19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Das Märchen von der verschwundenen Prinzessin

von Thomas Parschik

… für alle, die ihren Prinzen noch nicht gefunden haben.

Es war einmal eine Prinzessin, die lebte in einem Schloss, das über einen Garten verfügte, in dem tausend rote Rosen blühten. Jeden Tag fuhr sie zu dem alten weisen Onkel Pepe, um mit ihm die Regierungsgeschäfte zu beraten. Der Onkel wohnte in einer kleinen Hütte tief im Wald. In diesem Wald lebte auch eine Hexe, die sehr verliebt in den Onkel war. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass die Prinzessin den Onkel so oft besuchte. Außerdem ärgerte es sie, dass die Prinzessin viel jünger und schöner war als sie. Eines Tages, als die Prinzessin auf dem Rückweg zum Schloss war, versenkte die Hexe sie in einen tiefen Zauberschlaf und entführte sie in ein altes Haus, das abgelegen am Waldesrand stand. Um das Haus herum ließ sie undurchdringliche Hecken wachsen.
Vom Verschwinden der Prinzessin hörte der Prinz des Nachbarreiches und machte sich auf, sie zu suchen. Er fragte den Onkel Pepe um Rat. Dieser sprach: „Lass uns die Tiere des Waldes befragen! Vielleicht finden wir mit ihrer Hilfe der Prinzessin Spur.“ Und so brachen der Onkel Pepe, der Prinz und das Pferd des Prinzen auf. Vor dem Schloss der Prinzessin trafen sie einen Esel und fragten ihn nach der Prinzessin. Der Esel antwortete: „Fragt den Wolf, der in den Tiefen des Waldes haust. Vielleicht hat er sie verschlungen Allein würde ich niemals in den Wald gehen, doch mit euch will ich‘s wagen. Ich werde euch begleiten.“ Nach langer Suche fanden sie den Wolf und fragten nach der Prinzessin. Der Wolf erwiderte: „Fragt den fürchterlichen grünen Drachen, der im nördlichen Sumpfland wohnt! Mag sein, dass er sie gefressen hat.“ Der Prinz fragte: „Bist du schon einmal dort gewesen?“ Der Wolf antwortete: „Noch niemals, denn ich fürchte den Drachen sehr. Doch ich werde euch hinführen.“ Und so schloss er sich ihnen an.
Es war beschwerlich, den Drachen zu suchen, und der Prinz beklagte seine neuen Stiefel, die durch den Morast verdorben wurden. Als sie den Drachen erblickten, fragte der Prinz aus sicherer Entfernung: „Sag an, grässlicher Drache, hast du nicht die schöne Prinzessin gesehen?“ „Ich habe sie nicht gesehen“, fauchte der Drache. „Außerdem ist es nicht nett, einer Drachendame zu sagen, dass sie nicht hübsch ist.“ Der Wolf musterte die Drachendame und stellte fest, dass ihr grüner Schuppenpanzer sehr schön im Sonnenlicht schimmerte.
Aus einer Schlammpfütze sprang ein Frosch und rief: „Hört, ich kann euch helfen. Ich habe zwei schwarze Raben belauscht. Sie haben darüber gesprochen, dass die Hexe die Prinzessin entführt hat.“
„Was ist zu tun?“, fragte der Prinz. Der Onkel antwortete: „Die Hexe ist gefährlich, solange sie ihren Flugbesen, ihre magische Perücke und ihren Wunderteppich hat. Doch pflegt sie tagsüber viel zu schlafen. Lasst uns zu ihr gehen und sie überraschen!“
Als sie am Hexenhaus ankamen, schlief die Hexe in der Tat. Der Wolf schnappte den Besen und lief davon, der Esel fraß den Teppich und die Drachendame verbrannte die magische Perücke mit ihrem Atem. Die Hexe erwachte, aber es war zu spät. „Wohin hast du die Prinzessin gebracht?“, fragte der Onkel Pepe. „Kennt ihr das alte Landhaus am Waldesrand? Dort findet ihr sie.“
Und so machten sich die Retter auf den Weg. „Alle Tiere waren phantastisch. Nur dieses glibbrige grüne Schwabbeltier war völlig unnütz“, sagte der Prinz. Schließlich standen sie vor der Hecke. Sie umrundeten sie mehrmals und stellten fest, dass es keinen Eingang gab. Das Hindernis wäre leicht mit dem Flugbesen der Hexe zu überwinden gewesen, wenn sie ihn nicht vergessen hätten. „Was machen wir jetzt?“, fragte der Prinz. Der weise Alte gab ihm zur Antwort: „Nimm dein Schwert und schneide eine Lücke in die Hecke.“ Und so geschah es. Endlich standen unsere Helden im Schlafgemach des Hauses. Vor ihnen auf dem Bett schlummerte die Prinzessin. Der Prinz ging auf das Bett zu, räusperte sich, stieß die Prinzessin leicht an und sagte etwas verlegen, „Hallo, entschuldigen Sie! Hätten Sie die Güte zu erwachen?“ Die Prinzessin schlief weiter. Der Prinz schüttelte die Prinzessin und schrie ihr ins Ohr „Aufwachen! So wachen Sie doch auf!“ Die Prinzessin zeigte keinerlei Reaktion. „Küss sie, Schwachkopf!“, sagte kopfschüttelnd Onkel Pepe. Der Prinz küsste die Prinzessin, aber es passierte nichts. Der Esel küsste die Prinzessin, aber es passierte wieder nichts. Alle waren ratlos. Der Wolf und die Drachendame weigerten sich, die Prinzessin zu küssen und küssten ersatzweise einander. Das Pferd ging in die Küche, um nach etwas Essbarem zu suchen, und fragte den Esel, ob er mitkommen wolle, aber dem lag der Teppich noch schwer im Magen. Der Frosch küsste die Prinzessin, und da erwachte sie und sagte: „Ihr habt wunderschöne Augen.“ Am Ende heiratete der Frosch die Prinzessin, der Wolf die Drachendame, der Onkel die Hexe und der Esel das Pferd des Prinzen.
Der Prinz fand im Keller des Hauses ein verzaubertes Fass, das immer randvoll mit köstlichstem Manzanillawein gefüllt war, egal, wie viel der Prinz trank. Aufgrund dieses Fundes schwand seine Frustration unverzüglich. Und so lebten sie allesamt für lange, lange, lange, lange, lange Zeit glücklich und in Frieden.