19. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2016

Geht es tatsächlich um den NSU?

von Stephan Wohanka

„Als Bundeskanzlerin […] verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken […].“
Angela Merkel

„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“
Klaus-Dieter Fritsche, damals Staatssekretär im Bundesinnenministerium und heute Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Beauftragter für die Nachrichtendienste

Dass unsere repräsentativ-parlamentarische Demokratie ihre besten Zeiten (erst einmal?) hinter sich hat – dies festzustellen fällt nicht einmal mir schwer, der sie immer und überall verteidigt. Dieser Befund gehört – denke ich – an die Spitze jeder Betrachtung dessen, was sich um den NSU rankt. Nicht dass der NSU dieses Demokratiedefizit bewirkt hätte; nein, aber Entwicklungen, die letztlich zu diesem „Terrortrio“ geführt haben. Es ist ein Symptom. Wobei, nebenbei bemerkt, Zweifel angebracht sind, ob es den NSU in der öffentlich kolportierten Form überhaupt gibt, aber das ist hier nicht weiter von Interesse…
Gerade dann, wenn man Verschwörungstheorien um den NSU vermeiden will, muss der historische und politische Horizont der Betrachtungen erheblich geweitet werden. Ich sehe zwei miteinander verwobene Momente – die Genese des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und den „Aufbau“ einer Thüringer Neonazi-Szene.
Das BfV wurde im November 1950 aufgrund eines entsprechenden Gesetzes gegründet. Schon vorher betrieb die US Army eine Tarneinrichtung quasi gleichen Namens, deren Agenten auch die Aufgabe hatten, die 1945 wieder zugelassene KPD zu observieren: Der Blick ging also von Anfang an vor allem nach links. Kämpferischer Antikommunismus gehörte zur Staatsräson der frühen BRD; Konrad Adenauer meinte, einen „europäischen Bürgerkrieg“ zwischen „Sklaverei und Freiheit“ ausfechten zu müssen, so dass die starke personelle Kontinuität bestens ins Bild passt: Bis zum Ende der alliierten Aufsicht 1955 waren viele ehemalige Mitarbeiter der Gestapo als inoffizielle Mitarbeiter beschäftigt, danach auch offiziell.
Diese frühen Prägungen überdauerten – und wurden umstandslos den Neuen Bundesländern übergestülpt: In Thüringen waren es auch wieder „Kommunisten“ in Form der PDS, später der Linken, die in den Focus rückten. So wurde über den heutigen linken Ministerpräsidenten des Freistaates, damals noch Oppositionsführer, Bodo Ramelow ein umfangreiches Dossier anlegt; warum, ist bis heute nicht klar. Der Thüringer Verfassungsschutz (ThV) gewichtete die Gefährdung durch Linksextremismus sehr viel höher als die Gefahren von rechts. So wurden in dem für den Schulunterricht gedrehten Lehrfilm Jugendlicher Extremismus in der Mitte Deutschlands aus dem Jahr 2000 linke Autonome – zu Recht – als gewaltbereit charakterisiert, während Aufmärsche rechter Kameradschaften ohne entsprechende Kommentare im Film gezeigt wurden. Die Aussage des Rechtsextremisten Tino Brandt: „Wir sind […] prinzipiell gegen Gewalt“, blieb unkommentiert. Der Film wurde im Auftrag der von Helmut Roewer unter einem Pseudonym gegründeten Heron Verlagsgesellschaft – manche sprechen von einem Tarnunternehmen des ThV – produziert.
Mit Brandt und Roewer sind entscheidende Namen gefallen. Letzterer wurde 1994 vom Thüringischen Innenminister zum Präsidenten des ThV bestellt und „führte“ das Amt bis 2000. Seine Ernennung – untergegangen im Alkoholdunst, seine Amtsführung – von lächerlichen Eskapaden begleitet und so chaotisch, dass man später im Verfassungsschutzbericht lesen konnte, dass der Geheimdienst so geheim war, dass selbst im eigenen Hause keiner mehr nachkam, wer wann Nazis schmierte oder wer die Presse mit Interna fütterte. Über Jahre hatte ein Geflecht aus Intrigen und Abhängigkeiten das Amt gelähmt – geradezu ein Biotop für den Aufwuchs rechter Strukturen! Gegen Roewer wurde später wegen Untreue in 48 besonders schweren Fällen, teils in Tateinheit mit schwerem Betrug, ermittelt. Doch da er 2008 als verhandlungsunfähig galt, stellte man das Verfahren ein.
Wenn heute bekannt ist, dass deutsche Geheimdienste etwa 40 V-Leute im „Thüringer Heimatschutz“ führten, das heißt – auch bezahlten, dann kann daraus nur der Schluss gezogen werden, dass die Dienste eine regelrechte „Aufbauarbeit“ leisteten. Die Zahlungen „für nachrichtendienstliche Zwecke“ in den sechs Amtsjahren Roewers summieren sich auf 1,5 Millionen Euro. Nach dessen Entlassung fanden Mitarbeiter teils formlos ausgestellte Quittungen für Geldflüsse an unbekannte Empfänger; ein Abgleich mit den Akten blieb erfolglos.
Den Löwenanteil obiger Summe – stolze 100.000 Euro – kassierte der damalige NPD-Landesvize Brandt, der seit 1994 unter dem Decknamen „Otto“ Roewers Amt zuarbeitete. Brandt hat dieses Geld ganz im Sinne des ThV (oder wusste das Amt das nicht?) für Neonaziaktivitäten verwendet – etwa zur Finanzierung des von ihm mit initiierten und straff geführten „Freie Kameradschaft“-Netzwerks „Thüringer Heimatschutz“. Dem gehörte auch die Gruppe um Böhnhard, Mundlos und Zschäpe sowie der in Hannover verhaftete Holger G. an. Zu Beginn seiner Spitzeltätigkeit in den 1990er Jahren habe ihm einer seiner V-Mann-Führer „regelmäßig“ Informationsmaterial zur Antifa-Szene gegeben, so Brandt; heute übrigens wegen – völlig undeutschen – sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen und Beihilfe dazu sowie Förderung von Prostitution zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.
Nicht nur in Thüringen, sondern auch bundesweit hat das BfV über V-Leute jahrelang eine Strategie der informationellen Unterwanderung nicht nur der NPD, sondern auch der militantesten rechten Gruppierungen betrieben; daher auch das Scheitern des ersten NPD-Verbotsantrages vor dem Bundesverfassungsgericht. Es ist daher ein großer Irrtum – und mehr noch, bewusste Täuschung – zu behaupten, dass das Bundesamt den Rechtsterrorismus nicht „auf dem Schirm“ gehabt habe. Es hat ihn vielmehr zum Teil sehr präzise zur Kenntnis genommen, ja teilweise mitgestaltet, aber bis heute darüber nicht angemessen informiert – und angesichts seines Versagens (?) beim Aufdecken des NSU will es das jetzt erst recht nicht mehr tun. Und Regierung – in Teilen jedenfalls – und Parlament sehen sich außerstande, es dazu zu zwingen?
Steht einer der Verantwortlichen wegen Vertuschung und Beweisvernichtung vor Gericht? Gepaart ist der Blick nach links mit einer Blindheit rechts. Diese führt zu geradezu absurden Argumenten: Ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg etwa meinte zu wissen, dass es in unserem Kulturkreis ein Tabu des Tötens gäbe, man habe daher zur Aufklärung der „Döner-Morde“ in anderen Kulturkreisen suchen müssen. Dabei handelt es sich, jenseits des schieren Realitätsverlusts, um eine Form des seit Anbeginn virulenten Rassismus.
Wie viele andere bin ich schon seit Langem überzeugt, dass es gar keine nennenswerte Neonazi-Szene gäbe, wenn diese nicht von diversen Diensten mit Geld, Personal, und Logistikleistungen permanent gefördert worden wäre. Zum einem dient die Existenz der Neonazis dem reinen Selbsterhalt dieser Behörden, zum zweiten liefert sie immer prima Argumente, um an den lästigen Bürgerrechten zu sägen. Man fühlt sich an das Diktum des rechtskonservativen Staatsrechtlers Carl Schmitt erinnert: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Dieser ist offenbar für den Bereich der Sicherheitsbehörden faktisch erreicht – die geheim gehaltene Institutionalisierung eines „Ausnahmezustandes“, der die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik zum Souverän jedenfalls über die Sicherheit und damit die Beschneidung unser aller Freiheit macht, vorbei an Parlament und Regierung. Deshalb hat unsere repräsentativ-parlamentarische Demokratie – um auf den Anfang zurückzukommen – ihre besten Zeiten hinter sich.