19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Alles nur Geschichte?

von Heerke Hummel

Klaus Behlings Buch „Die Treuhand“ erschien pünktlich zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit. Der Autor beschreibt darin – so auch der von ihm gewählte Untertitel –, „wie eine Behörde ein ganzes Land abschaffte“. Das klingt nach Geschichte. Ist es auch, aber bei weitem nicht nur! Denn Klaus Behling ist es gelungen, eine fundierte, umfangreiche politisch-ökonomische Analyse des Transformationsprozesses zu erarbeiten, mit dem die zentralistisch geleitete Wirtschaft der einstigen DDR dem marktwirtschaftlichen System der Alt-BRD angepasst und angegliedert wurde. Er schrieb die Geschichte einer Institution, deren Wirken zu den am meisten umstrittenen Themen der Wiedervereinigung Deutschlands gehörte, welche politisch mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde, sich ökonomisch aber bis in die Gegenwart hingezogen hat und als „Kapitel Treuhand“ nach Aussagen des Bundesfinanzministeriums, so Behling, erst „2020/21 endgültig abgehakt sein“ wird. Dabei bringt er so hoch brisante Erscheinungen der Gegenwart wie die Pegida-Demonstrationen in Dresden mit der Art und Weise in Verbindung, in der die Treuhand ihre Aufgabe wahrnahm. Der frühere DDR-Diplomat und vielfache Buchautor hat geleistet, was von Regierungsseite „geradezu für schädlich“ gehalten wurde, nämlich „die sensiblen Ermittlungen öffentlich bekannt zu machen und zu diskutieren“. So lautete nämlich schon 1999 die Antwort im Deutschen Bundestag auf die Frage: „Wie beurteilt die Bundesregierung die Notwendigkeit, in einem öffentlichen Forum die Aufarbeitung des Verbleibs des DDR-Vermögens fortzusetzen?“
Behling vermochte es, in seinem Buch sehr detailliert, realistisch und ausgewogen „die Mühen des ‚Weges ins Wirtschaftswunderland‘ zu betrachten. Und er resümiert: „‚Wunschgemäß nahm uns Helmut an die Hand‘, den Weg wählten die Ostdeutschen selbst. (Sie taten es im März 1990 mit den Wahlen zur Volkskammer der DDR. – H. H.) Es war der des Wechsels in eine andere Gesellschaftsordnung. So etwas ging bislang nur mit Blut und Trümmern, dieses Mal ersetzen Tränen das Blut.“ Das provoziere die Frage, ob die Treuhand alles genau so tun musste, wie sie es tat. Und Klaus Behling meint, es gebe sicherlich immer verschiedene Wege, um ein Ziel zu erreichen. Viele Spielräume für die wirtschaftliche Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten habe es aber nicht gegeben. Beide Partner wünschten, dass es schnell gehen möge. Im Osten sei dieser Wunsch demokratisch legitimiert gewesen, im Westen ein über vierzig Jahre lang akzeptierter Auftrag des Grundgesetzes. Den Transformationsprozess zu verzögern, als sich eine realistische Chance dafür bot, wäre demnach undemokratisch und gesetzeswidrig gewesen. Die Teilung war die aus den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges gewachsene Besonderheit Deutschlands. Mit dem Weitblick eines ehemaligen Mitarbeiters am „Institut für Internationale Beziehungen“ in Potsdam bis zum Ende der DDR schätzt Behling ein: „Auch wenn damals nicht viel darüber diskutiert wurde: Politisch ging es um den endgültigen Schlussstrich unter die über vierzig Jahre lange Nachkriegszeit. Sie begann mit dem ‚Wettlauf der Systeme‘ und mündete in den ‚Kalten Krieg‘. Nun hatte ihn die eine Seite gewonnen, die andere verloren. Für den Bereich der Wirtschaft hieß das, die Marktwirtschaft besiegte die Planwirtschaft. Diesen Sieg in die Praxis zu übertragen, war die Aufgabe der Treuhandanstalt.“
Neben vielen Anderen aus Ost und West lässt Behling auch Gerhard Schürer zu Wort kommen, der seine Arbeit als Planungschef an der Spitze der DDR-Wirtschaft im Nachhinein sehr selbstkritisch eingeschätzt hat. Er hatte, so Behling, nicht die Kraft, eine Wirtschaftsreform anzuschieben, weil seine Partei, die SED, nicht reformfähig war. Es sei um die Macht gegangen. Diese wurde „nicht demokratisch errungen, sondern mit dem ‚Primat der Politik‘ über die Wirtschaft ‚gesichert‘. Diese Grundlage des Verständnisses einer ‚sozialistischen‘ Entwicklung schuf eine ökonomische Struktur der DDR, die letztlich zum Verlust der Macht führte.“
Auch wenn dies nicht unmittelbar die Treuhand-Anstalt berührt – an dieser Stelle ließe sich durchaus Ergänzungsbedarf anmelden. Denn gerade der massive Verlust von Einfluss der Politik auf die Wirtschaft im Zuge der weltweiten ökonomischen Verflechtung ist doch als eigentlicher Grund für die chaotischen Zustände von heute anzusehen. Besonders in den Krisenjahren seit 2008 zeigte sich: Die Politik wird von der Wirtschaft getrieben. Und die Wiedergewinnung des Primats der Politik über die Wirtschaft wäre beziehungsweise wird der Schlüssel zur Beruhigung und schließlich zur Befriedung der Welt sein. Gewiss weiß das auch der Autor. Immerhin macht er in seinem Buch auch deutlich, dass der Beitritt der DDR zur BRD es ermöglichte, den Abbau des „Sozialstaats“ in Deutschland zu forcieren. Denn die politische Machtfrage zwischen Sozialismus und Kapitalismus war entschieden, nicht nur in Deutschland. Und die Wirtschaft hatte es nicht länger nötig, politische Rücksichtnahme zu üben. In seinem Nachwort spricht Klaus Behling von der Geschichte der Treuhand als einer Erinnerung an das Ende eines Systems. Dass dieser Schlusspunkt auch den Anfang von etwas Neuem markiere, werde überschattet von der Rücksichtslosigkeit, mit der die Geschlossenheit alter Weltbilder verteidigt wird. Dennoch habe die Treuhand nicht nur zur äußeren und sichtbaren Beseitigung der DDR beigetragen, sondern „war auch der Einstieg in eine innere und unsichtbare Abwicklung der alten Bundesrepublik“. Deshalb könne die Bilanz dieser einmaligen Organisation vielleicht einmal gezogen werden, wenn sie in der fernen Zukunft zur Geschichte geworden sein wird.
Das, so möchte man hinzufügen, wird wohl auch für die gesamte Problematik des gesellschaftlichen Wandels in der Welt seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gelten. Nie hat sich diese Welt so rasant gewandelt wie in den letzten hundert Jahren. Und das Tempo dieses Wandels wird sich gewiss nicht verlangsamen. Auch die Bewertung seiner bisherigen Ergebnisse wird einst in neuem Lichte erscheinen. Und die vierzigjährige Auseinandersetzung zwischen den zwei Staaten einer Nation hatte weit mehr Aspekte, die in Wechselwirkung standen, als den Wettbewerb von Planwirtschaft und Marktwirtschaft und als von Behling in seinem Buch zu beleuchten waren. Bei allem Respekt vor diesem Buch und der Leistung seines Autors sollte nicht vergessen werden, dass in Bezug auf das Verhältnis von Plan- und Marktwirtschaft das letzte Wort noch längst nicht gesprochen sein dürfte. Zu groß ist das Chaos, das die totale Marktwirtschaft binnen zweier Jahrzehnte in der Welt geschaffen hat. Es wird nur überwunden werden können, wenn es der Politik gelingt, die Wirtschaft zu dominieren und sie im Interesse der gesamten Weltgemeinschaft wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Denn um die Sicherheit und das Wohl der ganzen Welt, ihr Überleben geht es. Nicht um den Profit und die Markterfolge deutscher Konzerne!
Dieses Buch wird dereinst sicherlich nicht mehr die Aktualität von heute besitzen. Aber dank der umfangreichen, akribischen Recherchen anhand von Firmen-, Behörden- und Regierungsdokumenten wird es noch lange Vielen ein authentisches Bild des Umbruchprozesses im „wilden Osten“ Deutschlands vermitteln. Dabei verzichtet es auf Wehklagen und Ostalgie, zeigt Erfolge und Misserfolge auf, gewährt Einblick in die Leistungen und Fehlleistungen handelnder Personen und Institutionen ebenso wie in deren Motivationen.

Klaus Behling: Die Treuhand. Wie eine Behörde ein ganzes Land abschaffte, edition berolina, Berlin 2015, 479 Seiten, 14,99 Euro.