18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Irrwege

von Renate Hoffmann

Wer hat sie nicht schon beschritten, die Wege, die in die Irre führen, denen man sich hoffnungsvoll anvertraute, und die im Nichts endeten? Umkehr und Richtungswechsel und erneuter Anlauf. Vielleicht führt er zum ersehnten Ziel. Vielleicht auch nicht. Irrtümer erlauben das Herumtreiben auf unbekannten Pfaden. Ein verlockendes Spiel. Mit Verlust und Gewinn.
Zuerst gab es das Labyrinth. Nicht wirklich. Es geistert durch die Mythologie. Beladen mit Symbolkraft und verbunden mit dem Palast von Knossos auf der Insel Kreta. Wirklichkeit und Unwirkliches verschmelzen hierbei. Die schaurig-schöne Geschichte verdient es, noch einmal erzählt zu werden: Der jüngste Knossos-Palast (es entstanden mehrere im Lauf der Zeiten) besaß – Grabungen zufolge – mehr als 800 Räume. Wen erstaunt es, dass selbst Daidalos, der sagenhafte Baumeister des sagenhaften Königs Minos sich kaum darin zurechtfand. In diesem „Haus der Labrys“, welches zum „Labyrinth“ wurde und zum Vergleich für Irrungen jeglicher Art, hielt der König den Minotaurus gefangen. Eine Missgestalt aus Mensch und Stier. Theseus, der Athener, traf ein, um das menschenfressende Untier zu besiegen. Es gelang. Minos’ Tochter Ariadne verliebte sich in den jungen Helden und half ihm mit einem Garnknäuel, dem „Ariadne-Faden“, aus den verwinkelten Gängen wieder herauszukommen.
Das Paar floh von Kreta und hielt auf der Insel Naxos, wohin sie wahrscheinlich ein Sturm geweht hatte, Rast. Nun kamen dem Draufgänger Theseus Bedenken wegen der versprochenen Ehe mit Ariadne. In der Nacht schlich er ans Ufer und segelte auf und davon. Das war ziemlich gemein. – Von der verlassenen Königstocher verblieb der sprichwörtliche „Faden“. Obgleich er im Labyrinth nicht vonnöten ist. Denn es gibt darin nur einen Weg, ohne Verirrungen. Er ist vorgezeichnet und geleitet zumeist vom Osten aus zur Mitte und von dort westwärts hinaus. Anfangs führten sieben Umläufe ins Zentrum. Später fügte man weitere hinzu. Auf langem Wege wandern, Geduld üben und nach der eigenen Mitte suchen, legen den Vergleich mit dem Gang durchs Leben nahe.
Ähnlich empfand man bereits vor unserer Zeitrechnung. Labyrinthe auf Tontafeln (Nordgriechenland), als Münzprägungen und in Stein geritzt, belegen es. Gotische Kathedralen nahmen sie als Bodenmosaiken auf (Amiens, Chartre).
Anders hingegen der Irrgarten. Er zählt zur Architektur der Gartenkunst, dient dem Vergnügen und überlistet den Orientierungssinn. Man betritt ein System aus „Irrungen, Wirrungen“. Muss umkehren, weil eine Sackgasse narrt. Steht ratlos an Kreuzungen, lässt sich auf Nebenwege ein, die vom Ziel – dem Mittelpunkt – wegführen. Diese Wanderung ist nicht geradlinig. Mühe, Enttäuschung, erhöhte Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit begleiten den Schritt. An mancher Ecke lauert auch die Angst. Dann ist‘s nicht mehr weit her mit der Vergnüglichkeit. Endlich in der Mitte angelangt, folgt auf den Moment der guten Leistung die bange Frage: Wird man das Rätsel des Rückweges lösen können? – Für die Auseinandersetzung mit den Lebensumständen und die Mobilisierung eigener Kräfte steht der Irrgarten als gültige Parabel.
Die Spätrenaissance erfand das grüne Verwirrspiel aus hohen Hecken, die weder über-, noch durchschaubar sein dürfen und im Zentrum ein Merkmal tragen. Sei es ein Brunnen, eine Figur oder ein Baum. – So raffiniert die Idee, so schwierig die Umsetzung. Nicht jedes Gewächs eignet sich für den Heckengarten. Langlebig soll er sein, den akkuraten Schnitt vertragen und die Undurchsichtigkeit garantieren. Die Wahl fällt auf Hainbuche, Liguster, Buchsbaum. Favorit aber bleibt die Eibe (Taxus baccata) mit ihrem warmen Dunkelgrün.
In den barocken Parkanlagen galten die Heckenirrgärten als erlesene Rarität. In der Folgezeit verloren sie allerdings an Beliebtheit. Wohl auch der aufwendigen Pflege wegen. Viele von ihnen verwilderten. Manche wurden mit Sorgfalt rekonstruiert – oder gar neu angelegt. So geschehen in den „Gärten der Welt“, Berlin Marzahn-Hellersdorf. „Dort könntest du deine Konzentrationsfähigkeit prüfen und die Ausdauer“, riet man mir. Neugierig auf mich selbst, fuhr ich nach Hellersdorf. Labyrinth und Irrgarten sind hier benachbart. Ein glücklicher Einfall. Stille Betrachtung und vehementer Aufbruch in Übereinkunft.
Am Eingang zum Irrgarten informiert eine Tafel. Im Sommer 2007 waren beide Anlagen besuchsbereit. Der Heckengarten folgt dem Vorbild des „Hedge Maze“ im königlichen Park von Hampton Court bei London. Gepflegt, gehegt und überlebt seit dem Jahre 1691. Dem Labyrinth liegt das Bodenmosaik der Kathedrale von Chartre zugrunde (Ehrfurcht beschleicht). Das Areal der möglichen Irrtümer umfasst 1.800 Quadratmeter und besteht aus 1.225 Eiben von zwei Metern Höhe, die eine Heckenlänge von etwa 750 Metern bilden. Der eigentliche Irrweg beträgt 600 Meter mitsamt vier Sackgassen und drei Wegeschleifen (die Ehrfurcht wächst).
Beklommen, aber mutig trete ich ein. Wenige Meter nach rechts und schon ist die erste Sackgasse erreicht. Ich weiß nicht, ob das einen Erfolg darstellt. Zurück und neuer Versuch nach links. Herbstlaub bedeckt den gepflasterten Weg. Die ersten Irrenden kommen mir entgegen. Leicht erschöpft, fragen sie nach dem Ausgang. „Er ist ganz in der Nähe.“ Nach dieser Auskunft beleben sich ihre Mienen. Gespräche durch die Hecke, doch niemand ist zu sehen. – Abruptes Ende, Umkehr, Neuorientierung. Blätter des Ginkgobaumes, der die Mitte des Irrgartens kennzeichnet, wirbeln über die dunkelgrünen Eiben. Demzufolge müsste das Zentrum nahe sein. Ist es aber nicht. Der Gang leitet weit ab und mündet in die nächste Sackgasse. Allmählich gewinnt die Vorstellung vom großen Lebensirrtum Raum.
Wiederholt begegnet man sich, lächelt verlegen und hebt hilflos die Schultern. „Wissen Sie, wie man die Mitte erreicht?“ „Nein, aber Beharrlichkeit führt zum Ziel.“ „Sie haben gut reden, wir waren schon öfter an dieser Ecke.“ Gelächter. Überraschtes „hier waren wir doch schon mal!“. Kinder äußern unter Tränen ihre Angstgefühle. Die Eltern trösten mit in Aussicht gestelltem Schokoladen-Eis. – Dann ist der Mittelpunkt erreicht. Ein kleiner Platz, eine Rundbank und ein blauer Turm. Man setzt sich, stolz über das Erreichte, unter den Ginkgobaum, der seine goldgelbe Pracht fast verloren hat, und fühlt sich wie ein Held.
„Mathematisch exakt, aber man findet nicht rein und nicht raus.“ „Ich hab’s schon dreimal versucht, jetzt hab‘ ich mir einen Plan gekauft.“ Mit einiger Genugtuung hört man vom sicheren Horte aus die suchenden Stimmen im Umfeld: „Hier lang.“ „Nein, die Mitte ist doch dort!“ Und aus der Ferne ein erlösender Schrei: „Wir haben den Ausgang gefunden!“
Ich ersteige den blauen Turm. Unter mir breitet sich, gut überschaubar, der grüne Irrtum. Die Wege sind geometrisch genau ausgerichtet und doch verschlungen. Dem Leben gleich. Zwischen den Heckenwänden wandeln die Suchenden, winken herauf und gestikulieren. Ich gestikuliere zurück. Doch seinen Weg muss jeder nach eigener Manier finden.
Beim Passieren des Ausgangs halte ich mir zugute, auch ohne Irrgarten-Orientierungsplan das Verwirrspiel gewonnen zu haben. Zuzüglich der Erkenntnis, dass Irren eine weitverbreitete menschliche Eigenschaft ist.