19. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Juli 2016

Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde

von Mario Keßler

Der Begriff der Volksgemeinschaft ist keine Erfindung der Nazis. Womöglich benutzte ihn zum ersten Mal 1887 der Soziologe Ferdinand Tönnies – alles andere als ein Parteigänger der Nazis, die den alten Professor vielmehr im „Dritten Reich“ ausgrenzten. Ideologisch aufgeladen wurde der Terminus zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als Kaiser Wilhelm II. keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kennen wollte. Die völkische Rechte und besonders die NSDAP benutzte das Wort als Schlüsselbegriff der Propaganda sowohl im ideologischen Kampf um die Revision der Kriegsergebnisse als auch in der Hetze gegen den angeblich „fremdvölkischen Bolschewismus“. Vor allem aber wurde nun der Begriff der Volksgemeinschaft antisemitisch konnotiert: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“, hieß es im Punkt Vier des Programms der NSDAP von 1920 (Hervorhebungen im Originaltext – M.K.). Mit der „Machtergreifung“ Hitlers wurde dies zur grausamen Wirklichkeit.
Das Buch von Peter Schyga setzt 1933 ein. Die Vorgeschichte blendet er leider weitgehend aus, und die ideologiekritischen Eingangspassagen mit langen, jedoch kaum miteinander verbundenen Zitaten von Hannah Arendt bis Hans-Ulrich Wehler lassen Fragen nach den Gründen der Verbreitung des Slogans offen. Schygas Ansatz ist jedoch, wie er betont, kein rein ideologiekritischer, sondern ein historisch-materialistischer, und der Hauptteil des Buches, der den Begriff der Volksgemeinschaft in die politischen Zusammenhänge des Naziregimes einordnet, liest sich weit überzeugender.
Das Schlagwort von der Volksgemeinschaft solle vor allem die Klassengegensätze einer auf Kriegswirtschaft getrimmten kapitalistischen Ordnung verdecken, betont Schyga. Die Arbeiter, 1933 aller gewerkschaftlichen Rechte beraubt, sollten nicht nur mit dem Versprechen auf Beseitigung der Arbeitslosigkeit ruhig gestellt werden. Ebenso sollte ihr noch vorhandenes Klassenbewusstsein in Richtung hin zum volksgemeinschaftlichen Denken pervertiert werden. Noch der ökonomisch am unteren Ende der Lohnskala stehende Arbeiter solle sich als Teil einer höherstehenden Elite fühlen, indem er auf Gemeinschaftsfremde und auf rassisch Minderwertige herabblicken könne. Dem entsprach auch das Schlagwort vom „Arbeitertum“ statt dem Proletariat, als dessen Propagandist der Renegat August Winnig im Buch ausführlich zitiert wird.
Der Autor zeigt, wie geschickt die Nazipropaganda mit einem Arbeitsbegriff operierte, der die entfremdete Arbeit des kapitalistischen Produktionsprozesses hinter dem vorgeblich gemeinsamen Anliegen von Arbeiter und „Betriebsführer“ verschwinden lassen wollte. „Eigentlich ödes Schippen wurde durch den Arbeits-Dienst zur gemeinschaftlich nützlichen Tätigkeit am deutschen Volk aufgewertet und in dieser Stilisierung weitgehend akzeptiert.“ Arbeits- und Erntedankfeste waren, so Schyga, „von herausragender Bedeutung für die Volksgemeinschaft, denn anders als die Reichsparteitage waren sie Versammlungen der Bevölkerung.“ Der Antisemitismus, der den Juden als unproduktiven Parasiten schmähte, der zu wertschaffender Arbeit von Natur aus unfähig sei, gehörte stets zum Vokabular politischer Reden auf solchen Festen.
Zur Volksgemeinschafts-Ideologie gehörte ebenso der Führerkult. Die inszenierte, aber auch staatsrechtlich abgesicherte Herrscherkraft des Führers wurde in ihrer Vermittlung bis zur messianischen Überhöhung Hitlers getrieben. Die Gestalt des Führers wurde zur Krönung der Volksgemeinschaft stilisiert. Immer wieder eingeforderte Leistungen bis hin zum Opfer für „Führer, Volk und Vaterland“ sollten selbstverständlicher Teil menschlicher Existenz werden. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, lautete konsequenterweise eine andere, den Menschen immer wieder eingehämmerte Losung. Die aus der idealisierten Volksgemeinschaft Ausgegrenzten – nicht nur, aber zuerst die Juden – und politische Gegner des Regimes waren demnach nicht würdig für irgendeinen Opferdienst. Sie zu verfolgen, war also kein krimineller Akt staatlicher Stellen, sondern wurde mit einer höheren moralischen Weihe versehen.
Schyga erinnert an Franz Neumanns Aufsatz „Angst und Politik“ aus dem Jahre 1954. Darin hatte Neumann betont, welche Rolle die von der Nazipropaganda erzeugte künstliche Dauerangst vor einem imaginierten Gegner spielte. Das „Weltjudentum“ war ein niemals wirklich greifbarer, doch vorgeblich stets präsenter Feind, der dem deutschen Volk an den Kragen wollte. In einem ebenso wichtigen Aufsatz, „Was bedeutet ,Aufarbeitung der Vergangenheit’?“, hatte Theodor Adorno 1963 betont, dass das Hitlerregime umso mehr Sicherheit für die Angehörigen der Volksgemeinschaft versprach, je intensiver sich jeder Einzelne an den Maßnahmen zur Ausgrenzung der Feinde beteiligte. Schyga geht wohl zu weit mit seiner Folgerung, dass die „totalitäre Herrschaft des Nationalsozialismus“ es vollbracht hatte, „in kurzer Zeit eine in Entwicklung befindliche bürgerliche Klassengesellschaft durch die NS-Bewegung zu zerschlagen, [um] eine Gemeinschaft der Rassegleichen zu konstituieren und ideologisch so auszurichten, dass aus ihr eine Schicksalsgemeinschaft der bedenkenlos Opfernden und des heroischen Opferns geformt wurde.“
Gewiss war Letzteres das Ziel der Naziführung. Doch traf Isaac Deutscher den Punkt, als er betonte, der Faschismus habe die Klassengesellschaft in Deutschland bewahrt und zementiert, keineswegs beseitigt: „Als die Fassade der Nazis weggeblasen war, wurde den Augen der Welt die gleiche Struktur sichtbar, die es schon im Deutschland vor Hitler gab: seine Großindustriellen, seine Krupp, Thyssen und Junker, seine Mittelklasse, sein Großbauerntum, seine Landarbeiter und Industriearbeiter – alle waren noch da.“ Die politische Kultur des Landes aber war unrettbar beschädigt. In der scheinbar moralischen Abwehrhaltung, die emigrierten Antifaschisten wie Neumann, Adorno oder Deutscher nach 1945 entgegenschlug, zeigten sch die ideologischen Bindekräfte einer von ihrem Führer abgeschnittenen Volksgemeinschaft. Solche Bindungen, schreibt Schyga, „sollten noch lange vorhalten.“

Peter Schyga: Über die Volksgemeinschaft der Deutschen. Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiographischer Gegenwartsmoden, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015, 197 Seiten, 36,00 Euro.