18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Gysi missversteht den Versailler Vertrag

von Helmut Donat

Gregor Gysi ist sicher kein Deutschnationaler. Umso mehr überrascht es, dass er deutschnationalen Geschichtsklitterungen das Wort redet. Seine ahistorische Versailles-Rezeption ist hier schon einmal als unhaltbar zurückgewiesen worden. In diesem Jahr nun hat er noch eins draufgesetzt – und sich damit erneut in die Niederungen der deutschnationalen und nationalsozialistischen Anti-Versailles-Propaganda begeben. Am 30. März 2015 verlautbarte er im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise in der Berliner Zeitung: „Ich verstehe die deutsche Regierung nicht. Mit dem Versailler Vertrag hat man versucht, Deutschland kaputtzumachen. Das hat Hitlers Aufstieg erleichtert. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Siegermächte viel klüger und haben mit dem Marshall-Plan Deutschland aufgebaut.“ Und erneut für Verbreitung gesorgt hat kürzlich das linke Monatsmagazin konkret, dass Gysis Unverständnis in seiner Oktober-Ausgabe wiedergegeben hat.
Die im Jahre 1981 Aufsehen erregende „SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen“ gelangte zu dem Ergebnis: „13% aller Wähler in der Bundesrepublik verfügten über ein geschlossenes rechtextremes Weltbild.“ Zugleich wies die Studie darauf hin, dass die Rechtextremisten und Rechtskonservativen der frühen 1980er Jahre die Meinung vertraten: „Der Zweite Weltkrieg habe seine Wurzel im ‚Versailler Diktat‘, so dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wenn nicht die Hauptschuld, so doch eine erhebliche Mitschuld treffe.“
Gysi lässt die Legende, dass der Versailler Vertrag in beträchtlichem Maß zum Sturz der Weimarer Republik beigetragen habe, wieder aufleben. An ihrer Verbreitung beteiligten sich nach 1949 fast ausnahmslos bundesdeutsche Historiker und Publizisten. Der Zweite Weltkrieg sei, so ihr Standpunkt, zwar von deutscher Seite verursacht worden; aber die Entente-Mächte hätten mit „Versailles“ den Grund für 1933 und 1939 gelegt – eine von den vielen rechtfertigenden Sichtweisen, eigene Schuld zu relativieren. Zielgerichtet lud man die Verantwortung an allem Übel den früheren Siegermächten und dem Friedensvertrag von Versailles auf. So kann man es auch heute noch in manchen Geschichtsbüchern nachlesen. Vergeblich sucht man in ihnen danach, worauf die von Deutschland zu leistenden Wiedergutmachungen beziehungsweise Reparationen (wie die Lieferung von Kohle und Telegraphenstangen an Belgien und Frankreich) beruhten und in welchem Ausmaß sie die deutsche Wirtschaft wirklich belasteten. Von den Industrienationen der Welt hatte Belgien 1914 an vierter Stelle gestanden. Infolge der deutschen Raub- und Zerstörungspolitik hat es diesen Status nach 1918 nie mehr erreicht. Bereits wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg stand Deutschland indes ökonomisch besser da als das von ihm überfallene und ausgeplünderte Belgien.
In gewisser Weise könnte man Gysi dankbar sein. Seine Haltung dokumentiert, wie sehr es die nach 1945 erfolgte Legendenbildung in Sachen „Versailles“ bis heute verhindert, die Deutschen über den Weg ihrer Geschichte wirklich aufzuklären. Und aus welchen Gründen und von wem auch immer sie auch heute verkündet wird – die Legende trägt weiterhin dazu bei, dass Menschen unserer Tage erneut in die Irre gehen, ja vielleicht gehen müssen, weil ihnen im Elternhaus oder im Geschichtsunterricht und in den Medien nichts anderes erzählt wurde und wird. Insofern ist Gregor Gysi Opfer der deutschnationalen Propaganda von den „Ketten von Versailles“ erlegen. Indem er sich aber auf ihren Boden stellt, begibt er sich auf die Seite der Täter und rechtfertigt damit deren chauvinistisches Bemühen, „Versailles“ als „kaputtmachend“ hinzustellen. Er reiht sich damit ein in die Anti-Versailles-Abwehrfront der 1920er Jahre.
Eine nüchterne und politisch unbelastete Analyse des Versailler Friedens, wie sie etwa der Nationalökonom Oskar Stillich in seinen Schriften vorgenommen hat, verdeutlicht hingegen, wie sehr die Ansicht, „Versailles“ sei schuld am Aufkommen und Erstarken der faschistischen Bewegung in Deutschland, den Geschichtsverlauf geradezu auf den Kopf stellt. Vielmehr war die Wirkung der Propaganda gegen die sogenannten „Ketten von Versailles“, verbunden mit dem Ziel, die verloren gegangene Machtstellung Deutschlands wiederzuerlangen, so tiefgreifend, dass sie weit über die der NSDAP oder den Deutschnationalen zugehörenden Teile des Volkes hinausging. Wie ein Spinnennetz hat sich die aus Regierungsgeldern mitfinanzierte, von Parteien wie der SPD und KPD, den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden mitgetragene Kampagne über das gesamte deutsche Reich und – wie ein eiserner Ring – um die Köpfe der Deutschen gelegt. Insofern hat die Revisions- und Hasspropaganda gegen das Versailler Friedenswerk dem Nationalsozialismus nicht nur faktisch, sondern notwendigerweise den Boden bereitet. Der Glaube, Deutschland sei in Versailles zu Unrecht für die Folgen des Krieges haftbar gemacht worden, war für die Propaganda der Nazis so nötig wie die Luft zum Atmen.
Gregor Gysis Meinung, die Siegermächte seien nach 1945 klüger gewesen und hätten mit dem Marshall-Plan „Deutschland aufgebaut“, vernachlässigt gleich mehrere Aspekte:
Erstens: Die Siegermacht Sowjetunion hatte nichts mit dem Marshall-Plan zu tun. Sie hat von den Alliierten mit über 27 Millionen Toten und einem systematisch zerstörten Land die schwerste Last des Zweiten Weltkrieges getragen und daher aus der von ihr besetzten Zone zahlreiche Demontagen von Betrieben und Maschinen durchgeführt, um sie als Reparationen im eigenen Land zu verwenden. Angesichts der Tatsache, dass die Menschen der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR-Bürger zudem keine Marshall-Plan-Hilfe erhielten, wirkt es wenig einleuchtend, dass gerade Gysi den Siegermächten nach 1945 „Klugheit“ attestiert. War es wirklich „klug“, Deutschland und Europa zu spalten, die Remilitarisierung herbeizuführen und eine bis dahin unvorstellbare Hochrüstung in Gang zu setzen? Gab es wirklich keine andere Option, Deutschland und Europa zu befrieden?
Zweitens: Dem Marshall-Plan vorweg ging am 19. September 1946 die berühmte Züricher Rede von Winston Churchill, in welcher der britische Premierminister die Deutschen einlud, am Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa mitzuwirken, und sich zugleich dafür aussprach, über die Vergangenheit den Mantel des Schweigens auszubreiten. Frankreich und Deutschland sollten sich mit England und den USA verbünden, um die Herrschaftsansprüche der Sowjetunion einzudämmen. Eine Folge des damit angekündigten „Kalten Krieges“ war, dass die Altnazis und Deutschnationalen Morgenluft witterten und sich den Plänen der Westalliierten rückhaltlos zur Verfügung stellten. Mit großem Erfolg, wie wir nicht erst seit den Filmen über Fritz Bauer wissen. Die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ war damit spätestens seit 1948/49 auf Eis und für Jahrzehnte ad acta gelegt – mit all den Folgen des damit verbundenen Unrechtes für die Opfer und der politisch sanktionierten gesellschaftlichen Wiedereingliederung von NS-Tätern.
Drittens: Im Rückblick betrachtet, haben die Siegermächte nach 1918 in der Tat einen gravierenden Fehler begangen. Allerdings nicht in dem von Gysi gemeinten Sinne. Sie beschnitten zwar die Machtpositionen des unterlegenen Kriegstreibers, beließen ihm aber die staatliche Souveränität. Anders nach 1945, als man Deutschland in vier Besatzungszonen aufteilte und damit die Lehre aus dem Umgang der Deutschen mit dem Frieden von 1919 zog, der aus deren Sicht keiner war, sondern nichts weiter darstellte als einen Knebelungsvertrag, den es auszuhebeln galt. „Versailles“ tastete das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nicht an. Man glaubte, sie seien fortan in der Lage, die militaristisch-nationalistischen Kräfte in ihrem Land im Zaum zu halten und den Frieden in Europa zu bewahren. Als weitsichtig erwies sich lediglich eine kleine Gruppe im französischen Ausministerium; sie schlug für die Zeit nach 1918 genau das vor, was nach 1945 geschehen sollte: Einmarsch in Deutschland und Aufteilung in Besatzungszonen. Doch man entschied sich, die Deutschen nicht zu demütigen und die französischen Truppen nicht durch das Brandenburger Tor marschieren zu lassen. Hätte man es getan, die Dolchstoßlegende und das „Im Felde unbesiegt!“ wären erst gar nicht entstanden. Wohl hätten zahlreiche Deutsche Zeter und Mordio geschrien, aber der Welt und ihnen selbst wäre womöglich viel erspart geblieben.
Der Versailler Vertrag mag hart gewesen sein, unerfüllbar war er indes nicht. Vor dem Hintergrund, wie ein deutscher Friede ausgesehen hätte, und angesichts des mutwilligen, von der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff angeordneten Zerstörungswerkes der deutschen Truppen während der Besatzungszeit sowie auf dem Rückzug in Nordfrankreich und in Belgien nimmt sich das Vertragswerk von 1919 geradezu milde aus.
Gregor Gysi sei nochmals geraten, seine der deutschnationalen Sichtweise verpflichteten Versailles-Rezeption zu revidieren.