18. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2015

Hammelburger Geheimnisse

von Renate Hoffmann

Es herbstelt. Der Wandertrieb treibt südwärts. Nach Unterfranken, an den Flusslauf der fränkischen Saale, die sich vom Südrand der Rhön bis zum Main durch eine bilderreiche Landschaft schlängelt. Enge mit Wäldern und Burgen, Weite mit Feldern und Wiesen. Und mit Rebhängen, je weiter sich die Saale dem großen Bruder Main nähert.
Das Städtchen Hammelburg, vom Geschlängel des Flusses begleitet, lehnt sich an eine bewaldete Hügelkette, die bis zur Höhe mit Weinstöcken bestanden ist. Mit Fug und Recht – sogar von Carolus Magnus in einer Schenkung beglaubigt, in der auch Weinberge aufgeführt sind – darf sich Hammelburg „Älteste Weinstadt Frankens“ nennen. Welch hohe Auszeichnung für sie und ihre Weine, die man als „eigenwillig und charaktervoll“ bezeichnet. Die Muschelkalkvorkommen an den Hängen geben ihnen diese Eigenwilligkeit.
Der warme, stille, frühherbstliche Nachmittag lädt zum Spaziergang ein. Er soll zu einer Besonderheit der Stadt führen, die außer guten Weinen und ihrer uralten 1299-jährigen Geschichte ein modernes Geheimnis birgt. Es sei nicht leicht aufzufinden, hieß es, und man müsse schwindelfrei sein. Geheimnisse bedeuten dem Neugierigen viel.
Mit einer Skizze versehen, wandere ich durch die Weinberge, vorbei an den gepriesenen Rebsorten: Müller-Thurgau, Silvaner, Bacchus, Riesling und den anderen mit glanzvollen Namen. Die Fernschau geht hinüber zu den Saale-Auen, einem Landstrich, der Ruhe ausstrahlt. Höher hinauf zur Waldregion des Hammelberges. Der Weg führt am steilen Abhang der Felsformation entlang und berechtigt nun zu sagen: Tief unten liegt … Hier oben aber würde ich dem Geheimnis begegnen, den rätselhaften Figuren, deren Herkunft und Sinngebung bislang ungelöst blieben.
Die Umstände: Zur Osterzeit des Jahres 2000 entdeckten Wanderer in schwindelnder Höhe des Steilhangs eine weibliche lebensgroße Skulptur. Schlank, in weich fallendes Gewand gehüllt, den leicht geneigten Kopf mit einem Tuch bedeckt. Sie trägt ein aufgeschlagenes Buch und scheint mit einer offenen Gebärde das Gelesene erklären zu wollen. Auf 240 Kilogramm Körpergewicht schätzte man die schlanke Schöne aus Beton. Wie kam sie unbemerkt herauf? Wer ist sie? Welchem Atelier ist sie entstiegen? Was möchte sie mitteilen? Und wem? – Die Hammelburger rätselten. Und beschlossen, zum besseren Verständnis müsse sie einen Namen erhalten. Man befand, dass „Amalberga“ ihr wohl anstünde. Historisch gut gewählt. – Die Königreiche Thüringen und Franken lagen in den Jahren 531 bis 534 in heftiger Fehde. Thüringen verlor. König Herminafried kam zu Tode. Seine Königin Amalaberga, Nichte Theoderichs des Großen, floh nach Ravenna.
„Amalberga“ erhielt Gesellschaft. Ein Jahr nach ihrem Erscheinen saß, bequem zurückgelehnt auf einem thronähnlichen Gestühl, ein älterer Mann. Weise lächelnd und sinnend über das Tal blickend. Wieder am Steilhang platziert, wieder ungesehen heraufgekommen. Mit seinen geschätzten 600 Kilogramm (samt Thron) wurde die Transportfrage noch rätselhafter. Nach einigem Hin und Her bezeichnete man den Herrn, der zeitweilig auch Goethe vorstellen sollte (den Geheimrat hätte es ernstlich befremdet!), als den „Philosophen“. Das ist nicht abwegig. Hat doch die Stadt ihren großen Sohn. Daniel Stahl (1589-1654), gebürtiger Hammelburger, Professor für Logik und Metaphysik an der Jenaer philosophischen Fakultät. Zeitweilig Dekan und 1631 Rektor der Alma Mater.
Man ahnte schon, dass der „Philosoph“ nicht allein bleiben würde. Ein Jahr verging (Oktober 2002) und eine schmalhüftige junge Frau von zierlicher, wohlgeformter Gestalt fand sich ein. Ebenfalls ohne Aufsehen angekommen. Ihrer vollkommenen Figur wegen wurde sie bald zur „Tänzerin“, der man ansieht, dass sie sich wundervoll biegen und drehen kann. Nur Sprünge darf sie nicht wagen. Der luftige Standort erlaubt es nicht. – Trotz der kleinen Standfläche gesellte sich im Jahr darauf ein Gefährte zu ihr. Ein Knabe. Wird man ihn Robert nennen? Er greift nach ihrer Hand, doch sie kommt ihm nicht entgegen. – Inzwischen ein neues Ereignis. „Amalberga“ entschwand. Bei Nacht und Nebel. Nur Fotos bleiben von ihr und Geschichten, die im Umlauf sind.
Den „Philosophen“ sehe ich erst, nachdem ich ihn zweimal übersah. Der alte Herr versteckt sich unterhalb des Wanderpfades. Er zieht es vor, allein zu sein. Verständlich. Mit Respekt und Vorsicht steige ich zu ihm hinunter. Leger sitzt er auf dem Thronsessel aus Muschelkalk und Sandstein, von zwei Löwen behütet. Seine hellgrüne, faltenwerfende Jacke ist ein wenig geöffnet. Man sieht, dass der namenlose Künstler ihm kein Hemd unterzog. Die graublaugrünliche Hose (Farbmischung wahrscheinlich witterungsgeschuldet) fällt locker. Der „Philosoph“ schlägt seine Füße übereinander und schaut und denkt und resümiert. – Was ihn mit Goethen in Weimar verbinden könnte, wären dessen Worte: „Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen.“ Sonst aber erweckt er den Eindruck eines Lebenserfahrenen, der sich über den Lauf der Dinge seine Gedanken macht und den lieben Gott einen frommen Mann sein lässt. Vielleicht las er auch dieser Tage im Buch des Hammelburger Philosophen-Kollegen Stahl: „Philosophia moralis, sive Ethica“, fand manches darin von Gültigkeit und hätte wohl auch zustimmend genickt, wenn es ihm gelänge.
Zur „Tänzerin“ finde ich nur mit Hilfe eines ortskundigen Spaziergängers. Wie schön sie ist. Das fließende, zartblaue Trägerkleid betont ihre Schlankheit und die edle Haltung. Ein kunstvoll geschlungenes rotes Tuch umspielt Kopf, Hals und Nacken. Vergleiche ich beide Frauen („Amalberga“ nur fotografisch) miteinander, so drängen sich Ähnlichkeiten auf. Hatten sie ein und dasselbe Modell? – Den Knaben Robert neben der „Tänzerin“, halte ich für einen aufgeweckten, neugierigen Hans-guck-in-die-Luft, der die Weltentdeckertour im Blick hat und weniger die Harmonie seiner Partnerin.
Durch die Weinberge und den ausklingenden milden Tag gehe ich wieder zur Stadt. Sie kann im nächsten Jahr ein großes Jubelfest feiern – 1300 Jahre Hammelburg; Erstnennung am 18. April 716. Werden die unbekannten, unbenannten Figurenkünstler und / oder deren Mäzen für eine Überraschung auf dem Hammelberg sorgen, sozusagen als Jubiläumsgabe? Bacchus? Eine Wald- oder Bergnymphe aus seinem Gefolge? Kehrt „Amalberga“ aus Ravenna oder von irgendwoher zurück? Freizügigkeit den Ideen – man wird sehen.