19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Eine ganz besondere Nürnbergerin

von Arndt Peltner, Oakland

Sandra Alfers lebt seit 1993 in den USA. Die in Oldenburg geborene Germanistikprofessorin lehrt an der Western Washington University. Im Zuge ihrer Forschung über die Lyrik aus dem Ghetto Theresienstadt stieß sie auf die fast völlig unbekannte Schriftstellerin und Journalistin Else Dormitzer. Fasziniert von der Sprache und der Tiefe der Gedichte und Erlebnisberichte Dormitzers entschließt sich Alfers, mehr über die Autorin in Erfahrung zu bringen. „Ein Buch hatte ich zuerst nicht im Sinn, ich dachte vielleicht an einen Forschungsartikel“, beschreibt Sandra Alfers das Ergebnis ihrer langen Recherche, die sie nach Berlin, in die Niederlande und vor allem auch nach Nürnberg führte. „weiter schreiben“ ist vor kurzem im Berliner Verlag Hentrich & Hentrich erschienen. Sandra Alfers stellt darin eine beeindruckende und engagierte Frau, „eine ganz besondere Nürnbergerin“ vor.
Am 17. November 1877 wird Else Forchheimer in Nürnberg geboren. 1898 heiratet sie den Rechtsanwalt Sigmund Dormitzer, der von 1916 bis 1926 erster Vorsitzender des Nürnberger Anwaltsvereins und von 1926 bis März 1933 stellvertretender Vorsitzender der Anwaltskammer des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg ist. Das Ehepaar Dormitzer ist fest verwurzelt in der Frankenmetropole. Während Sigmund Dormitzer seinen vielen Verpflichtungen nachgeht, schreibt Else Dormitzer für verschiedene Zeitungen, darunter der Fränkische Kurier und das Nürnberger-Fürther Israelitische Gemeindeblatt. Aus ihrer Feder stammen auch mindestens 29 Kinderbücher, die unter dem Pseudonym Else Dorn im Fürther Löwensohn Verlag und später im Pestalozzi Verlag veröffentlicht wurden.
Noch während des Ersten Weltkriegs tritt Else Dormitzer dem Centralverein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens bei und engagiert sich in Vorträgen und Artikeln für die Gleichberechtigung der Frauen. Das bleibt nicht unbemerkt, 1922 wird die damals 45-Jährige in die Vertretung ihrer Kultusgemeinde in Nürnberg gewählt, wie es heißt, wohl sogar als erste Frau im deutschen Judentum.
Mit der Machtergreifung der Nazis ändert sich das Leben der Dormitzers dramatisch. Sigmund Dormitzer muss nach 25 Jahren sein Amt als Rechtsberater der Wirtschaftlichen Vereinigung Nürnberger Künstler aufgeben. Else Dormitzers Bücher werden nicht länger im Pestalozzi Verlag veröffentlicht, ihre Artikel erscheinen nur noch in jüdischen Publikationen. Die beiden erwachsenen Töchter drängen die Eltern zu emigrieren, doch sie lehnen ab. Die Dormitzers erleben den Abriss der prachtvollen Synagoge am Hans-Sachs-Platz und schließlich die Reichspogromnacht. 15 SA-Männer stürmen das Haus in der Blumenstraße 9, verletzen das Ehepaar, zerstören das Mobiliar, plündern Wertgegenstände. Nur wenige Tage danach „willigen“ die Dormitzers in den Zwangsverkauf ihres auf 150.000 Reichsmark geschätzten Hauses für 10.000 Reichsmark ein. Einen Teil davon erhalten sie erst sehr viel später, nachdem sie zur Tochter in die Niederlande emigriert sind. Am 1. März 1939 verlässt das Paar Nürnberg. Doch das sichergeglaubte Asyl in Hilversum und Amsterdam besteht nicht lange. Am 21. April 1943 werden Else und Sigmund Dormitzer ins KZ Theresienstadt abtransportiert.
Sandra Alfers erzählt in ihrem Buch von einer couragierten und stolzen Frau, die scheinbar nichts brechen kann. Selbst im Angesicht des Horrors im Konzentrationslager, selbst nach dem Tod ihres Mannes am 9. Dezember 1943 gibt Else Dormitzer nicht auf. Sie sei „ein Vorbild für viele“ gewesen, wie sich später der Rabbiner Dr. Leo Baeck an sie erinnert. Dormitzer hält wieder Vorträge, schreibt Erzählungen und Gedichte, trägt sie auch vor und gibt ihren Mitinternierten das Versprechen, ihre Arbeiten nach der Befreiung, nach dem Ende des Grauens zu veröffentlichen.
Else Dormitzer überlebt. Die „Theresienstädter Bilder“ werden 1945 in einer Auflage von 500 Stück in einem niederländischen Verlag herausgebracht. Es sind Gedichte voller Kraft in jedem einzelnen Wort. Wohl durchdacht, wohl gesetzt. Sandra Alfers schreibt in ihrem Buch: „Lyrik und Holocaust, das mag auf den ersten Blick unvereinbar scheinen, nicht zusammenpassen zu wollen.“ Else Dormitzer fand die Worte, um das Erlebte für sich, die Überlebenden und auch die Toten festhalten zu können. Sprachlos wird sie nur ein einziges Mal in diesem Buch beschrieben, als sie nach der Befreiung des KZ Theresienstadt zurück nach Holland fährt: „Wir fuhren durch die fränkische Schweiz, ich wusste, jetzt müssen wir in Nürnberg sein, aber die Trümmerstätte, die wir durchquerten, erkannte ich nicht; ich konnte kein Wort bei der Durchfahrt sprechen.“
Erst im November 1952 kehrt Else Dormitzer zurück in ihre Heimatstadt. „Auf dem alten jüdischen Friedhof in der Bärenschanzstraße in Nürnberg lässt sie auf dem Grabstein ihrer Schwiegereltern Jeannette und Philipp Dormitzer nachträglich die Namen ihres Mannes Sigmund und dessen Bruders Louis eingravieren, „beide umgekommen im KZ Theresienstadt“, schreibt Sandra Alfers am Ende ihres Buches.
Am 3. Juni 1958 verstarb Else Dormitzer im „Deutschen Krankenhaus“ im englischen Hackney.

Sandra Alfers: weiter schreiben: Leben und Lyrik der Else Dormitzer, Hentrich & Hentrich, Berlin 2015, 146 Seiten, 17,90 Euro.