19. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2016

Streifzüge durch Oberitalien: Ferrara und Pomposa

von Alfons Markuske, notiert in Bologna

Nicht weiter als Modena von Bologna entfernt, nur in nordöstlicher Richtung, liegt Ferrara, ist also ebenfalls mit dem Auto in etwa einer Stunde erreichbar. Doch im Unterschied zu Modena, das bereits im fünften Jahrhundert vor Christus etruskisch besiedelt war, und Bologna, dessen etruskische Gründung noch ein Jahrhundert länger zurückliegt, ist Ferrara ein ausgesprochener Spätling, der nicht einmal römische Wurzeln vorweisen kann. Die Stadt wurde erstmals im späten achten Jahrhundert urkundlich erwähnt und entstand vermutlich als Siedlung von Anwohnern der Lagunen in der Po-Ebene. An diesem Fluss lag die Stadt übrigens dereinst, bis er sich in der Mitte des 12. Jahrhunderts ein neues Bett bahnte.
Ferrara erhielt sein städtebauliches Gepräge durch das Haus Este, eines der ältesten italienischen Adelsgeschlechter, das schon ab 1070 auch Herzöge von Bayern stellte und von dem nicht zuletzt das Haus Hannover abstammt, das bis heute floriert. Jedenfalls im Boulevard. Wenn auch das öffentliche Urinieren von Ernst August Prinz von Hannover auf der Expo in der Hauptstadt Niedersachsens schon wieder ein paar Jahre zurückliegt.
In Ferrara waren die Este von 1240 bis 1597 die Hausherren; in Modena übrigens ebenso, und dort um einiges länger – nämlich von 1288 bis 1796. Ob irgendein später Nachfahr seine Finger in den Gründungsabläufen der Bundesrepublik hatte, harrt zwar noch der quellenfesten Untersuchung. Fakt ist jedoch, dass der deutsche Wappenadler seine geschwisterliche Nähe zu dem im Wappen der Este nicht verleugnen kann.
Unser Rundgang beginnt am Palazzo Schifanoia. Der wurde zwar bei dem schweren Erdbeben der Stärke 6,0 im Mai 2012 in Mitleidenschaft gezogen und soll seit Jahren geschlossen werden, um mit den Reparaturen zu beginnen. Aber wir sind in Italien, und so steht einer Visite immer noch nichts entgegen. Der Name des Palazzos leitet sich von schivar la noia her, was mit der Langeweile entfliehen zu übersetzen ist und den ursprünglichen Sinn des Bauwerkes ziemlich auf den Punkt bringt: Es diente der Veranstaltung von Festen und Banketten. Mit anderen Worten – hätte F zwo statt französisch italienisch gesprochen, dann hieße Sanssouci heute womöglich …
Das ursprüngliche Lustschlösschen, dessen primärer Bau auf das Jahr 1385 zurückgeht, lag seinerzeit außerhalb der Stadtmauern inmitten eines großen Gartens, war eingeschossig und bestand praktisch nur aus einem einzigen großen Saal. Am heutigen zweigeschossigen Bau ist von dessen einst prachtvoller Außenfassade, farbig und mit Stuckelemente verkleidet, nichts mehr erhalten. Man schaut auf ordinäres Ziegelmauerwerk und erahnt allenfalls anhand des noch vorhandenen repräsentativen Marmorportals, was der Zahn der Zeit da alles hinfortgenagt hat. Berühmt ist der Palazzo heute denn auch wegen seiner Innereien, der im Obergeschoss, im Salone dei mesi, zu findenden astrologischen Monatsfresken von Francesco del Cossa und Cosmè Tura aus den Jahren 1469/70. Im frühen 19. Jahrhundert konnten sie, zufällig wiederentdeckt, zu einem großen Teil unter Übermalungen – der Salone dei mesi hatte zwischenzeitlich als Zigarettenfabrik und als Getreidespeicher gedient – hervor wieder ans Licht geholt werden.
Der Auftraggeber der Fresken war das damalige Oberhaupt der Sippe gewesen, Borso d’Este, jeweils erster Herzog von Modena und von Ferrara. So weit konnte man seinerzeit selbst als illegitimer Spross eines markgräflichen Vaters aufrücken, wenn legitimere Anwärter rechtzeitig hinweggerafft wurden. Von Borso sind Porträts überliefert, die ihn allesamt im Profil von links zeigen, sodass eine rechtsseitige Entstellung angenommen wird, wie man sie sich als Feldherr, der Borso auch war, leicht einfangen konnte.
Vom Charakter der Este als einem im Kriegshandwerk ausgesprochen erfahrenen Geschlecht zeugt heute vor allem noch das trutzige Castello Estense im Herzen der Stadt. Diese wuchtige Zwingburg mit vier mächtigen Ecktürmen diente dem Haus Este bis Mitte des 16. Jahrhunderts auch als Residenz. Umgeben von einem Wassergraben, war sie nur über eine Zugbrücke zu erreichen und schützte die Bewohner so zugleich gegen Aufmüpfigkeiten der Untertanen.
Nur wenige Fußminuten entfernt – der Palazzo die Diamanti, von Ercole I. d’Este in Auftrag gegeben, der seinem Halbbruder Borso in der Herzogswürde nachgefolgt war. Ercole verwendete in seinem Wappen als Wahrzeichen einen geschliffenen Diamanten und gab dem Baumeister des Palazzos die Anweisung zu einer entsprechenden Fassadengestaltung. Allerdings war der Reichtum des Hauses Este zwar beachtlich, doch für eine Diamanten-Fassade hätte es denn doch nicht gereicht. Ein Kunstgriff brachte die Lösung – die Fassade wurde aus 12.600 Marmorblöcken zusammengesetzt, deren Stirnseiten pyramidenförmig sind und die deshalb mit etwas gutem Willen an geschliffene Diamanten erinnern. Es dauerte immerhin von 1492 bis 1567, das alles formvollendet zu arrangieren.
Natürlich war und ist Ferrara katholisch. Was sonst! Aber einem der größten Söhne der Stadt, wiewohl von Rom 1497 als Häretiker, Schismatiker und Verächter des Heiligen Stuhls exkommuniziert und in Florenz 1498 als Ketzer zunächst gehängt und dann verbrannt, ist trotzdem ein Denkmal auf einer Piazza geweiht, die seinen Namen trägt: Savonarola. Der Dominikaner, also jenem Orden zugehörig, dem als den „Hunden des Herrn“ (domini canes) das Gott wohlgefällige Amt der Inquisition oblag, war einst auf Bitte der mächtigen Medici als Lektor nach Florenz berufen worden. Dort allerdings predigte er zunehmend fundamentalistischer gegen den sittenlosen, verlotterten Lebenswandel des Klerus und des Adels, was ihm beim Rest der Bevölkerung, also bei der übergroßen Mehrheit, wachsende Popularität bescherte. 1494 führte dies zur zeitweisen Vertreibung der Medici aus Florenz. 1497 veranstaltete Savonarola eine Art vorgezogene Kulturrevolution: Er ließ Scharen von Kindern und Jugendlichen durch die Stadt streifen und im Namen Christi alles beschlagnahmen, was als Symbol für die Verkommenheit der Menschen galt: heidnische Schriften (nicht zuletzt solche, die Savonarola dazu erklärt hatte), Bilder mit freizügigen Darstellungen, Luxusgegenstände (Gemälde, Schmuck, Kosmetika, Spiegel, weltliche Musikinstrumente und -noten, Spielkarten, Möbel, Kleidungsstücke). Damit ließ er, eigentlich ganz im Stile der von ihm verfemten Amtskirche, Autodafés veranstalten – auf der Piazza della Signoria, einem der Hauptplätze von Florenz und einer der damals bereits berühmtesten Piazzen Italiens. Seine Gegner bewiesen, nachdem sie seiner habhaft geworden waren, ein adäquates Stilempfinden: Sie ließen Savonarolas christlich-barbarische Hinrichtung auf eben dieser Pizza zelebrieren.
Nochmals 50 Kilometer von Ferrara entfernt, an der Mündung des Po und fast schon an der Adriatischen Riviera gelegen – die ehemalige Benediktiner-Abtei Pomposa, ein beeindruckendes Zeugnis meisterhafter romanischer Baukunst. Natürlich errichtet aus Ziegeln, aber auch unter Verwendung von Spolien, also von Bauteilen und anderen Überresten (von Säulen, Kapitellen, Skulpturen oder Reliefs) aus Bauten älterer Kulturen, in diesem Falle aus der klassischen römischen Antike. Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Abtei mit ihrer dreischiffigen Basilika ohne Quergebäude im Jahre 847. Ihre größte Blüte erlebte sie um das Jahr 1000. In jener Zeit hat einer der Mönche, Guido von Arezzo, der nicht aus der gleichnamigen Stadt stammte, sondern später länger dort weilte, Bleibendes geleistet: Er gilt als Erfinder der modernen Notenschrift.
Schon ab 1152 setzte der Niedergang Pomposas ein, ausgelöst durch eine Naturkatastrophe: Eine Überschwemmung des Po mit Dammbrüchen oberhalb von Ferrara führte dazu, dass der Fluss sein Bett verlegte. In der Folge versumpfte das Gebiet um die Abtei, Malaria hielt Einzug und dezimierte die Bevölkerung, auch im Kloster. 1306 zählte man nur noch zehn Mönche.
Am 48 Meter hohen Campanile fallen ins Mauerwerk eingelassene Keramikschalen auf, und weitere, teils aus Terrakotta, befinden sich im Giebel der Vorhalle zur Basilika. Sie sollen nicht zuletzt für Pilger ein untrügliches Zeichen dafür gewesen sein, dass man in diesen Gemäuern auf ihre Beköstigung und Unterbringung eingerichtet war.