19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Streifzüge durch Oberitalien – Modena und Canossa

von Alfons Markuske, notiert in Bologna

Gehen Trauer und Hysterie zusammen?
Vorstellbar.
Aber – Trauer und Ekstase?
Schwer vorstellbar.
Und doch hat das Imaginationsvermögen eines Künstlers diese Gemütszustände zusammengebracht. Sein Name – Niccolò dell’Arca. Er schuf im 15. Jahrhundert eine lebensgroße Beweinungsgruppe (Compianto sul Cristo morto) von einer solchen Expressivität, dass sie ihresgleichen suchen dürfte: Sechs Trauernde sind um den vom Kreuz genommenen, hingestreckten Leichnam Jesu Christi versammelt – Josef von Arimathäa, Salome, die Heilige Jungfrau Maria, der Evangelist Johannes, Maria Kleophae und Maria Magdalena. Und beim Anblick der letzteren beiden beschleicht den Beschauer unwillkürlich die Frage: Hysterische Trauer? Oder ekstatische?
Früher bunt bemalt, zeigen sich die Figuren heute in typischem Terracotta-Rotbraun, was ihre Wirkung jedoch eher noch steigert.
Diese Skulpturengruppe befindet sich in der spätbarocken Marienkirche Santa Maria della Vita im Herzen von Bologna, unweit der Piazza Maggiore.
Und von diesem atemberaubenden Kunstwerk sind es nur wenige Schritte bis ins an die Kirche anschließende Oratorium, in dessen erstem Geschoss sich eine weitere, ebenfalls höchst impressive Beweinung Christi befindet – hier bestehend aus zwölf lebensgroßen Terracotta-Figuren. Geschaffen von Alfonso Lombardi Anfang des 16. Jahrhunderts.
Dies war noch nachzutragen zum Streifzug durch Bologna.
Nun aber steht Modena auf dem Programm, die schöne Nachbarin Bolognas und von dort aus mit dem Auto in knapp einer Stunde zu erreichen. Ebenfalls Universitätsstadt, seit 1175, heute mit kaum 200.000 Einwohnern und ein Ort, dessen Namen der Autor zuvor, wie er gestehen muss, stets falsch betont hat. Nämlich nicht auf dem „o“.
Auf halber Strecke von Bologna nach Modena (und erstes Tagesziel) liegt das Örtchen Spilamberto, das ein Essigmuseum beherbergt. Dieses aufzusuchen ist sehr zu empfehlen, denn der Provinz Modena entstammt der berühmte Aceto Balsamico (Balsamessig). Und wer diese auch hierzulande inzwischen längst geläufige Zutat etwa für Salat-Vinaigrette bisher ausschließlich in seinem heimischen Supermarkt erstanden hat, der lernt in Spilamberto, dass das von ihm erworbene Produkt aus industrieller Fertigung zwar keineswegs komplett ungenießbar ist, aber mit dem Aceto Balsamico Tradizionale, um den es hier geht, außer einem Teil des Namens nichts gemeinsam hat.
Die Herstellung des Tradizionale erfolgt ausschließlich in Manufaktur und nach streng vorgeschriebenen und kontrollierten Regeln. Verwendet werden dürfen nur weiße Trauben – vorwiegend der Sorten Trebbiano und Sauvignon – und nur aus den Provinzen Modena und Emilia Romagna. Der daraus gewonnene Most wird kochend zu einem Sirup eingedickt, dem dann mindestens zehn Jahre alter Balsamessig sowie kleiner Anteil frischen Weins zur Vergärung zugesetzt werden. Die anschließende Reifung des Balsamicos erfolgt in Batterien von unverschlossenen, immer kleiner werdenden Fässern aus unterschiedlichen Holzarten; unter anderem kommen Eiche, Edelkastanie, Vogel-Kirsche, Esche, Wacholder und Maulbeere zum Einsatz. Die Reifung erfolgt auf luftigen Dachböden, was im Sommer sehr hohe Temperaturen und weitere Eindickung des Produktes durch Verdunstung zur Folge hat.
Der Aufenthalt des Aceto Balsamico Tradizionale in diesen Fässern währt mindestens zwölf Jahre, kann aber auch 25 Jahre und länger dauern. In jedem Fall steht am Ende eine dunkelbraune, fast schwarze Substanz von der Konsistenz schweren, aber noch flüssigen Honigs und von einer schier unglaublichen Geschmacks- und Aromenfülle. Dass hier von kulinarischem Luxus die Rede ist, versteht sich, denn das Herstellungsverfahren mündet in einen Preis, der leicht die 1.000 Euro pro Liter übersteigt. Für schnöde Vinaigrette viel zu schade. Aber mit frischen Erdbeeren oder auf gutem Vanilleeis – ein Traum!
Wer Modena bisher nur als Heimatstadt von Luciano Pavarotti gehört hat, den erwartet eine beeindruckende mittelalterliche Piazza Grande mit dem romanischem Dom San Geminiano, errichtet zwischen 1099 und 1322. Dessen (für Italien typisch) frei stehender, 88 Meter hoher Campanile, die Torre Ghirlandina, ist das eigentliche Wahrzeichen der Stadt. Der Turm – auch hier bildet die Schwemmlandebene des Po den Untergrund, die schon die Geschlechtertürme in Bologna Schlagseite bekommen ließ – steht sichtlich schief. Sehr passend zum historischen Stadtbild – die männlichen und weiblichen (!) Kadetten der in Modena bestehenden Militärakademie in ihren prächtigen Operettenausgehuniformen.
Dass man sich hier insgesamt auf geschichtsträchtigstem Boden bewegt, zeigt nicht zuletzt die Lebensader und beliebteste Flaniermeile im Zentrum der Stadt, die Via Emilia. Sie ist Bestandteil der gleichnamigen römischen Heeres- und Handelsstraße, mit deren Bau 187 vor Christus unter Konsul Emilius Lepidus begonnen wurde und die insgesamt 262 Kilometer misst; sie reicht von Bologna über Modena und Parma bis nach Piacenza.
Apropos geschichtsträchtig: Zwar nicht eben an der Strecke zurück nach Bologna, aber im Rahmen einer Tagestour durchaus noch gut zu erreichen – ein weltgeschichtlicher Mythos: die Burg von Canossa. Sie erhebt sich seit dem 10. Jahrhundert auf einem hohen Fels über die sie umgebende bergige Ebene, die zahlreiche weitere Trutzbauten aufzuweisen hat.
Am 28. Januar 1077 trafen auf dieser Burg und auf Vermittlung der damaligen Burgherrin, Gräfin Mathilde von Canossa, die beiden seinerzeit mächtigsten Herrscher des Abendlandes zusammen – Papst Gregor VII. und König Heinrich IV., die im Clinch miteinander lagen. Natürlich um Machtfragen. Der Papst saß zu diesem Zeitpunkt am längeren Hebel, denn er hatte über Heinrich das Anathema verhängt, den Kirchenbann, was die Exkommunikation wie auch die Absetzung als König einschloss. Also, so erzählt es die Legende, stellte sich Heinrich im bitterkalten Winter im Büßergewand und barfuß drei Tage vors Burgtor, beugte anschließend das Knie vor dem Papst und wurde vom Bann erlöst.
Seither steht Canossa bekanntlich als Synonym für demütigende Bittgänge.
Das ist aber nicht vom Ende her geurteilt, denn Heinrich rettete durch seine formale Aussöhnung mit Gregor, wie immer die tatsächlich auch zustande gekommen sein mag, nicht nur sein Königtum, sondern bereitete damit zugleich seinem weiteren Aufstieg den Boden. Und seinem letztlichen Sieg über den päpstlichen Widersacher. 1084 nämlich besetzte Heinrich mit seinen Truppen Rom. Gregor hatte sich zwar in der als uneinnehmbar geltenden Engelsburg verschanzt, doch das nützte ihm wenig. Er wurde von seiner eigenen Kurie abgesetzt und exkommunziert. Sein Nachfolger, Clemens III., krönte Heinrich am Ostersonntag 1084 zum Kaiser. Gregor kehrte niemals auf den Heiligen Stuhl zurück
So gesehen könnte Canossa auch gut als Synonym für „wer zuletzt lacht, lacht am besten“ stehen.
Im Burgmuseum von Canossa zeigt ein Gemälde Heinrich IV. im Büßergewand vor dem Burgtor. Aber das Antlitz dieses Mannes hat überhaupt nicht Bußfertiges, auch nicht Gedemütigtes. Aus dem Bild schaut vielmehr ein kalter Stratege entschlossen auf die Welt, für den der nächste Schritt nichts Abschließendes sein wird, sondern ein klar kalkulierter Schachzug in einem Spiel auf sehr viel längere Sicht …