18. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2015

Das Kind im Brunnen

von Hajo Jasper

Ein Kind ist in den Brunnen gefallen. Mehrere, die das bemerken, bauen sich am Rand der Zisterne auf und schauen gebannt in die Tiefe. Dass das Kind gerade am Ertrinken ist, so ihre übereinstimmende Auffassung, hat Ursachen, über die jetzt und ein für alle mal – und zwar Tacheles (!) – geredet und entschieden werden müsse. Das verlange nach einer Analyse der ursächlichen Umstände für das Desaster, dem Abwägen von Alternativen und nach einer gesetzes- und verfassungskonformen Beschlussfassung zu rigoroser Tat.
Da die Berechtigung dieser Überlegungen absolut plausibel und daher unstrittig, ist die Leidenschaft, mit der die Analyse nun vorgenommen wird, beträchtlich. Schließlich geht es um ein Menschenleben; um viele mehr sogar noch, würde sich nichts an den Rahmenbedingungen ändern! Wer also – wird scharf die Frage gestellt – trägt die Schuld daran, dass der Brunnen nicht so eingezäunt war, wie es zur Verhinderung dieses Dramas hätte sein müssen? Wer ist zur Verantwortung zu ziehen: lokal, kommunal, gesamtstaatlich, global? Wie hätten Elternhaus, Schule, und vor allem die Kinder selbst, aufgeklärt werden müssen über die Gefahren, die im Leben auf sie lauern? Wie wäre eine auf nachhaltige Sicherheit bedachte Lösung vorzubereiten, beschlussfähig zu machen und durch eine konsequente Umsetzung zu realisieren gewesen, auf dass Unglücke wie dieses sich nie mehr wiederholen könnten?
Damit hat die Debatte aber keineswegs sein Bewenden – hier ist themenspektrale Gründlichkeit angesagt. Und die erfordert, dass Debattierenden gegenseitig die Gründe ihrer scheinbar kurz bevorstehenden Überlebenshilfe hinterfragen. Will der eine nicht eigentlich nur seinen ansonsten eher ramponierten Ruf als Rambo aufbessern, indem er sich als Humanist geriert? Beabsichtigt der andere nicht in Wirklichkeit, sich der bekanntermaßen wohlhabenden Familie des Kindes anzubiedern? Schielt ein Dritter nicht nach den Pluspunkten für die Reputation seiner Partei, wenn er sich hier unbeugsam willensstark gibt und dies mit sehr prinzipiellen Argumenten zu vertreten weiß? Streben weitere nichts weiter als eine Lebensrettungsmedaille an, bei deren Verleihung sie dann ins Fernsehen kommen können? …
Die Debatte am Brunnenrand über all das  jedenfalls ist leidenschaftlich, und man gerät in Anbetracht der dramatischen Lage irgendwann denn auch zu einem parteiübergreifenden Konsens. Zum Glück sind Feder und Papier zur Hand; der nach weniger als zwei Stunden gefasste Gemeinwille wird in einem flammenden Appell festgehalten, redigiert und in seiner endgültigen Form von allen Unfallzeugen ratifiziert.
„Und wenn wir das Kind erst mal retten?“, fragt plötzlich ein Hinzugetretener. Die derweil zur Arbeitsgemeinschaft Gegen ungeschützte Brunnen konstituierten Diskutanten lassen ihn tolerant gewähren. Erst nachdem das Kind glücklich geborgen und in letzter Minute sogar hat wiederbelebt werden können, sagen sie ihm auf den Kopf zu, wie verächtlich sie seinen konzeptionslosen Aktionismus finden.