18. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2015

Gauguins Traum vom verlorenen Paradies

von Klaus Hammer

Die wunderbare Paul-Gauguin-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel-Riehen ist im Juni mit einer Riesenbesucherzahl zu Ende gegangen. Geblieben ist der prächtige Katalog mit großformativen Farbabbildungen und mit Texten von ausgewiesenen Gauguin-Spezialisten, die neue Erkenntnisse zum Werk des französischen Bahnbrechers der Moderne einbringen.
Gauguin wollte eine Art Paradies heraufbeschwören. Und er war der Ansicht, dass solch ein Paradies wirklich einmal existiert hat, dass es jedoch durch die westliche Zivilisation zerstört wurde und nur noch als ein Schatten in sehr primitiven Gesellschaften aufzuspüren sei. Hier allerdings wird es besonders schwer, den Künstler Gauguin aus den Legenden herauszulösen, die sich um ihn gebildet haben. Denn Gauguin gab tatsächlich seine Laufbahn als Börsenmakler in Paris auf und ging fort, um ein primitives Leben auf den Pazifischen Inseln zu führen. Darüber hinaus förderte er seine eigenen Legenden noch, indem er idyllische Berichte über dieses Leben schrieb (in „Noa Noa“, seinem halb fiktionalen Bericht über seinen Aufenthalt in der Südsee). Wir wissen aber aus seinen Briefen, dass das Leben dort keineswegs so ablief, wie er es in seinen Bildern dargestellt hat.
In Tahiti fand Gauguin das Paradies weniger in der Realität als in seiner Vorstellung, und aus dieser Vorstellungskraft sind seine Bilder entstanden. Gauguin glaubte, dass er sich, wenn er Europa den Rücken kehrte, auch von der klassischen europäischen Malerei lösen könnte. Mythologische Malerei war im späten 19. Jahrhundert nicht mehr gefragt. Die Welt der Imagination war geschrumpft. Es gab nur noch die Welt rundum: Realismus, Naturalismus, Impressionismus – Alltagsmotive, die Straße, das Café, häusliche Interieurs, Freizeitbilder, den Sonntagsausflug, das Landleben. Wo konnte in dieser Situation ein Künstler den untergründigen Strom menschlicher Erfindungskraft hinleiten? Wo war die neue Mythologie? Die Antwort war das Unterbewusste: Träume, Tagträume, das innere Auge. Gauguin musste die halbe Welt durchreisen, um diese Entdeckung zu machen.
Welche Gefühle auch immer von den vibrierenden Farben und wirbelnden Formen Gauguins aufgerührt werden – sie sind zugleich beherrscht durch die Harmonie der Figuren und den inneren Frieden, den sie ausstrahlen. Gauguin schuf in seinen Bildern die Mythologie eines tropischen Paradieses, das ihm das Leben grausam vorenthielt. In diese geheimnisvolle, erträumte Welt integrierte er Darstellungen aus der Kunst unterschiedlichster Kulturkreise.
1897 malte er ein riesiges Bild „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ (Museum of Fine Arts, Boston). Es ist mit Symbolen überfrachtet, von der tahitianischen Eva, die im Mittelpunkt des Bildes von einem tropischen Paradiesbaum eine Frucht pflückt, bis hin zu den flüsternden Gestalten und der alten Sibylle, die wie eine peruanische Mumie gebückt hockt. „Ein philosophisches Werk“, schrieb Gauguin einem Freund in Frankreich, „über ein Thema, das aus der Bibel stammen könnte“.
Im Katalog gibt Martin Schwander, Kurator der Ausstellung, eine problemorientierte Einführung in das Werk Gauguins und macht darauf aufmerksam, dass sich unter der verführerischen Oberfläche der Bilder oft schwer entzifferbare Bedeutungsschichten verbergen. Er spricht von einem Synkretismus in Gauguins polynesischen Bildern, die zahlreichen Verweise auf ikonografische Motive haben ihren Ursprung in der europäischen, aber auch in der hinduistischen, altägyptischen oder buddhistischen Sakralkunst. Gauguins geheimnisvolles „Träumen“ kann man nicht mit Obskurantismus oder einem naiven Glauben an die Magie der Kunst gleichsetzen. Er habe Werke geschaffen, die prägende Gegensätze der Moderne in sich tragen: „den Gegensatz zwischen mystischem und selbstreflexivem Denken oder zwischen Überresten Baudelairescher Romantik und einem agnostischen und antitheologischen Denken, für das jeder Glaube eine Fiktion ist“. Diese bedenkenswerte These hätte allerdings einer ausführlicheren Begründung bedurft.
Co-Kurator Raphael Bouvier beschäftigt sich mit Gauguins Vermächtnis in der modernen und zeitgenössischen Kunst. Der frühe Kontakt mit Gauguins Kunst legte bereits den Grundstein für Picassos Primitivismus, noch bevor sich dieser der afrikanischen und ozeanischen Kunst zuwandte. Wie die expressiven Fauves Interesse an Gauguin zeigten, wurden auch die deutschen Expressionisten von Gauguin beeinflusst. Von Odilon Redon, der nach Gauguins Abreise nach Tahiti gleichsam dessen Stelle als „Vaterfigur“ für die Nabis-Künstler übernommen hatte, bis zur Gegenwartskunst gibt es Hommagen an die Person Gauguins und seine Kunst. Als einer der Gründerväter der modernen Malerei anerkannt, blieben die Legenden um sein Leben Teil seiner Geschichte, bis 1949, zum 100. Geburtstag des Künstlers, die Ursprünge dieser Legende, die seinem Werk anhing, genauer untersucht wurden.
Über das doppelte Sehen in den polynesischen Bildern äußert sich Alastair Wright am Beispiel des Gemäldes „Te Nave Nave Fenua“ (1892): Ein nacktes junges Mädchen vor einer üppigen Landschaft – es handelt sich wohl um die 13jährige Tehaamana, mit der Gauguin skandalöserweise zusammengelebt hatte –, aber dahinter steht die Idee von Eva und dem Sündenfall. Gauguin verweist auf die Freudlosigkeit eines christianisierten Tahiti und auf den Sündenfall im Kontrast zur ungehemmten Ausübung alter Riten, wie sie durch geheimnisvolle Wesen oder Gesichter im Bildhintergrund zu sehen sind. Die Ikonografie des bösen Blicks und der befleckten Unschuld spielte für Gauguin, der Tahiti als ein verlorenes Paradies betrachtete, eine zentrale Rolle. Die gaffende männliche Figur in „Te Nave Nave Fenua“, die Schlange in „Nave Nave Moe“ (Süße Träume, 1894) oder der Totenschädel in „Madeleine Bernard“ sind in Wirklichkeit gar nicht vorhanden, doch wir glauben einen Moment lang sie zu sehen. Der Betrachter selbst ist es, der das Böse in der Szene, die Lüsternheit und Verderbtheit in eigentlich ganz unschuldigen Szenen entdeckt. Auch wenn Gauguin schon in der Bretagne mit Doppelbildern dieser Art zu spielen begonnen hatte, so lotete er ihr Potential, die Kluft zwischen der Phantasie des Künstlers und der Realität der Welt anzudeuten, doch richtig erst in seinen tahitischen Arbeiten aus.
Die Insel der Seligen gibt es nicht mehr – wenn sie überhaupt jemals bestanden hat. Aber den Traum von einem Paradies auf Erden, der Gauguin in die Südsee getrieben hat, sollten wir uns dennoch nicht nehmen lassen.

Paul Gauguin. Hg. von Raphael Bouvier und Martin Schwander für die Fundation Beyeler, Beyeler Museum Riehen/Basel, Hatje Cantz Verlag Ostfildern 2015, 230 Seiten, 160 Abbildungen, 68 Euro.