19. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Nashorn namens Clara, ein Neubau für neue Kunst, ein Muskelprotz mit Küssmund sowie ein Bibelaufsager nebst apokalyptischem Reiter …

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Man hört, alles habe damit angefangen, dass sich die richtigen Leute zusammengesetzt hatten. Um endlich für die Schweriner Sammlung der Moderne ihrem Rang entsprechend Platz zu schaffen. Also die richtigen Leute. Mit denen geht – ganz einfach!? – immer alles und erst recht Großes. Denn ein Neubau für zeitgenössische Kunst als Solitär neben dem vor 134 Jahren vom Großherzog Friedrich Franz II. eröffneten Museum, das ist für eine 90.000-Einwohner-Hauptstadt eines wirtschaftlich eher mageren Ländchens etwas Großes. Und so ging es denn vergleichsweise ruckzuck: 90 Prozent der Baukosten von 8,65 Millionen Euro fischte man geschickt aus EU-Fördertöpfen, den Rest aus dem Landeshaushalt (ein kulturpolitisches Meisterstück); 2014 Beginn der Projektierung, im gleichen Jahr erster Spatenstich und jetzt Einweihung mit neuen Werken diverser Berühmtheiten, einem zünftigen Happening nebst reichlich kunstwissenschaftlicher Volksaufklärung, Musik und Trallala.
Der Herzog dürfte staunen, was die bürgerlichen Erben mit seinem Museum gemacht haben, das 1882 der Architekt Hermann Willebrand effektvoll platzierte in die Sichtachse zwischen Residenzschloss, einer romantischen Renaissance-Fantasie mit tausend Türmen und goldenen Zinnen, sowie der wuchtigen Säulenfassade des gold-roten und fein verstuckten Drei-Ränge-Hoftheaters.
Willebrands vornehm prunkender Altbau glänzt zwar in tadellosem Zustand, hat aber eben kaum Platz fürs reichlich angesammelt Neue. Nach hinten raus jedoch, da war noch Luft. Und genau dort hinein setzte das Berliner Architektenbüro ARGE einen frei stehenden Kubus aus Beton mit 800 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf zwei Etagen. Der Zugang erfolgt – und das ist der Clou! – über eine gläserne Brücke aus dem Willebrandschen Historismus heraus; dort, wo Wolfgang Mattheuers in Öl auf Leinwand „Schwebendes Liebespaar“ von 1970 hängt. Es ist dies der Raum einer exquisiten Sammlung figürlicher DDR-Kunst – frei von ideologischer Grundierung, wie anzumerken die Direktion sich befleißigt.
Zuerst jedoch gelangt das Publikum über eine ausladende Freitreppe durch den ionischen Säulenportikus ins Obergeschoss vom Altbau zu den Meistern des 17. bis 19. Jahrhunderts. Dort hängt neben Rubens und Gainsborough mein Lieblingsbild: „Clara“ von Jean-Baptiste Oudry. Clara ist nicht etwa eine Dame von 1749, sondern ein Panzernashorn in Lebensgröße. Seefahrer brachten das liebe Vieh 1741 aus Java herüber und stellten es in Europa zur Schau. Nunmehr ist es als 15-Quadratmeter-Kolossalgemälde in Öl ein prominentes Prunkstück in Schwerin. –  Wir wandern weiter über eine bizarre Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss. In der Mitte Café und Shop (Clara auf Porzellanteller), rechts davon die Räume für Sonderausstellungen, die künftig vom Kupferstichkabinett genutzt werden für Präsentationen aus dessen bislang verstecktem 60.000-Blatt-Bestand; links das 20. Jahrhundert (Barlach, Lehmbruck, Corinth, Feininger, Picasso, Duchamp und andere) – und dann der gläserne Brückenschlag ins Jetzt. Hier dominiert Günther Uecker, der 1930 im mecklenburgischen Wendorf geboren und als Mitbegründer der Gruppe ZERO weltberühmt wurde. Spektakulär bis heute sind seine zum Markenzeichen gewordenen Nagel-Objekte. Doch die als Sensation geltende Novität ist die eigens für die Wände des Erweiterungsbaus geschaffene Serie „Wustrower Tücher“. Es sind großflächige, mit Ostseesand präparierte Stoffteppiche. Erst ein Begleitfilm schafft Aufklärung: Sowjetische Soldaten zwangen den Künstler nach 1945, Leichen vom Untergang der Cap Arkona, die am Strand von Wustrow angespült wurden, zu verscharren; es waren tausende KZ-Häftlinge. Seit 2010 suchte Uecker den Strand wiederholt auf, um an den Stellen, an denen er einst Leichen vergrub, Tücher zu legen …
Über eine breite Holztreppe (nutzbar als Auditorium für Veranstaltungen) geht’s ins Neubau-Untergeschoss, das bislang aus Platznot nie gezeigte Beispiele aus der vielfältigen Sammlung Neue Medien präsentiert. Im Zentrum so genannte Konzeptkunst: Ein übermannsgroßer, gezackter hölzerner Hohlkörper von Jörg Herold. Umständlicher Titel: „Mahnmal für einen Matrosen oder unsere Unfähigkeit, uns durch Mahn- oder Denkmäler zu erinnern“. Die sperrige, sargartige Sache korrespondiert offensichtlich mit Ueckers Totentüchern. Und wir begreifen: Eine wenn auch verkopfte Ernsthaftigkeit prägt diese Einweihungs-Ausstellung, die freilich ohne gehörige Museumspädagogik nicht auskommen wird.
Und doch gibt es auch Nonsens-Spielchen wie „Stairs 2002“ von AK Dolven: Da ist eine blinde Tür an die Wand gestellt mit einem Guckloch, durch das man auf ein Video schaut, auf dem sich eine nackte Dame räkelt. Mein Lieblingsobjekt aber ist die charmant witzige Installation von Ulrike Rosenbach: Auf einem Foto des berühmten antiken Herkules hat die Künstlerin, just an der testosteron-geschwellten Brust des Riesen, einen Monitor montiert. Der zeigt auf Video-Schleife ihren spitzbübisch geschürzten Küssmund. Und der haucht unentwegt nichts weiter als „Wow, wow, wow …!!!“

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22 Kapitel in der Lutherbibel voll metaphysischen Horrors: Der blutig sich austobende Mensch, unfähig zu Einsicht, Buße, Gottesfurcht, muss unterm Triumph der Engelstrompeten in der Hölle verfeuert werden. Zurücknahme des verpfuschten Menschengeschlechts, Vernichtung, Weltuntergang, das verlangt der Zorn Gottes. So steht es, mit starken Worten verlautbart, in der Offenbarung des Johannes. Die „Apokalypse“, ein grauenvoller Warn- und Angstmachetext.
Man muss dieses infernalisch dröhnende „Wehe, wehe!“ nicht aufsagen lassen als zweistündigen Monolog für einen wortgewaltigen, akrobatisch versierten Schauspieler, selbst wenn man über einen so grandiosen wie Wolfram Koch verfügt, der da in der Volksbühne Berlin den sarkastisch-ironischen Clown gibt, dann wieder den gruseligen Donnerwetter-Gott. Die Hass- und Schimpforgie wird auch dann nicht spannender, wenn Koch im gelb glänzenden Lackanzug oder buntkarierten Komikerdress (gutgesichert) im leeren, mal rot, mal blau illuminierten Bühnenhimmel rauf und runter schwebt, über die Stufen einer riesigen Revuetreppe rast oder auf der Vorbühne hin und her tobt. Lauter Mätzchen, die alsbald langweilen, weil die ganze hysterische Turbo-Veranstaltung unter der einfallsarmen Regie von Herbert Fritsch, dem neu ausgerufenen Superstar der Branche (angeblich das „Alpha und Omega“ des Gegenwartstheaters), fleißig auf der Stelle trampelt.
Doch weil der mediale Hype mit der letzten Spielzeit des Intendanten Frank Castorf und dem bevorstehenden Antritt seines Nachfolgers Chris Dercon nichts weniger als die Apokalypse der Volksbühne einläutet, soll man, so wehklagt viel Feuilleton, die apokalyptische Bibelei zumindest als Ansage eines bevorstehenden partiellen Weltuntergangs deuten. – Für jene, die noch nicht kapiert haben, was da fast tout Theater-Berlin in Untergangsstimmung versetzt: Es ist der aus konservativer Sicht apokalyptische Reiter Dercon (zurzeit Chefkurator der Londoner Tate Modern) mit seinem Vorhaben, die nach allgemeiner Ansicht weltberühmte Volksbühne ab dem 21. August 2017 umzumodeln in einen Tummelplatz für Tanz, Performance, Film, Musiktheater, Bildende Kunst nebst den Kulturen des Digitalen sowie obendrein noch Sprechtheater, was man mehrheitlich für den ruhmlosen Abstieg in globale Beliebigkeit hält. – Wir Minderheiten warten mal ab und trinken Tee …