von Mario Keßler
Das Thema der Vertreibungen ist so brennend aktuell wie historisch ein „heißes Eisen“. Wer es anfasst, geht das Risiko ein, unsichtbare Brandwunden davonzutragen, die ihn dennoch zeichnen – jedenfalls in den Augen derer, die sich in ihren festgefügten Ansichten nicht bestätigt fühlen. Der aus Szczecin stammende und nach jahrelanger Tätigkeit in Poznań jetzt dort als Professor für Neuere Geschichte lehrende Jan Piskorski, Jahrgang 1956, kann ein Lied davon singen: Einige seiner Publikationen, in denen er die Spuren deutscher Kultur in den 1945 zu Polen gekommenen Westgebieten sichtbar machte, wurden von der polnischen nationalistischen Rechten wütend attackiert. Piskorski hat sich solche Feindschaft aber auch sonst redlich verdient, hatte er doch 2006 – mit Recht – die Lobpreisung der Wirtschaftspolitik des Hitler-Regimes durch den damaligen Landwirtschaftsminister Lepper als neonazistische Äußerung bezeichnet. Eine Drohung von Leppers populistischer „Partei der Selbstverteidigung“ (Samoobrona), Piskorski vor Gericht zu bringen, ließ den Historiker unbeeindruckt.
In seinem jüngsten Buch, das auf langjährigen Spezialstudien beruht, gibt Piskorski einen instruktiven Überblick zur Geschichte der Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts. Er spannt den Bogen von den Vertreibungen im Gefolge der Balkankriege 1912/1913 über die Vertreibungen im Osten und Südosten des Kontinents während des Ersten Weltkrieges und des ihm folgenden griechisch-türkischen Krieges, die innersowjetischen Vertreibungen unter Stalin und die gigantischen Vertreibungsaktionen des deutschen und europäischen Faschismus bis hin zu den Nachkriegsvertreibungen, wobei Polen im Zentrum der Untersuchung steht. Besonders zu würdigen ist die Behandlung des Schicksals fast einer halben Million spanischer Francogegner ab 1939. Ein gedrängtes Kapitel über die Vertreibungen infolge der Jugoslawien-Kriege ab 1991 (unter weitgehender Ausklammerung Kosovos) schließt den inhaltlichen Teil des Bandes ab. Ein Ausblick verweist auf jüngste Entwicklungen, deren Zeugen wir alle sind.
Der Autor stützt sich in seiner Analyse auf eine Vielzahl gedruckter Quellen, wobei aber zwei wichtige Bücher von Michael Mann und Michael Schwartz (einem Kritiker Piskorskis) nicht genannt sind. Nicht minder schöpft er aus literarischen und Erfahrungsberichten, nicht zuletzt aus der eigenen Familiengeschichte: Die Piskorskis gehörten zu den nach 1945 aus den nun sowjetisch gewordenen früheren Gebieten Ostpolens in die ehemals deutschen Westgebiete Umgesiedelten. Der Nicht-Nationalist Piskorski weigert sich stets, diese die „wiedergewonnenen Gebiete“ zu nennen.
Im Frieden von Lausanne 1923 sieht Piskorski einen Kernpunkt in der Geschichte der Vertreibungen. Nachdem der griechische Plan, Teile der geschwächten Türkei zu annektieren, auf ganzer Front gescheitert war, wurde vor allem unter britisch-französischer Ägide ein Bevölkerungsaustausch beschlossen: Eine halbe Million Türken und anderthalb Millionen Griechen mussten ihre jeweilige, im Gebiet des anderen Staates liegende Heimat verlassen, in der ihre Vorfahren zum Teil seit Jahrtausenden gesiedelt hatten. Diese Maßnahme galt als exemplarische Lösung ethnischer Konflikte, da komplexe Problemlagen innerhalb einer ethnisch homogenen Menschengruppe leichter beherrschbar schienen als im sogenannten „Völkergewirr“.
Es war jene scheinbare „Normalität“ ethnischer Vertreibungen, derer sich auch – und dies in bisher und seitdem beispielloser Weise – das Naziregime bediente. So sah der „Generalplan Ost“ in seinen verschiedenen Ausarbeitungen seit 1940 die Vertreibung von fast zwei Dritteln aller Osteuropäer vor, wobei das Massensterben durch Unterernährung Teil des unmenschlichen Kalküls war. Hierher gehören natürlich die verschiedenen Varianten einer geplanten „Endlösung der Judenfrage“ durch Massenvertreibung (so nach Madagaskar), bevor die technisch-industrielle Vernichtung ins „Werk“ gesetzt wurde. Hierher gehört aber auch die durch die Nazimachthaber betriebene Umsiedlung sogenannter „Volksdeutscher“ ins Reich, die im Falle vieler Baltendeutscher zeitweilig sogar rückgängig gemacht wurde.
Eine Mischung von dauerhafter nationalistischer Massenpropaganda und Rassismus mit der Idee der „Machbarkeit“ einer ethnischen Vergemeinschaftung im Zeitalter technisch möglicher Massenumsiedlungen erkläre, so Piskorski, das immense Ausmaß von Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Zudem schreibe der Krieg – und auch der Nachkrieg – seine jeweils eigenen Gesetze: Die Achtung vor dem Leben des Einzelnen sinke ebenso schnell wie die Achtung vor dem persönlichen Eigentum anderer. Weite Passagen von Piskorskis Buch behandeln deshalb auch die Verbindung von organisierter Vertreibung und organisiertem Raub an Hab und Gut, das die Vertriebenen zurücklassen mussten.
Das Buch regt zu weiteren Fragen an: Wie trennscharf ist eine Linie zu ziehen zwischen vorrangig ethnischer oder religiös motivierter Vertreibung (oder einer Mischung aus beiden) und primär ökonomisch motivierter Austreibung (wie zum Beispiel der Inder aus Uganda 1971/1972)? Sind Vertreibungen wirklich in Einzelfällen unvermeidlich? Piskorski, der (es sei nochmals betont) kein polnischer Nationalist ist, legt dies im Fall der vertriebenen Deutschen 1945 aus Polen und der Tschechoslowakei wie auch beim Bevölkerungs-„Transfer“ zwischen Indien und Pakistan 1947 nahe. Es sei in diesen Fällen „mit Sicherheit die bestmögliche Lösung“ gewesen, schreibt er – nicht ohne Bedenken. Dem kann aber entgegengehalten werden, dass die Vertreibung ethnischer Minderheiten in keinem Fall zur Befriedung der jeweiligen Länder geführt hat, wofür gerade Indien und Pakistan zwei traurige Beispiele abgeben. Der Zustand der von Deutschen zwangsweise geräumten tschechischen und auch der polnischen Gebiete war und blieb noch lange beklagenswert, fehlten dort nun viele qualifizierte Fachkräfte. Niemand wird behaupten können, das, um den Blick über die Grenzräume Europas auszuweiten, Algerien ohne seine französischen Siedler besser dasteht als zuvor, so berechtigt der algerische Wunsch nach politischer Unabhängigkeit war. Der Exodus der Juden aus Ägypten beraubte 1967 das Land eines wichtigen Teils seiner Kulturträger (hier ist sogar ein Vergleich mit Deutschland 1933 möglich). Gerade wo Piskorski, was er oft tut, die historische Analyse mit Einzelschicksalen verbindet, zeigt er nicht nur die Unmenschlichkeit, sondern auch die Absurdität und politische Nutzlosigkeit letztlich jeder ethnisch motivierten Vertreibung.
Jan M. Piskorski: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Siedler Verlag, München 2013, 432 Seiten, 24,99 Euro.
Schlagwörter: Jan M. Piskorski, Mario Keßler, Umsiedlungen, Vertreibungen