19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Bob Dylan wird diesen Monat fünfundsiebzig

von Wolfgang Hochwald

Charles M. Schulz, der Schöpfer der Comicserie „Die Peanuts“, hat bekanntermaßen von 1950 bis zu seinem Tod im Februar 2000 jeden Tag einen Comicstrip veröffentlicht. Im Strip vom 12. Mai 1971 sieht man Charlie Brown und Linus auf der Mauer lehnen, auf der sie im Laufe der Jahre so manches philosophische Gespräch führen. Linus bemerkt: „Bob Dylan wird diesen Monat dreißig …“ Charlie Brown sieht Linus entsetzt an und sagt im letzten der vier Bilder: „Meine Güte, ist das deprimierend …“ Schöner und knapper konnte man den Zeitgeist Anfang der 70er Jahre nicht zusammenfassen. Was hatte Dylan zu diesem Zeitpunkt schon alles bewegt in der (Musik-)Welt. Er war – gegen seinen Willen – das Symbol der 60er- Protestbewegung, schuf bahnbrechende Platten, verschreckte die Traditionalisten des Folk, als er 1965 auf dem Newport Folk Festival zur elektrischen Gitarre wechselte (angeblich wollte Pete Seeger das Stromkabel eigenhändig mit der Axt durchtrennen, um die Musik zu stoppen), schrieb mit „Like a Rolling Stone“ das Lied, das immer wieder als der beste Song aller Zeiten gefeiert wird, zog sich 1966 nach einem Motorradunfall für zwei Jahre aus der Öffentlichkeit zurück, bereitete 1969 mit dem Album „Nashville Skyline“ dem Country Rock den Boden, veröffentlichte aber 1970 mit „Self Portrait“ eine von den Fans seinerzeit wenig geliebte Songsammlung, mit der er nach eigenen Aussagen die von ihm als bedrückend empfundene Erwartungshaltung seines Publikums zerstören wollte. Und nun sollten Charlie Brown, Linus und seine Fans dem über Dreißigjährigem noch „trauen“?
Am 24. Mai dieses Jahres wird Bob Dylan nun 75 und wenn er eines Tages –wie schon viele Größen der Musikszene in diesem Jahr – „Knockin’ on Heaven’s Door“ wörtlich nimmt, dann werden die Nachrufe auf ihn vermutlich alle bisherigen für verstorbene Künstler in den Schatten stellen. Dylan hat in seiner Musik (und in der von ihm auf einem US-Sender moderierten Radiosendung „Theme Time Radio Hour“) bewiesen, dass er wie kaum ein anderer die (amerikanische) Musikgeschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts kennt, bewahrt und in seine Songs umsetzen kann. Mitunter diskutieren Historiker gerne, wie die Welt aussähe, wenn es eine bestimmte Persönlichkeit nicht gegeben hätte (wenn Hitler beispielsweise im Schützengraben des 1. Weltkriegs gestorben wäre). Ohne Bob Dylan hätten viele bekannte Musiker (und viele Lagerfeuergitarristen) nicht in der uns bekannten Form zu ihrer Musik gefunden und das, was heute als Americana, Folk, Neo Folk, Singer-Songwriter oder ähnliches etikettiert wird, aber auch die Rockmusik würden definitiv anders klingen.
Seit Jahren hoffen die Dylan-Anhänger, dass ihr Meister den Literatur-Nobelpreis erhält. Keine so ganz abwegige Idee, wenn man bedenkt, welchen Einfluss und welche Qualität seine Texte seit 55 Jahren haben, aber Grenzgänger zwischen den Literaturen haben beim Nobelpreiskomitee bislang vielleicht zu Recht keine Chance. Dabei ist Bob Dylan längst selbst zur literarischen Figur geworden. So lässt Markus Berges, Sänger und Songschreiber der Band »Erdmöbel«, die Hauptfigur in seinem neuen, amüsanten Roman als „Die Köchin von Bob Dylan“ arbeiten und beschreibt dabei genüsslich Dylans Schrullen.
Seit Juni 1988 ist Dylan auf der sogenannten „Never Ending Tour“ und spielt jährlich um die 100 Konzerte, verteilt über die halbe Welt. Eines dieser inzwischen weit über 2500 Konzerte kommt in dem 2008 erschienenen Buch von Jochen Schimmang „Das Beste, was wir hatten“ vor, im Übrigen ein wunderbarer Roman über die alte Bundesrepublik. Schimmang schildert darin den Besuch seiner Protagonisten beim Dylan-Konzert im Juni 1994 am Kölner Tanzbrunnen: „Nachdem der Begrüßungsbeifall abgeklungen war, wartete man auf eine Ansage, ein paar Worte, ein good evening oder nice to be here with you, aber die Mitglieder der Band konzentrierten sich auf ihre Instrumente, und Dylan sah starr ins Publikum, ohne einen Ton zu sagen. Seine Gesichtszüge sahen aus wie die einer Wachsfigur. Dann nickte er kurz den Musikern zu, es gab ein one two three, und die Band begann zu spielen. Das tat sie anderthalb Stunden lang, ohne Pause, ohne Zwischenansagen, ohne irgendwelche Mätzchen auf der Bühne … Alles, was sie zu sagen hatten, sagten sie an diesem Abend tatsächlich durch die Musik, in die sie sich verbissen, konzentriert und verträumt, schwebend und mitreißend, ganz und gar versunken und ohne alle Angst, das Publikum zu verlieren.“ Da ich auf eben diesem Kölner Konzert war, das Jochen Schimmang an einer sehr wichtigen Stelle in die Handlung des Romans einbaut, habe ich den Autor gefragt, ob er das Konzert tatsächlich selbst besucht habe. In seiner Antwort schrieb er, natürlich sei er da gewesen: So etwas könne man ja nicht erfinden. Womit die beliebte Frage, was in einem Roman erfunden und was vielleicht autobiografisch ist, zumindest in diesem Fall geklärt ist: Wir können Bob Dylan nicht erfinden.
Dylan selbst aber erfindet sein Leben scheinbar immer wieder neu. So erklärte er in einem Interview mit dem Rolling Stone im Oktober 2012, dass er im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Motorradunfall gestorben und wiedergeboren worden sei – durch etwas in der Art einer Transfiguration, ähnlich also der Verklärung Jesu vor seinen Jüngern. Er bringt dies in Zusammenhang mit dem Tod des Hells Angels mit dem Namen Bobby Zimmermann (Dylan selbst heißt mit Geburtsnamen Robert Allen Zimmermann), der Anfang der 60er Jahre bei einem Motorradunfall ums Leben kam und dessen Geist womöglich in Dylan weiterlebe. In dem Interview sagt Dylan: „Wenn Sie also Ihre Fragen stellen, dann fragen Sie eine Person, die schon lange tot ist. Sie fragen eine Person, die überhaupt nicht existiert. (…) Transfiguration ist das, was es dir erlaubt, unter dem Chaos hervorzukriechen und dann drüber hinwegzufliegen. Das ist der Grund, warum ich noch immer mache, was ich mache, warum ich Songs schreibe und singe und einfach weitermarschiere.“
In diesem Sinne hat Bob Dylan am 20. Mai mit „Fallen Angels“ pünktlich zum Geburtstag sein 37. Studioalbum veröffentlicht, ein Album mit zwölf klassischen amerikanischen Songs, die von einigen der legendärsten und einflussreichsten (und toten) Songwritern der Musikgeschichte stammen. Ein Follow-Up also zum 2015er Album „Shadows In The Night“, das ausschließlich Lieder enthielt, die durch Frank Sinatra bekannt geworden sind.
Wie sähe Charles M. Schulz’ Comicstrip zum 75. Geburtstag Bob Dylans wohl aus? „Bob Dylan wird diesen Monat fünfundsiebzig …“, sagt Linus …
Wir können jedenfalls darauf vertrauen, dass der Meister uns bis zu seinem nächsten Tod und ganz sicher auch darüber hinaus weiterhin beschäftigen wird.