18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Nach oben offene Grenzwerte

von Wolfgang Brauer

Es gibt naive Seelen, die tatsächlich glaubten, nach der Diesel-Watsche für den VW-Konzern – VW sagt „Dieselthematik“ –, würde in Sachen Abgasnormen und ihre Kontrolle alles besser. Die Autohersteller zeigten sich entweder leicht zerknirscht oder betonten, sie seien nicht VW. Einige grüne Politiker in Brüssel meinten, die Welt stehe vor einem Paradigmenwechsel. Immerhin beschloss das Europäische Parlament am 23. Oktober „mit großer Mehrheit“, dass „realistische Abgastests die Regel werden“ sollten!
Zumindest in Deutschland wurde nach Auskunft von Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umweltstiftung, Ende September gegenüber dem Deutschlandfunk bislang „überhaupt nicht geprüft“: Das Kraftfahrtbundesamt überprüfe lediglich die Plausibilität der von den Herstellern vorgelegten Prüfunterlagen, „man möchte nämlich die Industrie nicht behindern“.
Wer nun annimmt, präzisere Kontrollen führten zu einer vermehrten Stilllegung Stickoxid (NOx) spuckender Gefährte erliegt finsterstem EU-Aberglauben. Wenn es drauf ankommt, sind die Brüsseler Verwalter immer noch schneller als die Straßburger Diskutierer. Wenige Tage nach der Parlamentsabstimmung legte der „Technische Fachausschuss“ (was es nicht alles gibt!) der EU-Mitgliedsländer fest, dass der Stickoxid-Grenzwert der Euro-6-Norm – bislang regelte der eine Zulässigkeit von 80 Milligramm Stickoxid pro gefahrenem Kilometer – für neue Modelle ab 2017 um den Faktor 2,1 überschritten werden darf. Die Neuwagen dürfen dann also bis zu 168 Milligramm NOx ausstoßen. Allerdings kommt man dem Parlament entgegen: Die Schadstoffwerte sollen nunmehr im realen Fahrbetrieb (Real Driving Emissions) gemessen werden. Dem Vernehmen nach haben sich die „Diesel-Nationen“ Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden und die Slowakei durchgesetzt – gegen die Niederlande. Aber deren Jahre sind nach den neuesten Meeresspiegelprognosen eh gezählt… Beträchtlich ist allerdings der Symbolwert der jüngsten Brüsseler, nur scheinbar technischen Entscheidung: Deutlicher kann die Europäische Kommission dem Parlament nicht zeigen, was man auf der Brüsseler Verwaltungsebene von ihm hält. Von diesen Piesepampeln lässt man sich doch die Lust am neuen SUV der Gattin nicht vermiesen!
Ach so, was ist eigentlich mit VW? Der Wolfsburger Konzern hatte sich im Oktober die Jahresprognose 2015 schöngerechnet: Man prognostizierte 1,7 Milliarden Euro Jahresverlust, setzt weiter auf China (Merkel-Besuch!) und rechnet den im Sommer dieses Jahres erfolgten Verkauf der Suzuki-Anteile gegen die Verlustrate hoch. Suzuki brachte 1,5 Milliarden Euro ein. Bei tapferem Ignorieren der 6,7 Milliarden (!) Rückstellungen für die Bereinigung der „Dieselthematik“ errechneten die VW-Manager eine operative Marge von 5,5 bis 6,5 Prozent. War da überhaupt was?
Allerdings hat die „Dieselthematik“ inzwischen auch die Porsche AG erreicht. Deren SUV-Marke „Cayenne“ – die startet erst bei den 3,0-Liter-Formaten – pustet wohl genau das hinten raus, wonach diese Art Gefährt aussieht: Die Latte der Euro-6-Norm wird locker gerissen. Bis vor kurzem war bei Porsche ein gewisser Matthias Müller Chef. Seit dem 25. September ist er das für den Mutterkonzern. Dass die „Thematik“ bei VW offenbar auch auf die Benziner übergriffen hat, kann ihm daher kaum allein angelastet werden. Sicherheitshalber munkelt man in Wolfsburg schon mal über weitere zwei Milliarden Risiken. Audi, Seat und ŠKODA hängen seit Mittwoch vergangener Woche mit im Strudel drin.
Neben den geschönten Prognosen und taffen Sprachregelungen hat die VW-Spitze eine weitere Schlussfolgerung schon ein paar Tage eher gezogen. Man wolle eben nicht unbedingt „100.000 Fahrzeuge mehr oder weniger als ein großer Wettbewerber [das geht gegen Toyota – Anm. W.B.] verkaufen“, sondern mehr auf Qualität setzen, erklärte der neue VW-Chef. Auch das wird funktionieren. Bei der Schützenhilfe aus Brüssel, Hannover und Berlin… Der Verband der Automobilindustrie säße de facto mit am Kabinettstisch, erklärte am Jürgen Resch dem ARD-Magazin „plusminus“ am Tage nach der Benziner-Offenbarung – hier geht es übrigens um ganz banale manipulierte CO2-Werte und um mindestens 20 Prozent zu niedrig angegebene Spritverbrauchswerte. Was nun genau unter Qualität zu verstehen sei, das hat Müller nicht gesagt.
Vielleicht muss er das auch bald nicht mehr: Das Handelsblatt stellte bereits die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Porsche-Piëch-Clan-Favoriten. Am vergangenen Dienstag sackte die VW-Vorzugsaktie zeitweise um 5,1 Prozent ab. Im Dax hat sie derzeit die rote Laterne übernommen. Seit Beginn des „Dieselgate“ verlor sie runde 30 Prozent an Wert. Und noch ist nicht klar, was die Affäre wirklich kosten wird: Binnen weniger Tage liefen allein in den USA mindestens 300 Klagen gegen den Konzern auf. Handelsanalysten prognostizieren die sehr wahrscheinlichen Einbrüche in den Verkaufszahlen bei den Privatkunden erst für Ende November/Anfang Dezember. Das dicke Ende kommt also noch.
Im Hause Springer hat man sich übrigens auch schon auf Matthias Müller eingeschossen: Süffisant wurde sein Auftritt auf dem 21. Leipziger Opernball registriert. Dort schlürfte er zur Empörung des Leitmediums aller deutschen Empörten mit neuer Freundin Schampus. Auf der üblichen Tombola gab es – wie BILD berichtete – einen roten „Porsche Cayman“ zu gewinnen. Der „Cayman“ ist allerdings ein Benziner – aber in der Woche zuvor musste Porsche einräumen, dass fast 59.000 Fahrzeuge in die Werkstätten müssen: wegen defekter Benzin-Schläuche. Am vergangenen Mittwoch wurde bekannt, dass VW ausgerechnet in den USA 91.800 Fahrzeuge wegen eines Nockenwellenproblems („die Nockenwellen-Thematik“…) zurückrufen muss. Betroffen sind auch Benziner der Marken „Jetta“, „Beetle“, „Passat“ und „Golf“ der Modelljahre 2015 und 2016, wie FOCUS-ONLINE berichtete.
Viele meinen noch immer, das Gütesiegel „Made in Germany“ bürge für Qualität. Eingeführt wurde es von den Briten am Ende des 19. Jahrhunderts – um die Verbraucher des Königreiches vor deutschen Billigimporten mit miserablen Qualitätsmerkmalen zu schützen. Wer behauptet da noch, Geschichte wiederhole sich nicht?