18. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2015

Britannien wählt Corbyn – eine politische Fiktion

von Marian Krüger

Nur wenige Tage nach dem fulminanten Durchmarsch des Altlinken Jeremy Corbyn an die Spitze der Labour Party veröffentlichte der britische Starautor Chris Mullin im linksliberalen Guardian ein fiktives Szenario der ersten hundert Tage des Premierministers Corbyn.
Das Szenario beginnt am 7. Mai 2020. Als die Wahlhochrechnungen, einen knappen Wahlsieg der rot-grünen Allianz des Labour-Chefs Jeremy Corbyn vorhersagen, halten das Einige noch für einen Rechenfehler. Doch als im Verlauf der Wahlnacht viele der als uneinnehmbar geltenden Tory-Hochburgen in Südengland eine nach der anderen fallen, flippt die Presse aus.
„Britannien wählt den Wahnsinn“, titelt die Sun. Der distinguiertere Telegraph, sieht das „Ende der Zivilisation“ gekommen. Auf der anderen Seite des Atlantiks genehmigt sich US-Präsident Donald Trump am nächsten Morgen im Kreise seiner Berater einen veritablen Wutanfall: „Ihr Arschlöcher habt mir immer gesagt, dass so etwas gar nicht passieren könnte. Was sollen wir jetzt machen? Sanktionen? Die Marines reinschicken?“ Doch sein CIA-Chef rät zur Gelassenheit: „Bleiben Sie einfach cool, Mr. Präsident, es ist doch noch früh am Morgen.“
Chris Mullin, der selbst von 1987 bis 2010 für Labour im Parlament saß, ist der seltene Fall eines Politikers, der auch als Romanautor erfolgreich war. Mit „A Very British Coup“ schrieb er die Geschichte des linken Labour-Premiers Harry Perkins, der der geballten Macht von Wirtschaft, Presse, Geheimdiensten und amerikanischen Freunden zu Opfer fällt. Die britische Fernsehverfilmung von 1988 verschärft die Story und konfrontiert Perkins mit einem Militärputsch, dessen Ausgang offen bleibt.
Soweit geht Mullins Story für den Guardian nicht, sie konzentriert sich ganz auf die Frage, wie eine Labour-Regierung das politische Momentum des Sieges zu nutzen verstehen könnte. Und dazu gehört nach Mullins Meinung, dass Corbyn auch nach einem historischen Wahlsieg nicht um die bitter anmutende Entscheidung herumkommen wird, Teile seines Programms zugunsten der Stabilität der Regierung auf Eis zu legen: Die großangelegten Steuererhöhungspläne werden fallengelassen. Auch die angekündigte komplette Renationalisierung der Energiekonzerne wird bis auf weiteres zurückgestellt. Großbritannien bleibt in der NATO.
Das mag in der Ohren ideologischer Puristen wie Defätismus klingen, ist jedoch keineswegs die Absage an eine linke Agenda. Deren Konturen werden etwas deutlicher, als der König, ganz im Sinne der erhabenen Tradition der britischen Monarchie, die Grundsätze von Corbyns Regierungsprogramm zu verkünden hat. Unerhörte Sätze kommen da aus dem Mund des 2020 herrschenden Monarchen, dessen Namen der diskrete Mullin nicht nennen mag: Die britischen Eisenbahnen werden verstaatlicht. Das Vereinigte Königreich erhält eine öffentliche Investitionsbank. Außerdem soll durch ein neues Mediengesetz der Einfluss großer Monopolisten, wie Rupert Murdoch, zurückgedrängt werden. Das Flaggschiff des Regierungsprogramms ist jedoch ein neues Wohnungsgesetz, mit dem die staatliche Mietpreiskontrolle eingeführt, der Verkauf öffentlicher Wohnungsbestände verboten und ein für unbestimmte Zeit geltendes Mietmoratorium erlassen wird.
Zwei scheinbar konträre Personalentscheidungen der Corbyn-Regierung ziehen zudem die Aufmerksamkeit auf sich. Die Ernennung des smarten Börsenanwaltes Chuka Umunna vom rechten Parteiflügel zum Schatzkanzler und die Einsetzung des US-Ökonomen und Nobelpreisträgers Paul Krugmann zum Gouverneur der Bank von England. Beide stehen in Mullins Story jedoch für eine gemeinsame Sache: für Quantitative Easing, also eine expansive Geldpolitik, und die Abkehr vom Rotstift. Die Konservativen befinden sich hingegen nicht nur wegen der Wahlniederlage in der Defensive, sondern weil sich ihre ökonomischen Rezepte als wirkungslos erwiesen haben.
„Sie haben versprochen, das Defizit in fünf Jahren abzubauen, dann in neun, dann in zehn Jahren und alles was dabei herausgekommen ist, bestand im Kollaps des öffentlichen Sektors“, erklärt der frischgebackene Labour-Schatzkanzler seiner konservativen Opposition. Die darauf nichts mehr zu entgegnen weiß. Jetzt sei Schluss mit dem „Defizit-Fetischismus“, lässt Mullin Umunna sagen. Mit dem Schuldenabbau werde man sich 20 Jahre Zeit lassen. Vorerst gehe es um die Wiederbelebung des öffentlichen Sektors – und die damit verbundene „geringe Erhöhung der Inflation“ sei der Preis, der für „Reparatur der Schäden“, die die konservative Austeritätspolitik angerichtet hat, zu zahlen ist.
Zum „allgemeinen Erstaunen“ bequemt sich auch noch Medien-Tycoon Rupert Murdoch eines Morgens zum Vier-Augen-Gespräch mit Premierminister Jeremy Corbyn in die Downing Street. Murdoch wittert die Chance, einen lang gehegten Plan zu verwirklichen, der 2014 an einer konzertierten Aktion der britischen Zeitungsverleger gescheitert ist: Die Mehrheit an Sky PLC zu übernehmen, dem marktbeherrschenden britischen Satellitensender. Überraschenderweise geht Corbyn darauf ein.
„Ich habe diesem Vorhaben zugestimmt“, erklärt der Premierminister des Jahres 2020. „Unter zwei Bedingungen. Erstens, dass sich Sky für die terrestrische TV-Kanäle öffnen muss. Und zweitens, das er auf die Kontrolle über alle seiner britischen Zeitungen verzichtet, die in einer Treuhandgesellschaft überführt werden, wo kein einzelner Eigentümer einen bestimmenden Einfluss ausübt. Mr. Murdoch hat dies akzeptiert. Die Gespräche fanden in einer freundlichen und sachlichen Atmosphäre statt.“
Es ließe sich gewiss trefflich darüber streiten, ob dieses ganze Szenario Mullins, das ohne die klassische Umverteilungspolitik auskommen will, plausibel ist. Es geht aber um eine andere Botschaft. Labour kann gewinnen, weil sich wegen des absehbaren Kollaps des öffentlichen Sektors ein Konsens gegen die neoliberalen Dogmen der Tories und der mit ihnen verbündeten Teile der Presse herausbildet, der bis in die Mittelklasse reicht.
Die Formel von der „Reparatur der Schäden“ bringt das ganz gut auf den Punkt. Zugleich sieht Mullin, der selbst einige Regierungsämter bekleidete, zuletzt als Staatssekretär im Außenministerium, den Konsequenzen einer erfolgreichen Einbindung der britischen Mittelklasse in die Labour-Politik illusionslos ins Auge: Sie bestehen in einer krassen Selbstbeschneidung der fiskalischen Spielräume einer künftigen Labour-Regierung.
Für ein anderes Dilemma wird dagegen eine unkonventionelle, aber schlüssige Lösung präsentiert. Mullin, zu dessen politischen Ziehvätern der Alt-Linke Tony Benn gehörte, lässt seinen Helden Corbyn gegen alle innerparteilichen Widerstände ein historisches Wahlbündnis mit den Grünen und den Liberaldemokraten durchsetzen. Millionen Stimmen von Leuten, die mit den Konservativen nichts am Hut haben, aber nicht für Labour stimmen, erlangen nun ein nie dagewesenes Gewicht. Damit wird das britische Mehrheitswahlrecht von einer sicheren Stütze zu einer Falle für die Tories.
Diese Idee ist jedoch allerdings nicht nur Fiktion, sondern in der politischen Debatte Großbritanniens bereits angekommen. Sie stammt von Caroline Lucas, die für die britischen Grünen im Unterhaus sitzt. Die Grünen haben 2015 mit über 1,1 Millionen Stimmen das erfolgreichste Wahlergebnis ihrer Geschichte erreicht, verfügen aber wegen des Mehrheitswahlrechtes lediglich über eine Abgeordnete.
Lucas schlug bereits wenige Tage nach den Parlamentswahlen im Juni 2015, Labour die Bildung einer progressiven Allianz unter Einschluss der Liberaldemokraten und der schottischen und walisischen Regionalparteien vor. Nicht erst für 2020, sondern um bei allen bevorstehenden Wahlen auf lokaler Ebene den Tories Paroli zu bieten.
Ob es Corbyn gelingt, seine Partei für diese Politik zu öffnen, ist so nicht nur eine feuilletonistische, sondern höchst realpolitische Frage, ein Lackmustest für alle, die wie er die Labour-Party zu einer linken Bewegung neu formieren wollen. Aber auch dafür ist es noch früh am Morgen.

Aus: neues deutschland-online, 22.09.2015. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.