19. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2016

Edouard Manet und das doppelte Sehen

von Klaus Hammer

1874 fand in Paris die erste Ausstellung der Impressionisten statt, und für die nächsten Jahrzehnte wurde der Impressionismus die beliebteste aller Kunstrichtungen. Einer der bedeutendsten Wegbereiter, obwohl er selbst nicht als Anführer oder Mitglied dieser Richtung gesehen werden wollte, einer der größten Neuerer der Malerei überhaupt war Edouard Manet, der zugleich bis heute einer der am wenigsten bekannten, vieldeutigsten Künstler geblieben ist. Außer seinen Bildern gibt es auch so gut wie keine Selbstzeugnisse von ihm. „Manet las wenig und schrieb nichts“, stellte sein Biograf Antonin Proust fest. Er war ein privilegierter Bürger, rief aber mit seinen farbintensiven, scheinbar skizzenhaften Bildern bis dahin beispiellose Skandale hervor.
War Manet ein Einzelgänger, hat er einen ganz eigenen Impressionismus geprägt oder ist er doch mit vielen Fäden mit den Künstlern des impressionistischen Umfeldes verbunden? Darüber ist viel geschrieben worden, auch Ausstellungen haben darauf Antwort zu geben versucht. Die Kunsthalle Hamburg geht einen Schritt weiter: Welche malerische Strategie verfolgt Manet, wenn er mit bisher unbekannter Direktheit ein spannungsvolles Verhältnis zwischen den Personen im Bild und dem Betrachter herzustellen sucht? Aus einer neuen Perspektive – der des Sehens und des Blickes in die Kunst Manets – wird das Werk dieses „Distanzimpressionisten“ von den Anfängen bis in die Spätzeit präsentiert. Aus ganz Europa und aus Übersee konnten Spitzenwerke zusammengetragen werden, „Der Balkon“ ist darunter, „Nana“ oder „Im Wintergarten“, dagegen musste auf manches andere – etwa „Das Frühstück im Freien“, „Die Bar in den Folies-Bergère“ oder „Olympia“ – verzichtet werden.
Manet, der bereits mit 51 Jahren starb, malte zwar in den 1870er Jahren auch „en plein air“, aber lieber war er der Maler-Flaneur, der tagsüber, aber auch nachts durch Paris streifte und erst im Atelier die Synthese aus der Fülle der Eindrücke zog: in den Tuilerien, auf der Pferderennbahn, vom Bahnhof Saint-Lazare, in seinen großen Paris-Panoramen. Doch im Sommer 1874 kam es in Argenteuil zu einer direkten Kooperation mit Monet und Renoir. Sicher haben die jüngeren Künstler nicht nur von ihm, sondern er auch von ihnen gelernt. Eine nahansichtige Porträtskizze Monets und seiner Frau Camille (aus der Stuttgarter Sammlung) hat Manet auf dessen schwankendem Atelierboot in stufenweiser Ausführung entworfen, während die viel programmatischere Fassung desselben Themas „Die Barke“ (ebenfalls 1874) vom gegenüberliegenden Steg gemalt wurde und mit dem Boot die ganze Monetsche Flusslandschaft einfängt. Aus dem Vergleich mit Monets Darstellungen seines Atelierbootes kann geschlossen werden, dass beide Künstler gleichermaßen mal der flüchtigen Impression, mal einer konstruktiv-dauerhaften Bildorganisation den Vorrang gaben. „Die Familie Monet im Garten von Argenteuil“ haben Manet und Renoir gleichzeitig gemalt, und Monet hat wiederum den im Freien malenden Manet in einem heute verschollenen Bild festgehalten. Von allen drei wird die Farbe nicht mehr kleinteilig tüpfelnd und strichelnd aufgetragen, sondern in größeren Farbflächen und mit langen Pinselzügen. Aber immer geht es um die Inszenierung des Augen-Blicks.
Im „Frühstück im Atelier“ (1868) nimmt das Stillleben erstaunlich viel Platz ein, in das drei Figuren – als Brustbild in Seitenansicht, als Kniestück und als Ganzfigur – eingefügt sind. Der Maler hat seine Menschen im „Lebenden Bild“ stilllebenhaft, wie die toten, reglosen Dinge eingefroren. Wie das stilllebenartige Arrangement zusammenhanglos erscheint, haben auch die Figuren keinerlei mimische Beziehungen zueinander. Ein undurchdringliches Schweigen, ein Verstummtsein liegt über ihnen. Wenn es sich bei dem nachdenklich blickenden jungen Mann im Vordergrund um den vor der Heirat mit Suzanne geborenen Sohn Léon handeln soll, zu dem sich Manet nie bekannt hat, ist hier auch ein Familienthema angeschlagen: Léon löst sich von der Familie und wird seine eigenen Wege gehen.
„Der Balkon“ (1868/69) – drei Figuren sind herausgetreten aus der nur spärlich beleuchteten Wohnung im Hintergrund ins Offene, sie blicken in verschiedene Richtungen. Aber nur die eine, Berthe Morisot, die Malfreundin, mit den sprechenden Augen, dem schön geschnittenen Gesicht, ihrer Auftrittskultur, scheint den Betrachter zu fesseln. Manet hat sie hart an das kaltgrüne Eisengeländer gerückt, auf dem ihr rechter Arm und die Hände mit dem zusammengefalteten Fächer ruhen. Ernst, versonnen blickt sie in eine Ferne. Der Maler betrachtet sie in achtungsvoller Distanz.
Immer wieder hat Manet Berthe Morisot gemalt, 14 Porträts im Verlauf von sechs Jahren geschaffen, in der einzelne, immer wieder andere Charakterzüge hervortreten. Ob verschleiert (1872), wobei der Blick unbestimmt bleibt, oder den Fächer auffaltend (1874), so dass er als Zeichen eines Abschieds als Modell gedeutet werden kann, wird hier ein vielfältiges Beziehungsgefüge zwischen Künstlerin und Künstler sichtbar.
Der gefeierte Opernsänger Jean Baptiste Faure, der selbst zahlreiche wichtige Werke des Künstlers erwarb, gab Manet ein Porträt in der Rolle des Hamlet in Auftrag. Das Hamburger Gemälde (1877) vergegenwärtigt den Geist von Hamlets Vater, den Manet noch vorher in einem Pastell schemenhaft dargestellt hatte, nur noch indirekt im Reflex der Haltung und der Augen des Schauspielers. Hamlets innere Erregung auf der flackernden Bildfläche teilt sich dem Betrachter nicht nur durch die Körperhaltung, sondern eben auch durch die malerische Textur, im fiebernden Stakkato der Pinselhiebe und -striche mit, die im Hintergrund des Zuschauerraums sein Echo findet.
„Im Wintergarten“ (1879) stellt ein ungleiches Paar inmitten eines Pflanzenarrangements dar. Sie hat die Künstlichkeit einer Schaufensterpuppe, er, hinter der Gartenbank stehend, neigt sich ihr zögerlich werbend zu, während sie an ihm vorbei ins Leere schaut. Tritt hier ein Mensch aus Fleisch und Blut neben eine Kunstfigur, eine „Eisheilige“? Im gleichen Ambiente hat Manet seine Frau Suzanne gemalt („Madame Manet im Wintergarten“, 1879). Die Sitzende ist jetzt dichter an den Maler herangerückt und die Pflanzen – durch Unschärfe – weiter abgerückt. Doch gerade sie sind es, die die Porträtierte und die Beziehung des Malers zu ihr genauer charakterisieren.
Das Verwunderung auslösende Bild „Nana“ (1877) der Hamburger Kunsthalle zeigt eine helle, zum Betrachter blickende, ihre Schminkprozedur gerade beendende junge Person in Korsage und Unterrock, sie bereitet einen Aufbruch in die Öffentlichkeit vor, keinen schwülen Séparée-Abend. Der ihr zuschauende Galan am rechten Bildrand – er wirkt wie ein „Angeschnittener“ – ist nur eine voyeuristische Assistenzfigur. Es ist nicht der Blick einer Frau, die sich bei ihrer Toilette überrascht fühlt, sondern sie stellt sich selbstbewusst – den Betrachter frei anblickend – zur Schau, und zwar in dreifacher Weise: dem Betrachter des Bildes, dem „angeschnittenen“ Herrn und im Spiegel.
Die schonungslos geschilderten Details von Langeweile und Sinnlosigkeit, aus denen das Leben Emma Bovarys besteht, der Titelfigur in dem berühmten Roman Gustave Flauberts, entsprechen dem Gedankenwirrwarr hinter dem ausdruckslosen Gesicht des Mädchens in Manets Ölskizze zur „Bar in den Folies-Bergère“ (1881), die anstelle der in London befindlichen Endfassung (1882) gezeigt wird. Ein Stillleben in Manets letzter Entschiedenheit hat man diese blonde Schöne bezeichnet, die, den Blick nach vorn gerichtet, hinter der Marmorplatte einer Bar aufragt, im Hintergrund an der Wand ein großer Spiegel, der das Publikum der Bar, Tanz und Gewimmel, Lärm und Lichterspiel widerspiegelt. Skizze und Gemälde zeigen zwei unterschiedliche Typen von Barmädchen. In der Skizze hat sich die Frau hinter der Theke leicht einem Herrn im Spiegel zugewandt, mit dem sich der Bildbetrachter identifizieren und so in unmittelbaren Dialog mit ihr treten kann. Der Spiegel erzählt also keine Geschichte, seine Verkippung räumt das Wirkliche aus. Das ist Manets letztes Geschenk an die Welt.

Manet – Sehen. Der Blick der Moderne. Hamburger Kunsthalle, bis 4. September. Katalog (Michael Imhof Verlag Petersberg) 29,95 Euro.