19. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Francois in der Klapse, Othello am Schlagzeug und Frau Sibylle mit Lohengrin im Kino…

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Francois, Literaturprofessor an der Pariser Sorbonne, ein Kerl zwar in den besten Jahren, witzig, aber auffallend schlaff. Der Uni-Betrieb geht ihm auf den Keks, Karriereklettern interessiert nicht, um so mehr ist er scharf auf Sex. Ansonsten ist er fertig mit der Welt, mit dem Christentum, mit dem Abendland sowieso. Ein nicht untypischer westlicher Intellektueller, nihilistisch, zynisch, ausgebrannt und suizidgefährdet. So zeichnet Michel Houllebecq die Hauptfigur seines Romans „Unterwerfung“, der im Frankreich des Jahres 2022 spielt. Da nämlich haben die gemäßigten Parteien, um eine Regierung der extrem Rechten zu verhindern, den Muslimbruder Ben Abbes zum Präsidenten gemacht. Die säkulare Republik ist abgeschafft, die Scharia herrscht. Und prompt verliert Francois seinen Job, bekommt aber – nicht schlecht! – eine fette Pension, wenn er sich denn dem neuen System unterwirft. Zur Belohnung darf er obendrein mehrere Frauen heiraten. So wird ihm der Abschied von der Aufklärung versüßt, und das gefällt dem anpassungsfähigen Herrn.
Ein fiktives Szenario; nicht völlig aus der Luft gegriffen, was sonderlich beunruhigt. Am Deutschen Theater Berlin inszenierte Stephan Kimmig die Adaption des Romans als Wahnvorstellung eines Klapsmühlen-Patienten. Die Bühne von Katja Haß zeigt dementsprechend einen klinisch cleanen Leer-Raum. In der Mitte das Krankenhausbett, das der Patient (Steven Scharf) nur ungern verlässt. Dort mimt er den Psycho, was freilich all die provokanten, beklemmenden, ja grauenvollen Bezüge zur Realität entschärft, die hart zupackende Gesellschaftsanalyse aufweicht. Denn alles, was mit Francois und seinem Land durch die Übernahme der Islam-Herrschaft geschieht, ist ja bloß die Halluzination eines Psychopathen…

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„Authentizität? Was soll der Quatsch mit der Echtheit? Musst dich doch verhalten und rüsten! Authentischsein nein, Ehrlichsein ja. Trotzdem werde ich wohl eh lügen“, sagt die Dramatikerin Sibylle Berg keck zu den „Doku-Schlampen“ Wiltrud Baier und Sigrun Köhler während deren Arbeit an dem Filmporträt mit dem giftigen Titel „Wer hat Angst vor Sibylle Berg?“.
Die „berühmt blöde“ Frage, warum sie schreibe, lässt Frau Sibylle gar nicht erst aufkommen. Dieses „große Gewese ums Geschreibe“; sie könne die Welt auch nicht erklären. Frauen täten das sowieso nicht. Die „schreiben über Depressionen“. Basta. Stimmt trotzdem nicht. Man braucht nur ein paar Berg-Zeilen und kapiert sofort, da hat jemand die bösesten, unverklemmtesten, dem Leben genau abgeguckten Beziehungskisten flott in ihre Romane und Stücke gepackt („Und dann kam Mirna“ ist im ganzen Theaterland ein Kassenschlager). Ihr Romandebüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ war auf Anhieb ein Bestseller.
Die Feuilletons titulierten sie als Hasspredigerin der Singlegesellschaft, Fachfrau fürs Zynische, Designerin des Schreckens. Alles bekloppt, findet Berg. Aber anderseits sei es werbewirksam. Zugegeben, sie schaue neidisch auf Kollegen mit Millionen-Auflagen. Doch dafür brauche es ein sehr spezielles Talent. Sie findet, ihrs sei (noch?) lange nicht speziell genug. Bringe nicht genug „Schotter“, um sich ein tolles Designer-Haus kaufen zu können. Sie hat halt exquisite Maßstäbe… – Und eine nicht unschwierige Vergangenheit. Mit 22 Lenzen erkämpfte sich Sibylle „via Ausreiseantrag an den DDR-Staatsratsvorsitzenden“ den Abgang aus Weimar in den Westen. Ihre alkoholkranke Mutter machte daraufhin Selbstmord. Mit Ende zwanzig hatte sie einen Autounfall; in mehr als 20 Operationen wurde ihr Gesicht rekonstruiert. Seither werde sie andauernd „angeglotzt“. Sibylle Bergs gern grotesk grundierte Texte mit schrecklich präzisem Wortwitz haben also einen schmerzlichen Hintergrund. Wohl einer der Gründe, warum sie so rasierklingenscharf uns ins Gemüt und ins Hirn schneiden. Glücklicherweise sind sie zum Totlachen… Ein bisschen wie dieser Film. Gesättigt mit (Selbst-)Ironie, flimmernd zwischen Fragilität und Härte. Das ungefähre Bild einer starken feinen Künstlerin, garniert mit sphärischen Wagner-Geigen aus „Lohengrin“. Findet die Berg „schrecklich“. Sagt sie, weil‘s der Coolness dient. Wahrscheinlich aber schleicht sie sich heimlich in die Oper.

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Die unschuldigen „Othello“-Zeiten sind längst vorbei. Einst warf sich ein weißer Schauspieler für den Mohr von Venedig unbekümmert Schwarzschminke ins Gesicht. Doch seit im Schauspielbetrieb die Korrektheit kocht, ist „Othello“-Schminke ein Politikum. So konzentriert sich neuerdings vor jeder Premiere des Shakespeare-Thrillers die Publikumsneugier auf die Frage, wie denn der exotisch-fremde General aus Zypern wohl ausschaut: Mit Maske oder doch Schminke oder gar ohne?
Auf der Freilichtbühne des Schweriner Staatstheaters löst sich das Problem auf ganz natürliche Art: Der in Bayern geborene Schauspieler Amadeus Köhli ist ein Farbiger. Seine Agentur schreibt korrekt: afroamerikanische Erscheinung. Und weil Köhli auch ganz toll den Rocker kann, darf er in Ralph Eichels Inszenierung abtanzen und ein super Schlagzeug-Solo hinlegen.
Keine bange, passt zu Shakespeare. Der hatte bei aller blutunterlaufener Tragik immer auch Komik und deftige Unterhaltsamkeit im Blick. Und dafür ist musikalisches Entertainment immer gut, wofür schon mal eine Dreier-Band sorgt, die mal thrillermäßig grummelnd, mal lauthals partymäßig loslegt. Obendrein ist sie eine Augenweide, weil von Charlotte Burchard prachtvoll kostümiert nach Mode der Commedia dell’arte.
Auch das passt. Denn „Othello“, das Stück, ist etwa genauso alt wie die Commedia, das Genre. Und beide haben mit Venedig zu tun. Dort heiratete der siegreiche schwarze Kriegsherr Othello klammheimlich das zauberhafte weiße Aristokraten-Girlie Desdemona, womit die aus Glückseligkeit, Eifersucht, Neid und Rassismus, aus Egoismus und Dummheit gemischte Liebestragödie ihren irrwitzigen Verlauf nimmt, derweil an der Lagune besagte Commedia ihre bizarren Blüten trieb.
Und so hat Ralph Reichels musikalisch grundierte, temporeich mit Burleske und Action durchsetzte Inszenierung allerhand von einem venezianischen Shakespeare-Karneval-Comic. Also gibt Jago, der zielstrebig alles Unheil herbei zerrt, gleich zu Beginn den das Publikum flott begrüßenden Entertainer, der uns humorig einlädt zur Show in seinem Intrigenstadl, das garniert ist mit heutig-kabarettistischen Sotissen sowie Aufrufen zum Mitmach-Theater: „Jetzt alle Hände hoch und klatschen!“ Auch das passt zum Autor, über dessen „Othello“ Theodor Fontane witzelte, es bliebe, neben der dichterischen Großartigkeit, „ein großes Gelärm“.
Aber eben nicht nur! Immer wieder hält die Regie den hechelnden Atem an und erfindet Momente, in denen Liebe, Misstrauen, Verrat, Demütigung und Niedertracht beklemmend Funken schlagen. Freilich wäre anzumerken: Othello kämpft zwar mit zunehmender Verzweiflung gegen das „grünäugige Monster“ Eifersucht, das Fähnrich Jago ihm einpflanzte. Doch als betörender Liebhaber und hoher Feldherr ist Köhli viel zu klein und brav. Und Jago (Jochen Fahr) tänzelt als Lügner im Lederdress und „Kill You“-Sänger (von The Tiger Lillies) viel zu harmlos durchs Böse. Am aufregendsten ist Caroline Wybanietz als Desdemona: Tolles Weib, sexy Kleid, voller Kraft, Hingabe, Eigenständigkeit und – oho! – explodierender Widerständigkeit. Kein Girlie-Herzchen, sondern eine selbstbewusste Frau. Die in jeder Hinsicht schönste Figur!
Trotzdem, bei allem gut gemachten Spektakel im backsteingotischen Dom-Innenhof: Im Hintergrund des „großen Gelärms“ droht schon auch mal mehr, mal weniger, mal allzu wenig das Entsetzen. Eine einzige Lüge, und schon steht die Welt auf dem Kopf und stürzt in Vernichtung. So sickert denn letztlich doch unaufhaltsam die Tragödie ins Komödische.