19. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2016

Gedenktafeln für J.W.G.

von Renate Hoffmann

Erinnern an Personen, bedeutende und weniger bedeutende, kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Zum Beispiel auf den Seiten von Geschichtsbüchern und Literatur-Lexika, in Form von Denkmälern, als Benennung von Straßen und Plätzen. Und auf Gedenktafeln. Man findet sie an Orten, an denen etwas geschah oder unterblieb, was mit dem Genannten in Verbindung stand. Den Anlass betreffend, sollte dabei allerdings eine gewisse Dezenz und Gewichtigkeit vorherrschen. Nicht wie in der Tübinger Münzgasse Nr. 13, wo auf einer Tafel zu lesen ist: „Hier kotzte Goethe.“ Würdiger wäre gewesen (wenn es denn so gewesen wäre): Hier unterlag Goethe einem Vomitus. Was einen Vorgang umschreibt, bei dem der Mageninhalt den Körper entgegen der üblichen Richtung verlässt.)
Wahrscheinlich gehört der Geheimrat Goethe zur Spitzengruppe derer, die allüberall ihre Gedenktafeln erhalten, auch wenn sie am bewussten Ort nur gehustet haben. Im Falle Goethe sollte man aufmerksamer sein, denn oftmals verbirgt sich auch hinter schlichtem Hinweis und Jahreszahl ein Ereignis, das bleibendes Gedenken verdient.
Jena. Unterm Markt Nr.1. „Hier stand das ‚Kirstensche Haus’. In ihm wohnte Schiller, als er mit Goethe am 20. Juli1794 im Anschluss an die Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft ins Gespräch kam. […] Damit begann der Freundschaftsbund beider Dichter.“ – Über dem neuerbauten Eckhaus läuft ein endloses Leuchtband mit Texten. Ich stehe und lese und lese und stehe und warte auf Ende und Beginn. Meine Nachfrage ergibt, dass es sich um den gesamten Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller handelt.
Im „Anatomieturm“ (am Teichgraben), Rest der ehemaligen Stadtbefestigung, der früher ein „Anatomisches Theater“ zu Lehrzwecken trug, entdeckte Goethe in Zusammenarbeit mit dem Anatomieprofessor Christian Justus Loder den Zwischenkieferknochen des Menschen. Wichtige Erkenntnis zur Entwicklungsgeschichte Tier – Mensch. Berechtige Tafelanzeige. Als Loder Goethes Abhandlung über diesen Fund erhielt, lautete die Rückantwort: „Ich hab bei Durchlesung so viel Vergnügen empfunden […], daß ich es in vollem Ernst bedaure, daß Sie Minister und nicht Professor anatomiae sind.“ Demnach hätten wir um ein Haar Herrn Goethe als Dichter verloren.
Jena, Weimars Nachbarstadt, bereiste er häufig in Amtsgeschäften. Ihm oblagen, neben vielen anderen Aufgaben, die Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst und die Neugestaltung des Botanischen Gartens. Am Fürstengraben Nr. 26 steht Goethes „Clausur auf dem Blumen- und Pflanzenberge“. Das „Inspektorhaus“. Leicht erhöht gelegen, gewährte es dem Ministerpoeten freien Blick ins Grüne. Die Tafel kündet: „Vorgängerbau, den Johann Wolfgang von Goethe mehrfach bewohnte.“ Zu wissen wäre, dass hier Teile der „Italienischen Reise“ und Gedichte des „Westöstlichen Divan“ zu Papier kamen.
Unterhalb des Inspektorhauses dehnt sich der Botanische Garten. Nach zähem Bemühen gelang im Jahr 1794 endlich seine Gründung. Auch hier nennt eine Tafel Goethes entscheidende Mitarbeit.
Wenige Schritte den Fürstengraben hinunter, trifft man in der Nummer 18 das Anwesen des Verlagsbuchhändlers Carl Friedrich Ernst Frommann, mit Goethe freundschaftlich verbunden. Der Geheimrat weilte oft und gern in der geselligen Runde des Hauses. Über dem Eingangstor findet man seine Äußerung zu Eckermann: „Ich habe dort schöne Abende verlebt.“ Ein zusätzlicher gedenktafelmäßiger Hinweis wird empfohlen. Eventuell in der Kurzfassung: Hier verkehrte J.W.G. Auch wegen der Gegenwart sehr junger Damen. – Den letzten Satz könnte man gegebenenfalls in Klammern setzen.
Am rechten Saaleufer, nahe der Camsdorfer Brücke, steht die historische Gaststätte „Grüne Tanne“, bekannt durch die hier stattgehabte Gründung der „Urburschenschaften“ 1815 und von Studenten als damaliges Ausflugslokal eifrig begangen. Auch der Dichter fand sich ein, wovon eine Tafel berichtet: „Hier wohnte Johann Wolfgang von Goethe 1817/1818“. Ihm gefiel die Umgebung: „Hier verweile ich nun die schönsten Stunden des Tags, den Fluß, die Brücke, Kies, Anger und Gärten und sodann das liebe närrische Nest (die Stadt Jena – d.A.) vor mir“, lässt er den Freund Carl Friedrich Zelter wissen. Er logierte in der oberen Mansarde, wo er sich einmietete, um ungestört arbeiten zu können.
In der Gaststube speiste der Dichter und trank seinen Wein in gewohnter Weise mit Wasser gemischt. Junges Volk am Nachbartisch bespöttelte ihn dieserhalb. Goethe, nicht verlegen um klare Antworten, bekritzelte einen Zettel, den er den Ahnungslosen hinüberreichte: „Wasser allein macht stumm; / Das beweisen die Fische. / Wein allein macht dumm; / Das beweisen die Herren am Tische. / Dieweil ich nun keines von beiden will sein, / Trink ich mit Wasser vermischet den Wein.“ Betretenes Schweigen.
Wohin man auch reist – laut Gedenktafeln war er schon da. Ob auf dem Brocken („Hier weilte Goethe am 10 Dezember 1777“). Ob unten in Wernigerode im ehemaligen „Gasthaus zur Goldenen Forelle“, wo er im Dezember 1777 allerdings nur über Nacht blieb (besondere Vorkommnisse sind nicht bekannt). Ob im „Böhmischen“ oder in der Schweiz. Allein in Zürich gedenkt man seiner mit vier Tafeln.
Genial bleibt der Einfall eines Winzers in Mont-sur-Rolle am Genfer See. Statt einer Gedenktafel schreibt er auf die Etiketten seines Weinsortiments (Übersetzung): „Das Weingut Haut Cour gehörte dem Leutnant Charbonnier, der hier 1779 Goethe während der Weinlese empfangen hat. Der große Dichter beschrieb dieses Anwesen und berichtete von dem Aufenthalt in seinem Reise-Tagebuch.“ Die Charbonniers waren die Schwiegereltern von Goethes Freund Johann Heinrich Merck.
Allmählich jedoch wuchs der Unmut über die ausufernde Goethe-Gedenktafel-Kampagne. Es entwickelte sich eine Gegenströmung. Man griff zu Tafeln, die auf die Nichtanwesenheit des Herrn J.W.G. Bezug nahmen. Das brachte Vorteile: Kein historisch ausgefuchster Nachweis der Aussage erforderlich. Das Anbringen der Infotafel ist nicht genehmigungspflichtig und an der eigenen Hauswand erlaubt. Nun trifft man allenthalben auf derartige Hinweise mit der humorvollen Auskunft: „Hier war Goethe nicht“; „Hier … auch nicht“; „ Hier … noch nicht“.
In Heidelberg aber kam es zu einem Vorfall, der sowohl nachgewiesen als auch goethe- gedenktafelwürdig ist. Der Geheimrat beabsichtigte 1797, erneut in die Schweiz zu reisen, gar weiter nach Italien, soweit es die angespannte politische Lage erlaubte. Die Vorbereitungen waren getroffen. Den 30. Juli (Notizen aus dem Tagebuch): „Nachmittag um 3 Uhr von Weimar.“ … Den 3. August: „Früh 1 ¼ mit Extrapost von Gellnhausen. In Hanau Pferde gewechselt, morgens 8 Uhr in Frankfurth.“ Dort bleibt er bis zum 24. August. Ausflüge, Begegnungen, Theater, Besuche, Gespräche. Den 25. August: „Früh nach 7 Uhr von Frankfurth ab […] Um 5 ½ erst von Heppenheim wegen Pferdemangel (ab).“ Dieses war die Ursache für das spätere Missgeschick. „In Heidelberg Abends 9 ½ eingekehrt in den Drei Königen, der goldene Hecht, der vorgezogen wird, war besetzt.“
Heidelberg blüht. Es ist Frühsommer. In der Steingasse Nr. 2, der historischen Studentenwirtschaft „Goldener Hecht“, unweit der Alten Neckarbrücke, trinke ich den Morgenkaffee. An der Wand, wie ein Gästebuch, sind die Silhouetten bekannter Besucher angebracht: Eichendorff und Hölderlin, Brentano, Arnim und Jean Paul und Gottfried Keller. An einer der Säulen hängt ein kleines Gemälde: Am „Goldenen Hecht“ hält eine Reisekutsche. Ausgestiegen ist der Herr Geheimrat, leicht erregt. Vor ihm, in tiefer Verbeugung verharrend, der Hausdiener mit seinem Hund. Zur Bildunterschrift: „Hier hätte Goethe beinahe übernachtet! Aber unser Gasthaus war leider überfüllt. Am 25. August 1797.“
Dieses Geschehnis in seiner Einmaligkeit verdient es, baldmöglichst mit einer Gedenktafel bedacht zu werden. Text: Hier übernachtete Goethe am 25. August 1779 – beinahe!