18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Wessen Weg kreuzte sie nicht?

von Mathias Iven

Zugegeben, die Lektüre ist ein wenig anstrengend und beim ersten Lesen wird man wohl kaum all das verarbeiten können, was die akribische Recherche von Thomas Blubacher zutage gefördert hat. Wie schon in seinem letzten Buch über das Geschwisterpaar Eleonora und Francesco von Mendelssohn, das bereits zahlreiche Verweise auf Ruth Landshoff-Yorck lieferte, wird auch dieses Mal wieder ein durch ein exzessives „Namedropping“ bestimmtes Panorama ausgebreitet. Doch diese Flut von Namen muss sein.
Schon früh fiel der 1904 in Berlin geborenen Ruth Landshoff-Yorck eine offenbar nicht zu unterschätzende vorbildhafte beziehungsweise identitätsstiftende Rolle in der hauptstädtischen und europäischen Bohème zu. „Sie war“, so die Charakteristik Blubachers, „Glitzergirl, Stilikone und Dichtermuse, vielfältig begabt und mit dem Glück gesegnet, dass sich ihr fast alle Türen wie von selbst öffneten“. Ein „It-Girl“ wie Paris Hilton, das virtuos an allen Strippen zog, um sich Vorteile zu verschaffen oder auch anderen zu ihrem Glück zu verhelfen.
Für den Biographen stellt solcherart Lebensentwurf in jedem Fall eine Herausforderung dar, geht es doch in erster Linie um einen ungeschönten Blick auf die Tatsachen. Im Fall von Landshoff-Yorck ein für Blubacher nicht immer zufriedenstellendes Unterfangen. Zeigte sich ihm die Protagonistin doch vom Beginn seiner Untersuchungen an als eine „Meisterin der geschickten Selbstdarstellung“, die selbst die Bürokratie zu täuschen wusste. In den offiziellen Dokumenten fand er Widersprüchliches und Falsches, nicht alles ließ sich exakt datieren, „und doch konnte vieles erhellt werden“.
Werfen wir einen kurzen Blick auf das reich bewegte Leben von Ruth Landshoff-Yorck. Noch als Schülerin stand sie im Sommer 1921 zum ersten Mal vor der Kamera. Ein, wie sie sich selbst beschrieb, „aufgeregtes Mädchen, atemlos und unwissend“, hatte die Rolle der Annie in Murnaus heute als Klassiker geltendem Film Nosferatu erhalten. Fünf Szenen, rund zwei Minuten – mehr war es nicht. Und mehr sollte es auch nicht werden. Einige Zeit nahm sie Schauspielunterricht, spielte kleinere Theaterrollen. Doch Ende der zwanziger Jahre musste sie sich eingestehen: „Einer Sache war ich mir sicher. Ich würde keine Schauspielerin bleiben. Offensichtlich war Gott dagegen.“
Kurz vor dieser Entscheidung präsentierte sie ihr literarisches Debüt: „Das Mädchen mit wenig PS“, ihr erster Artikel, erschien im November 1927 in der vom Ullstein-Verlag herausgegebenen Lifestyle-Zeitschrift Die Dame. Anfangs waren ihre Beiträge „fast ausnahmslos locker-flockige Feuilletons“, doch in den folgenden Jahren – bis 1933 werden jährlich rund 20 Feuilletons aus ihrer Feder gedruckt – wich ihr Plauderton zusehends „einer poetischeren und verdichteten Sprache“.
1929 legte sie – wenngleich als Privatdruck – ihren ersten, von ihr selbst illustrierten Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel das wehrhafte mädchen vor, im Herbst des darauffolgenden Jahres erschien bei Rowohlt zeitgleich mit Falladas Bauern, Bonzen und Bomben und Musils Mann ohne Eigenschaften ihr Romanerstling Die Vielen und der Eine. Lektor war Franz Hessel, ein entfernter Verwandter, die Erstauflage betrug 5000 Exemplare.
Am 16. Dezember 1930 heiratete sie in Berlin Friedrich-Heinrich Graf Yorck von Wartenburg, nur sieben Jahre später wurde die Ehe bereits wieder geschieden. Noch bevor das Scheidungsurteil rechtskräftig wurde, schiffte sich Landshoff-Yorck nach New York ein, wo sie am 17. März 1937 von Bord ging. Auch in Amerika war sie weiter journalistisch tätig, schrieb Romane und Theaterstücke. Der Schriftsteller John Latouche, der sie finanziell unterstützte, hielt 1944 in seinem Tagebuch fest: sie sei ein „Genie ohne Disziplin“.
Nach dem Krieg begann sie wieder für deutsche Zeitungen zu arbeiten, denen sie ihre „dummen lieben kleinen Feuilletons“ verkaufte. Obgleich sie sich des exilbedingten „zweisprachigen Zwiespalts“ bewusst war, der sie, wie Walter Fähnders es beschreibt, „doppelt entwurzelt und ein Heimischwerden doppelt erschwert“, versuchte sie, im Literaturbetrieb der jungen Bundesrepublik Fuß zu fassen und knüpfte vor allem im Umkreis der Gruppe 47 zahlreiche Kontakte.
Als sie am 16. Januar 1966 beim Besuch der Nachmittagsvorstellung im Foyer des New Yorker Martin Beck Theatre zusammenbrach und an einem Herzinfarkt starb, wurde das in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen.
Wer nach der Lektüre von Blubachers Biographie Lust bekommt, Landshoff-Yorck im „Original“ zu lesen, dem seien die im Berliner AvivA-Verlag herausgegebenen Bände empfohlen. Nach fünf, teils aus dem Nachlass herausgegebenen Romanen erschienen dort jüngst erstmals rund fünfzig von Landshoff-Yorcks Reportagen aus den Jahren 1927 bis 1933 in Buchform.
Das Mädchen mit wenig PS, so der ihrem ersten Artikel entlehnte Titel des Buches, versammelt mitreißende Reportagen, pointierte Alltagsskizzen und kuriose Anekdoten, geschrieben mit dem Blick des „modernen Mädchens“, das so manches Mal die Geschlechterrollen infrage stellt. Da finden sich Titel wie „Was kein Mann kann“, „Weibliche Höflichkeit“ oder „Über die Leichtigkeit zu küssen“. Man kann mit Landshoff-Yorck auf die Reise nach Paris, Venedig oder Rom gehen, oder mit ihr über Uta, die Schirmherrin des Naumburger Doms, nachdenken, so, als wäre diese eine leibhaftige Person. Landshoff-Yorck klärt uns darüber auf, dass es neben dem Orchestersnob noch den einzig für seine Ohren lebenden Grammophonsnob gibt, sie zeigt, dass der den besten Auftritt im Restaurant hat, der gleich wieder abgeht, und sie gibt Tipps für stereotype Erwiderungen auf langweiligen Feierlichkeiten.
Abgeschlossen wird der Band mit dem letzten, von ihr in einer deutschsprachigen Zeitschrift veröffentlichten Artikel „Entscheidender Augenblick“. Erschienen im April 1933 in Wien hieß es dort am Ende: „Dann nahm sie ein Taxi und fuhr zum Bahnhof. Hier kaufte sie ein neues Billet, eines, das zurückführte nördlich der Alpen – dahin, wo sie zu Hause war.“ Ihr eigener Weg führte ins Exil …
Im Doppelpack gelesen eröffnet sich die Möglichkeit, eine der unterhaltsamsten Autorinnen der Weimarer Republik kennenzulernen, die mit einem Augenzwinkern von sich selbst sagte: „Ich werde jedes Jahr von neuem entdeckt, aber wie Persephone kehre ich immer in den Untergrund zurück.“
Bleibt mit Blick auf den sich am 19. Januar 2016 zum 50. Mal jährenden Todestag von Ruth Landshoff-Yorck ein Wunsch zum Schluss: Eine gut kommentierte Briefauswahl und die Veröffentlichung der bisher unpublizierten Memoiren wäre eine verlegerische Leistung, die das bisher vorliegende Werk sinnvoll ergänzen würde.

Thomas Blubacher: Die vielen Leben der Ruth Landshoff-Yorck, Insel Verlag, Berlin 2015, 367 Seiten, 24,95 Euro.
Ruth Landshoff-Yorck: Das Mädchen mit wenig PS (hrsg. und mit einem Nachwort von Walter Fähnders), AvivA Verlag, Berlin 2015, 221 Seiten, 18,90 Euro.