19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Bemerkungen

Loblied auf Idealismus

Wenn ich durch Antiquariate streife oder über Flohmärkte schlendere, finde ich immer wieder ein Buch von Harald Kretzschmar (oder eines unter seiner Beteiligung), das ich noch nicht hatte. Noch ein paar Funde – und ich werde mir ein separates Kretzschmar-Regal anlegen! Der Zeichner und Essayist scheint ein Wunder an Produktivität zu sein. Vor allem Porträtkarikaturen, aber auch Reiseskizzen hat er zu Büchern verarbeitet, kluge Vor- oder Nachworte zu verschiedenen Ausgaben geschrieben, in denen seine Kollegen vertreten sind. Zu seinem 70. Geburtstag hat er mit „Wem die Nase paßt“ reich illustrierte Lebenserinnerungen herausgebracht, aber damit war noch lange nicht Schluss! Er zeichnet tagesaktuell für das neue deutschland, organisiert Ausstellungen, beteiligt sich an öffentlichen Diskussionen, und er schreibt: Feuilletons, Rezensionen, Bücher. Er begründet das so: „Je weniger Worte ich beim Zeichnen brauchte, desto stärker drängte mein Sprachgefühl zum Formulieren von Texten. Die Lust, Sprachliches in eine Form zu bringen, trat neben die, Strichgebilde zu erfinden.“ Das Zitat findet sich in Kretzschmars neuestem Buch, das er sich quasi selbst zum 85. Geburtstag am 23. Mai geschenkt hat. Mit „Treff der Originale“ knüpft der Dresdner, der seit 60 Jahren in Kleinmachnow wohnt, an sein Buch „Paradies der Begegnungen“ an (Blättchen 25/2008). Damals hatte er Lebenswegen prominenter Kleinmachnower (oder solcher, die es zeitweilig waren) nachgespürt – von Kurt Weill und Lotte Lenya über Walter Kaufmann und Angela Brunner bis zu Karl-Heinz und Sibylle Gerstner. Seitdem ist er auf so viele erzählenswerte Geschichten von Kleinmachnowern, auch aus der Umgebung, gestoßen, dass er nun einen neuen Band in alter Qualität vorlegen konnte. Auch, wenn der eine oder andere Name nur Eingeweihten ein Begriff ist, so sind die Porträts in Wort und Bild doch kurzweilig und erhellend. Etwa die Geschichte des Patentingenieurs Albert Wilkening, der einer der wichtigsten DEFA-Manager werden sollte. Oder die Familie von Helmut James von Moltke, die auf ganz verschiedene Weise in nationalsozialistische Umtriebe verwickelt war. Die Hochseilfamilie Traber schildert Kretzschmar zwischen Triumph der Sensationen und Schmach des Versagens. Und nachdem im ersten Kleinmachnow-Buch Walter Janka eine wichtige Rolle einnahm, porträtiert der Autor nun Jankas Witwe Charlotte, die nicht im Schatten ihres Mannes stehen sollte. Harald Kretzschmar singt bei vielen Dargestellten ein Loblied auf idealistisches Engagement für eine Sache. Und das kann man dem Jubilar und zeitweiligen Blättchen-Autor auch attestieren!

Harald Kretzschmar: Treff der Originale. vbb, Berlin 2016, 200 Seiten, 19,99 Euro.

F.-B. Habel

Kaufmanns Zeitenreise

Eine Reportage von Walter Kaufmann – welcher Zeitungsredakteur hätte sie sich nicht gewünscht. Einem Kaufmann musste man nicht erst erklären, was eine Reportage ist: ein „menschendarstellendes Genre“, wie es an der Sektion Journalistik der Leipziger Karl-Marx-Universität hieß. Langjähriger Redakteur der Reportage-Seite im Neuen Deutschland, hatte ich manche Mühe, potenziellen Autoren klar zu machen, dass eine Reportage mehr ist als ein überlanger, mit Fakten ausgeschmückter Kommentar. In den Texten sollten gefälligst „lebendige Menschen“ vorkommen.
Froh war ich daher, als eines Tages in den 90er Jahren auf Umwegen ein Manuskript von Kaufmann auf meinem Tisch landete. Nächst Jean Villain war er in der DDR der namhafteste Autor von Reportagen aus der weiten Welt. Beim Lesen des Manuskripts allerdings wich die Freude rasch: Das war keine Tunesien-Reportage, sondern eine bessere Reiseempfehlung, wie sie üblicherweise auf den Tourismus-Seiten erschien. Und gerade davon sollte sich „meine“ Reportageseite unterscheiden. Nur, wie sagt man das als namenloser Redakteur einem renommierten Autor? Besorgt und enttäuscht legte ich das Manuskript zur Seite und hoffte: „Kommt Zeit, kommt Rat.“
Bis eines Tages Kaufmann selbst in der Dachkammer auftauchte, in der das ND-Auslandsressort seinerzeit arbeitete. Da hieß es, Farbe zu bekennen. Doch der Autor nahm mir jede Sorge: Natürlich sei das keine Reportage, als solche hätte er den Text nie geschrieben. Offenbar sei er an die falsche Stelle geraten.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte: Mit seinem neuesten Band „Meine Sehnsucht ist noch unterwegs“ hat der inzwischen 92-jährige Schriftsteller eindrucksvoll bewiesen, dass er das Genre meisterhaft beherrscht. Wenngleich das Buch mehr als ein Reportageband ist: Kaufmann verknüpft Autobiografisches mit Begegnungen in Japan, Israel, Irland und den USA zu verschiedenen Zeiten. Eine literarische Lebens- und eine Zeitreise zugleich, die dem Leser fast Vergessenes wieder ins Bewusstsein ruft. Wenn der Autor etwa an die Bürgerrechtsbewegung in den USA erinnert, wird überdeutlich, wie schwer die oft beschworenen „westlichen Werte“ vor noch gar nicht langer Zeit erkämpft werden mussten – und wie unvollkommen sie bis heute verwirklicht sind. Auch das „Manhattan Desaster“ (oft kurz 9/11 genannt) beschreibt Kaufmann – aus der Sicht eines Obdachlosen. Menschenschicksale, in denen sich Weltgeschichte widerspiegelt – das ist Reportage bester Art.

Walter Kaufmann: Meine Sehnsucht ist noch unterwegs. Ein Leben auf Reisen. Eulenspiegel Verlagsgruppe, Neues Leben, Berlin 2015, 256 Seiten, 14,99 Euro.

Detlef D. Pries

Der MDR-Musik-Sonderzug

„Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow …“ – gefühlte ein Dutzend Mal rattert der Sonderzug pro Woche durch unsere kleine Küche. Immer wenn wir am Frühstückstisch sitzen. Nicht, dass ich etwas gegen Udo Lindenberg hätte. Nein, seit meiner Jugend liebe ich die Musik des Panik-Rockers, wenn es auch mehr seine frühen Titel sind wie „Bodo Ballermann“ oder „Riki Masorati“.
Nun hat Udo scheinbar ein Dauerabonnement bei MDR Sachsen-Anhalt. Der Radiosender hatte sich vor Monaten rigoros und komplett vom deutschen Schlager verabschiedet. Seitdem haben Roy Black, Drafi Deutscher oder Connie Francis null Chance bei der Musikauswahl des Senders. Vielmehr hat man sich der englischsprachigen Musik der 70er und 80er Jahre verschrieben und, so geben sich Hot Chocolate, Pussycat, Smokie oder Bonnie Tyler gewissermaßen die MDR-S.A.-Musikklinke in die Hand. Wochenlang haben Hörer die Abkehr des MDR vom Schlager angeprangert, doch die Verantwortlichen bleiben weiterhin hart: knapp 90 Prozent internationale Hits. Allein Udo Lindenberg, Peter Maffay oder Nena finden Gnade bei der Musikredaktion. Zur Begründung gibt der Sender die immer wiederkehrende Antwort: weil sich die Hörgewohnheiten der Hörer geändert hätten. Aber warum protestieren dann so viele Hörer?
Um es klar zu stellen, ich bin kein Fan des deutschen Schlagers, eher der Beat- und Rockmusik der 60er Jahre. Aber ständig The Beatles, The Tremeloes, The Shadows oder Manfred Mann – nein danke. Doch kommen wir zurück zum „Sonderzug“. Udos Text ließe sich leicht umdichten und auf den MDR aktualisieren:

„All die ganzen Internationalen Affen dürfen da singen,
Dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen
Nur der deutsche Schlager – nur der deutsche Schlager
Der darf das nicht – und das verstehn wir nicht.

Och, MDR, ey, bist du denn wirklich so ein sturer Schrat
Warum lässt du Gitte und Heino nicht singen im MDR-Radio
Hallo, MDR, kannst’ mich hören
Hallolöchen – Hallo
Hallo, MDR, kannst’ mich hören
Hallo Halli, Halli Hallo
Joddelido“

Also lieber MDR, zeigt doch mal, dass ihr wirklich „Das Radio wie wir“ seid, wie es fast nach jedem Musiktitel eisern behauptet wird. Ich glaube, selbst der Rocker Udo Lindenberg hätte nichts dagegen, auch wenn er früher den Schlager als Heile-Welt-Krams abtat. Doch mit 70 – und das wurde Udo am 17. Mai – wird man ja für gewöhnlich etwas weiser und nachsichtiger. Happy Birthday, Udo!

Manfred Orlick

Skurrile Anweisungen für ein Klavierduo

Klassische Musik ist auch Jahrhunderte nach dem Tod von Komponisten wie Mozart, Bach oder Beethoven noch immer en vogue. Moderne Komponisten fristen dagegen oft ein Schattendasein. Die Schwestern Katja und Ines Lunkenheimer bieten auf „Oscillations – Schwankungen“ die Gelegenheit, zeitgenössische Musik von Frédéric Bolli, Holmer Becker und Hans Kraus-Hübner (der auch das titelgebende Stück verfasste) kennenzulernen.
Bereits zu Jugendzeiten musizierten die beiden gemeinsam. Als Klavierduo erspielten sie sich einen Ersten Preis beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. Nach etlichen weiteren künstlerischen Stationen legen sie ihre zweite CD als mittlerweile routiniertes Duo an den Tasteninstrumenten vor. Die größtenteils vierhändig zu spielenden Stücke sind keine musikalischen Wohlfühlbäder. Lyrische Einschübe kontrastieren mit lebhaften Teilen, verspielte Klavierpassagen treffen auf erratisch anmutende Momente, Leichtigkeit widersetzt sich strenger Konstruktion.
Mit seinen skurrilen Anweisungen erweist sich der Komponist Frédéric Bolli als Humorist. Diese lauten beispielsweise: „etwas nonchalant“, „befreiend“ oder „schmunzelnd“. Das finale Stück „I dodici mesi“ widmet sich den zwölf Monaten, die jeweils als Präludien oder Fugen in musikalische Töne gesetzt wurden. Die nahtlos ineinander übergehenden Monatspaare zeugen nicht zuletzt davon, wie flugs die Zeit vergeht …

Katja & Ines Lunkenheimer: Oscillations – Schwankungen. CD 2015, Label TYXart, 15 Euro.

Thomas Rüger