiten, 10,00 Euro.