19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Nationale Romantik

von Jochen Mattern

„Zorn allenthalben“ war ein Artikel überschrieben, den die Sächsische Zeitung drei Tage vor Weihnachten abgedruckt hatte. Der Autor ist Schriftsteller und Mitglied zweier Akademien der Schönen Künste, der in Bayern und der in Sachsen. Er lebt in Radebeul bei Dresden. Sein Name tut hier nichts zur Sache, denn er steht exemplarisch für eine politische Radikalisierung unter Künstlern und Intellektuellen hierzulande.
Verursacht hat den öffentlichen Zornesausbruch der Umgang von Politik und Medien mit den Flüchtlingen hierzulande. In der Mehrheit seien das nicht, wie der Bevölkerung weisgemacht werde, „Familien, die sich vor Krieg und Verfolgung in Sicherheit bringen wollen“, sondern „allein erscheinende Männer“. Feigheit wirft der Verfasser ihnen vor, weil sie „bei der Verteidigung von Leib und Leben der Zurückgelassenen“ nicht mittun wollten. Während die mehrheitlich jungen Männer an der Heimatfront fehlten, fielen sie hier durch ihr kriminelles Verhalten auf. Die Versuche von Politik und Medien, die Kriminalität junger männlicher Flüchtlinge zu vertuschen, empfindet der Autor als verlogen. Es war wohl das systematische Verheimlichen solcher Straftaten, die seinen Zornesausbruch in der Presse provoziert hatten. Nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht dürfte sich der Autor in seinem Zorn bestärkt fühlen.
Dabei hatte sich, was ungewöhnlich genug ist, die Sächsische Akademie der Künste umgehend von ihrem Mitglied distanziert. Einen Tag nach dem Erscheinen des Artikels stellte deren Präsident, Prof. Wilfried Krätzschmar, auf der Internetseite der Akademie klar, dass der Artikel die „private Meinung“ des Verfassers wiedergebe und keine „Stellungnahme der Akademie“ sei. „Die akuten Probleme“, hieß es zur Begründung, ließen sich „nur lösen, wenn die bedrückenden Sorgen und Fragen mit Sorgfalt und Verantwortung getrennt werden von Stimmungen, Ressentiments und dem Schüren von Ängsten“. Mit anderen Worten: Zorn ist kein guter Ratgeber; er ist ein starker Affekt, der, so berechtigt er sein mag, das Urteilsvermögen trübt. Statt zu einer nüchternen Betrachtung und Diskussion über die zweifellos vorhandenen Probleme beizutragen, hat der Autor Angst geschürt.
Der Vorgang wirft ein Schlaglicht auf die geistige Verfasstheit der Bundesrepublik. Er zeigt, dass auch unter den Künstlern, wie in der Gesellschaft insgesamt, eine Spaltung und politische Radikalisierung in der Frage, wie mit den Flüchtlingen umzugehen sei, zu verzeichnen ist. Und der Mangel an politischem Urteilsvermögen ist unter Künstlern genauso verbreitet wie in der übrigen Bevölkerung. Die vor allem von Bildungspolitikern und kulturellen Lobbygruppen kolportierte Ansicht, dass (kulturelle) Bildung die Menschen friedfertiger und humaner mache, erweist sich als unzutreffend.
Zwar will der Autor seinen presseöffentlichen Zorn über die Flüchtlingspolitik nicht als „rechts und rassistisch“ verstanden wissen. Die Etikettierung als Rassist weist er von sich und dreht den Spieß einfach um. „Das neue Modewort“, behauptet er, diene lediglich der Stigmatisierung missliebiger Meinungen und deren Ausgrenzung aus dem öffentlichen Diskurs. Diese vor allem in den Medien geübte Praxis – konkret wird das „heute journal“ im ZDF genannt – spiele den „tatsächlichen Chauvinisten oder gar Rassisten“ in die Hände.
Doch der Fingerzeig auf die Anderen vermag nicht über das eigene neorassistische Ressentiment hinwegzutäuschen. Im Unterschied zum traditionellen Rassismus, der biologisch dachte, gebraucht der Neorassismus ethnisch-kulturelle Argumente.
In der „Abwesenheit einer kulturellen Debatte“ will der Autor denn auch den Grund für das gefahrvolle Agieren der „politischen Elite“ ausmachen. (Ob das eine zutreffende Einschätzung ist oder nicht, bleibe dahingestellt.) „Kultur regelt aber grundlegend das Zusammenleben“, postuliert der Autor und ruft als Kronzeugen den US-amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington auf: „Als hätte es Huntingtons These vom ,Clash of Civilizations‘ nie gegeben“, entfährt es ihm.
Das Anfang der neunziger Jahre entwickelte Bedrohungsszenario von einem Zusammenprall, einem „Kampf der Kulturen“ hatte Huntington ursprünglich für die internationale Politik entwickelt. Es diente der späteren Bush-Regierung als Rechtfertigung für den gewaltsamen, mit Krieg und Folter verbundenen Demokratieexport in arabische Länder. Es bot den liberalen Ländern des Westens jedoch stets auch eine innenpolitische Handhabe. Huntington zufolge durchzieht die Weltordnung nach dem Abschied des Kommunismus von der Weltbühne ein neuer polarer Gegensatz. Dem demokratischen Westen stehe ein Gegner gegenüber, mit dem ein friedliches Auskommen unmöglich ist. Kulturelle Gegensätze wie Sprache, Geschichte, Religion und Gebräuche stellten eine Bedrohung für den Westen dar. Weil die kulturellen Differenzen unvereinbar mit der westlichen liberalen Lebensart seien, sei ein „Kampf der Kulturen“ unvermeidbar. Insbesondere der islamische Fundamentalismus verkörpert das neue Feindbild des Westens. Auf den Zusammenprall mit anderen Kulturen habe sich der Westen einzustellen und vorzubereiten. Politik reduziert sich aus dieser Perspektive auf ein strategisches Vorgehen unter Einbeziehung militärischer Gewalt.
Das wolle die hiesige Politik nicht wahrhaben, meint unser Autor. „Nicht wenige, die unsere Kultur, unsere Art zu leben und unsere Formen des Respektes ablehnen“, hätten „die Gunst der Stunde“ genutzt, um „in unser Land (zu) kommen“. In ihrer ausschließlichen Fixierung auf die Ökonomie habe die politische Klasse die „Komplexität von Kultur“ und die „nicht zu verleugnenden Gegensätze“ zwischen den Kulturen aus dem Auge verloren. Mit der Einladung „zum massenhaften un- und kaum kontrollierbaren Grenzübertritt“ habe die Bundesregierung „auch die Konflikte anderer Kulturen ins Land“ geholt.
So ist es nur konsequent, wenn den Zorn des Schreibers die herrschende Politik hierzulande trifft und er seinen Beitrag in der Sächsischen Zeitung mit einer unverhohlenen Drohung beschließt: „1989 war es auch jahrelang angestauter Zorn, der zur Beseitigung des Vormundschaftsstaates DDR führte. Viele derjenigen, die heute ein Unbehagen gegenüber dem politischen Kurs empfinden, sind, um es verkürzt auszudrücken, 89er.“