18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Norwegische Ansichten: Aus der Zeit gefallen?

von Eckhard Mieder

Das letzte Buch von Grass ist erschienen. Die Todesursache des Eisbären Knut ist geklärt. In Heidenau werden Asylanten bedroht und die anreisende Bundeskanzlerin beschimpft. Dann gibt es noch Lenins Granit-Kopf, der in einem Köpenicker Waldstück ausgebuddelt wird. Du findest, in Deutschland hat sich nichts verändert, seit du vor vier Wochen zum Wandern nach Norwegen aufgebrochen warst und nun heimgekehrt bist.
So eine Rückfahrt ist jedes Mal mit Neugier verbunden. Du steigst mit deiner Herzens-Begleiterin nach drei Wochen Wanderung vom Hochplateau Haddanger Vidda hinab (richtiger: die Seilbahn von Rjukan nimmt uns auf den letzten steilen 900 Höhenmetern mit nach unten), das Auto steht da, wie und wo es vor fast einem Monat abgestellt worden war. Du wirfst deinen Rucksack ab, öffnest eine Büchse Bier, die kühl zu dir ist, und fragst dich – nee, noch nicht. Später erst, ein paar Stunden später, nachdem ihr eine Hütte gemietet, geduscht habt (und die nach Zelt, Schweiß, Hirschtalgsalbe und Wanderfüßen muffelnde Wäsche ist in Extra-Tüten verstaut) –, was ist eigentlich in Deutschland und in der Welt so passiert. Regen, Kühle, Sonne, hin und wieder die Begegnung mit einem Menschen, ein kurzer Schwatz, das Wesentliche: das Woher und Wohin, und eine Natur, die dir den Atem nimmt und dich Demut lehrt – all das putzt Leib und Seele, all das wäscht aus dir nicht den „politischen Kerl“, zu dem du erzogen worden bist und der zu bleiben du verdammt bist.
Ja, verdammt, verdammt! Du hast in den Wochen da oben zwischen Bergen und Wolken nicht eine Sekunde lang die Nachrichten aus der Welt vermisst; warum dann diese Gier nach den News, denen nach die Welt sich entscheidend verändert haben könnte, denen nach du etwas verpasst haben könntest? Aber du hast nichts verpasst. Buchstäblich und authentisch nichts, nothing, nada, nitschewo.
Die Zeiten seien unruhig und gefährlich, nichts bleibt, was und wie es ist, alles fließt? I wo. Es gibt Grund-Lügen, die sich durch die Geschichte der Menschheit winden wie schlaue Schlangen. Nee: wie Schlangen, die dressiert sind von höllisch schlauen Menschen. Eine von denen gehört zur Gattung Pantha rhei. Stimmt und stimmt nicht; ist immer so die Frage nach Konserve oder nicht Konserve.
Das norwegische Staats-Fernsehen NRK (richtiger: der Kanal 1 des Norsk Rikskringkasatin, wörtlich übersetzt: Norwegischer Reichsrundfunk) ist von behutsam-tröstlicher Zugewandtheit; es liefert uns zu Lachs, Bier, Wein, zu der Heizungswärme und der wohligen Ermattung der entschlackten Leiber die Live-Übertragung von der diesjährigen Landesmeisterschaft im Stangenschießen (Stanskyting). Das ist, könnte man meinen, so spannend wie das Betrachten leise rieselnden Schnee auf ein Fensterbrett. Aber es ist richtig spannend, verblüffender Weise; für einen „politischen Kerl“ wie mich, der damals als Wehrpflichtiger mit seiner Kalaschnikow, der „Braut des Soldaten“, eine Beziehung pflegte wie ein Pärchen, in der der eine vom anderen hofft, er oder sie möge vor ihm sterben… Kurz: Dass Schießen Volkssport in Norwegen ist, begriffen wir schnell, es ist Schulsport dort, und wir Deutsche, die nicht mal in der Lage sind, jedem Schulmädchen und jedem Schulbuben das Schwimmen beizubringen… Naja, so Ähnliches dachte ich da, am Abend, in der Hütte. Und ich dachte auch, dass wir Deutsche so viel auf dem Planeten und in der Weltgeschichte herumgeballert haben (Und stehen wir in Sachen Waffenexport nicht auf einem der vordersten Plätze? Da haben wir also das Schießen delegiert und wiegen uns in der Harmlosigkeit verrosteter Luftgewehre in den Kellern unserer Kindheiten?), dass es möglicherweise nur noch ausreicht, sich in Schützen-Vereinen zu organisieren und gelegentlichen Amokläufen mit Aufgeregtheit und Spekulationen zu begegnen. Wie kann es nur passieren, dass der eine oder andere zum Gewehr greift und Leute umbringt?
Aber so politisch möchte ich, während wir dem Sport zuschauen, gar nicht sein, verdammt, nein, möchte ich nicht!
Die Schützen sind in Jacken und Westen eingerüstet wie Ritter Runkel und Co. Sie ballern aus respektablem Schießgerät, das in aktuellen Kriegen wirkungsvolle Verwendung fände. Das Publikum geht begeistert mit und trägt Ohrenschützer. Drei Sportreporter kommentieren das Geschehen, und immer faszinierter begreifen wir, dass es darum geht, möglichst viele Treffer auf ein Ziel mit unbekanntem Abstand zu setzen. So schnell wie die Jungs (und eine junge Frau namens Jenny Stene) hinter den Flinten nachladen und zielen und ballern könnte ich nicht mal meine Nase hochziehen und in ein Taschentuch schnauben! Ich mag diese Sportart. Ich liebe das norwegische Fernsehen. Und es ist mir grad mal noch schießegal, dass ich noch immer keine Nachrichten vom Geschehen in der Welt bekomme. Zwei, drei Tage noch, dann sitzen wir auf der Fähre übers Meer – und dann geht das Getöse sowieso wieder los.
Nämlich: Das letzte Buch Grass‘ ist erschienen? Das glaube ich nicht. Da kommt noch was nach. Knuts Tod ist geklärt? Das mag sein. Aber es werden immerzu Eisbären geboren; gebt fein Acht, liebe Kinder, das nächste Knuddelmonster krabbelt auf euch zu und will von Mama und Papa bezahlt werden. In Heidenau wurden Asylanten bedroht und die Bundeskanzlerin beschimpft? Ach i wo. Die Bundeskanzlerin ist sakrosankt, und Asylanten sind uns lieb und teuer. An dem Satz stimmt irgendwas nicht. Da kommt noch was nach? Etwa Lenins Kopf? Oder höre ich Schüsse beim Nachbarn? Alles fließt, wie gehabt.