von Georg Rammer
Allem Anschein nach ist es leichter, Kriege zu führen, Tausende Menschen zu töten und ganze Landstriche in Schutt und Asche zu legen, als die Ursachen von Gewalt zu bekämpfen. Offensichtlich zieht es die Politik vor, Reflexe zu bedienen und Ressentiments zu schüren, als ehrliche Erforschung der Hintergründe von Gewalt zu betreiben – der Gewalt von Terroristen ebenso wie der eigenen. Die Folgen dieser irrationalen tödlichen Strategie können ja dann wieder militärisch bekämpft werden.
Der Teufelskreis der Gewalt folgt einem vorgezeichneten Muster. Als im Londoner Stadtteil Tottenham 2011 nach tödlichen Polizeischüssen und darauf folgenden staatlichen Vertuschungsmanövern Unruhen ausbrachen, war die Reaktion von Polizei, Politik und Justiz: hartes Durchgreifen. Keine Rede davon, dass sich die jungen Leute in einem hoffnungslos verarmten Stadtteil von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten, ohne jede Perspektive, reich nur an Erfahrung von Diskriminierung. Auch in Paris waren 2005 zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei umgekommen. Die darauf folgenden Unruhen führten nicht zu den dringenden Reformen, die angesichts der tristen Zustände der Banlieues geradezu unausweichlich schienen. Vielmehr wusste Präsident Nicolas Sarkozy sofort, wie das Problem zu lösen sei: durch „Kärchern“. Abgesehen von der Menschenverachtung der präsidialen Haltung: Politik und Staat begegneten dem Aufschrei mit kalter Gleichgültigkeit und Härte, an der krassen Ungleichheit und Ausgrenzung änderte sich nichts.
In Spanien sind 53 Prozent der jungen Menschen arbeitslos. Gibt es auch nur eine politische Analyse zu Ursachen und Folgen? Dass es in Berlin Stadtteile gibt, in denen die Armutsquote weit über dem ohnehin hohen Bundesdurchschnitt liegt, ist lange bekannt, ohne Aussicht auf Änderung. Soziale Folgen von politischen Entscheidungen sind eine Form struktureller Gewalt, die meist keinen politischen Widerstand bewirkt, sondern Resignation und Apathie, aber schnell in Gewalt umschlagen kann. Meist nicht gegen die Verursacher des Elends und der Ausgrenzung.
Die unvorstellbar grausamen Anschläge von Paris vor wenigen Wochen lösten die bekannten politischen Reflexe aus, die als taktische Symbolpolitik wirkten. Bombardiert sie! – nein, natürlich nicht die Stadtteile in Frankreich und Belgien, wo die jungen Männer aufgewachsen waren, sondern das Land, in dem inzwischen 15 Staaten einschließlich Deutschland und etliche nichtstaatliche Milizen Krieg führen.
Kurz innehalten, nachdenken, Ursachenforschung betreiben: Das Vernünftige tun ist offensichtlich keine staatliche Option. Denn es würde bedeuten, die herrschenden Prinzipien der Politik und die sie antreibenden Interessen aufzugeben. Lassen wir mal außer Acht, wie die grausamen Kriege der „westlichen Wertegemeinschaft“ die brutale, menschenverachtende IS erschaffen haben (Selbstherrlichkeit und Gleichgültigkeit menschlichem Leid gegenüber sind an sich schon Quelle von Hass und Gewalt) und richten unsere Aufmerksamkeit auf bekannte psychische Grundlagen individueller Gewalt.
Jeder Mensch, unabhängig von Religion, Hautfarbe, Geschlecht oder Alter, benötigt für eine gesunde seelische Existenz andere Menschen, die ihm mit Aufmerksamkeit, Einfühlsamkeit und Respekt begegnen. Im Zusammenleben von Menschen sind Empathie, Mitgefühl und Wertschätzung unverzichtbare Bindemittel. Kinder, die das nicht erleben, sind in Gefahr zu verkümmern, sich selbst zu schädigen oder Rache zu nehmen – in Form von Aggressivität oder gefühlloser Gewalttätigkeit. Erfahren Menschen Gleichgültigkeit, Abwertung, erleben sie Gewalt oder Aussonderung, ist eine gewalttätige Reaktion sehr wahrscheinlich. Zwar entwickeln manche Kinder trotz destruktiver Erlebnisse bemerkenswerte Fähigkeiten; sie können klug, sensibel und selbstbewusst sein. Aber nur dann, wenn sie anderen Menschen begegnet sind, die ihnen beeindruckende emotionale Erfahrungen vermittelt und geholfen haben, die Ohnmacht zu überwinden.
In einer Winner-Loser-Gesellschaft wirken die skizzierten Risiken besonders nachhaltig. Die erlebte Ungleichheit, verbunden mit dem Gefühl der Ohnmacht, begünstigt ein hohes Aggressionspotential, Gewalttätigkeit oder Radikalisierung. Wobei Radikalisierung nicht primär ein politisch bewusstes, ursachenbezogenes Denken und Handeln meint, sondern ein Abreagieren, Draufschlagen. Ohnmacht und dem Gefühl von Ausgeliefertsein mit staatlicher Gewalt zu begegnen, erzeugt aber Hass. Hass ist handlungsleitendes Motiv, entstanden aus seelischen Gewalterfahrungen – und auch Ausgrenzung wird als Gewalt erlebt. Er verbindet sich nur zu leicht mit einer Ideologie, die ihn scheinbar legitimiert und zu einer guten Sache umdeutet. Psychologisch betrachtet sind gewaltbereite IS-Anhänger Neofaschisten ähnlich. Beide versuchen, die erlittene Abwertung und Ohnmacht in Allmacht zu verwandeln und Stärke zu spüren, verbunden mit der ersehnten Anerkennung in der Gruppe Gleichgesinnter.
Eine wirksame Bekämpfung dieser um sich greifenden Gewalt hat natürlich auf die Ursachen zu zielen: auf Armut in einer reichen Gesellschaft, die Bewertung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, die zu Verlierern gemacht werden. Werden diese Ursachen, die Teil der strukturellen Gewalt des Staates sind, nicht beseitigt, werden Hass und Gewaltbereitschaft zunehmen. Eine Verrohung gerade wohlhabender Bevölkerungsgruppen war allerdings schon lange vor den Anschlägen von Paris, Ressentiments und Menschenfeindlichkeit Jahre vor der hilfesuchenden Menge von Flüchtlingen zu beobachten. Zehn Jahre lang hat eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um Wilhelm Heitmeyer die Entwicklung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beobachtet und das Ergebnis 2012 in „Deutsche Zustände“ zusammengefasst: „Daher sollten wir der rohen Bürgerlichkeit auch weiterhin unsere Aufmerksamkeit widmen, einer Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische und physische Integrität antastbar macht und dabei zugleich einen Klassenkampf von oben inszeniert.“
Schlagwörter: Georg Rammer, Gewalt, Psychologie, Terroranschläge