19. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2016

Die Geschichte einer Familie

von Mathias Iven

Da gibt es eine Person in der Familie, die berühmt ist – und die anderen darf man dann getrost vergessen? Vor ein paar Jahren kamen die ersten Familienbiographien auf den Markt, und so wissen wir heute, was bei den Mendelssohns oder den Freuds passierte, wie es bei den Bechsteins oder Cassirers aussah, was die Furtwänglers oder den Wagner-Clan unsterblich machte… Manchmal nimmt eine Familie es aber auch selbst in die Hand, all das zusammenzutragen, was sich über die Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg erhalten hat. So geschehen vor rund siebzig Jahren, als sich Hermine Wittgenstein, die älteste Tochter des erfolgreichen österreichischen Unternehmers Karl Wittgenstein, dieser Aufgabe annahm.
Zwar sind wir über ihren Bruder Ludwig, den Philosophen, schon lange im Bilde, täglich schauen sich Kunstinteressierte das von Klimt stammende Gemälde ihrer Schwester Margaret an, und Paul, den einarmigen Pianisten, kennt vielleicht der eine oder andere Musikfreund – doch die anderen Familienmitglieder? Die jetzt endlich erschienenen, von Ilse Somavilla in hervorragender Weise umfangreich kommentierten „Familienerinnerungen“ Hermine Wittgensteins beginnen bei den Großeltern, beschäftigen sich mit den Eltern, Tanten, Onkeln, vor allem aber mit ihren sieben Geschwistern.
„Wir schreiben das Jahr 1944.“ Mit diesem schlichten Satz beginnt im Juni 1944 Hermine Wittgensteins Erinnerungsarbeit. Am 1. Dezember wird sie ihr siebzigstes Lebensjahr vollenden, der Zweite Weltkrieg geht in seine Endphase. „In dieser ernsten Zeit“, so heißt es zu Beginn, „in der Menschen und Dinge gleichermassen vom Untergang bedroht erscheinen, beginne ich noch rasch einige Familienerinnerungen festzuhalten, zum Teil um mich selbst daran zu erfreuen, zum Teil um den jüngeren Mitgliedern der Familie ihre Vorfahren näher zu bringen.“ Es geht ihr nicht um Vollständigkeit, denn die konnte man mit Blick auf die weitverzweigte Familie wahrlich von niemandem verlangen. „Es kann sich“, so setzt sie sich ihr Ziel, „dabei nur um eine anspruchslose Aneinanderreihung von Einzelzügen und Einzeltatsachen handeln“. Die Arbeit wird demzufolge „nach keinem Plan fort[schreiten], sondern es zweigt da oder dort ein Weg ab“.
In ihrem Haus in Wien stellt sie die überlieferten Unterlagen zusammen. Da das Kriegsgeschehen immer näher an die Stadtgrenze rückt, begibt sich Hermine Wittgenstein im August 1944 auf die Hochreit, das südlich von Wien gelegene Familiengut. Dort schreibt sie „bei dem trotz der Entfernung höchst unheimlichen Geräusch von hunderten von Bombenflugzeugen, wie sie täglich in geschlossenen Formationen hoch, hoch über uns hinwegfliegen“. Sie muss ihre Aufzeichnungen immer wieder unterbrechen: „Ich habe im Oktober 1944 […] Wien verlassen, weil die Russen immer näher rückten und weil Wien engstes Kriegsgebiet zu werden drohte.“
Erst im Februar 1945 – „die Zeit [ist] noch unendlich viel ernster geworden“ – kann sie mit ihrer Arbeit fortfahren. Hermine lebt jetzt in Gmunden, auf dem Besitz ihrer Schwester Margaret. Am 3. April 1945 schreibt sie: „Was wir im Herbst gefürchtet haben und weswegen wir aus Wien geflohen sind, ist eingetroffen: die Russen besetzen Wien und Nieder-Oesterreich und sind auf dem Weg gegen Ober-Oesterreich! Wir sind dadurch von allen unseren Freunden und unseren Angestellten, die wir ja auch zu unseren Freunden zählen – sowohl in Wien als auch auf der Hochreit – abgeschnitten und können nichts über ihr Schicksal erfahren. Niemand kann sagen, ob wir sie je wiedersehen werden, niemand kann auch wissen, was sich hier noch abspielen kann, und es ist Grund genug zu den ernstesten Sorgen in jeder Beziehung.“ Selbst solch eine ausweglos scheinende Situation entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, heißt es doch weiter: „Dabei geht aber unglaublicherweise das Leben hier fast ungestört weiter; ich wundere mich und entsetze mich darüber und lebe doch selbst, als ob sich nichts ereignete, ja, ich vertiefe und verbohre mich nur immer mehr und mehr in diese Erinnerungen, je näher eine Kriegsentscheidung zu kommen droht.“
Von Osten her kommend nehmen sowjetische Truppen am 13. April das durch die Luft- und Bodenkämpfe stark zerstörte Wien ein. Am 27. April 1945 wird die Zweite Republik proklamiert. Endlich kann Hermine aufatmen: „Das Ende dieses grauenhaften Krieges, das wir so lange herbeisehnen mussten, ist zur Wirklichkeit geworden“. Am 5. Mai beginnt sie mit Aufzeichnungen über ihre Schwester Margaret. Über vier Jahre hinweg arbeitet sie an den „Familienerinnerungen“. Am Ende liegen 250 Seiten vor. Eine letzte, auf einem separaten Blatt befindliche Notiz trägt das Datum vom 8. April 1949. Zehn Monate darauf, am 11. Februar 1950, stirbt Hermine Wittgenstein in Wien.
In ihrem umfangreichen und sehr kenntnisreichen Vor- beziehungsweise Nachwort verweist Ilse Somavilla darauf, dass die Erinnerungen Hermine Wittgensteins zwar kein „vollständiges Bild der Geschichte ihrer Familie mit ihrem vielfältigen soziokulturellen Netzwerk“ liefern, dass aber demgegenüber vor allem die von Ludwig Wittgenstein als „Familienähnlichkeiten“ thematisierten Übereinstimmungen bei den Ansichten, Neigungen und Interessen der einzelnen Familienmitglieder deutlich zutage treten. Und schließlich sind Hermine Wittgensteins Erinnerungen mehr als nur das Porträt einer Familie, zeichnet sie doch zugleich das Bild einer konfliktreichen Zeit.

Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen, Haymon Verlag, Innsbruck/Wien 2015, 542 Seiten, 29,90 Euro.