18. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2015

Protokoll einer Sitzung

von Stephan Wohanka

Dieser Tage war der Protokollant Zeuge einer Begegnung, die mehr ältere Menschen als jüngere, mehr Männer als Frauen versammelte – die übliche Zusammensetzung. Der Gastgeber hatte – es war Mittagszeit – für einen Imbiss gesorgt; belegte Brötchen, Kuchen, Obst, Wasser, Kaffee – die übliche Mischung…
Es ist kein Geheimnis, welches der Protokollant hier aufdeckt – sowohl die kämpferisch-parteipolitische Linke als auch die in libertär-akademische Milieus zurückgezogene sind weitgehend ratlos, welche Gestalt der Einstieg in den Ausstieg aus der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Realität annehmen sollte. Bei letzterem dreht sich diese Suche um das Zauberwort „Transformation“. Jedenfalls bringt besagtes Milieu vieles unter diesem Titel zu Papier. Auch die in Rede stehende Sitzung kreiste mindestens mittelbar um dieses Wort; genauer gesagt, war sie Paul Polanyi (kennen Sie nicht? Dann wird es höchste Zeit!) gewidmet, der 1944 „Die große Transformation“ publizierte: „Es war das Dilemma, dass sich das Marktsystem sein eigenes Grab geschaufelt hat und zuletzt auch die sozialen Institutionen zerstörte, auf denen es basierte“, schrieb er in diesem epochalen, unter dem Eindruck der Erfahrung von großer Depression und Zweitem Weltkrieg entstandenem Buch. Dessen Hauptthese lautet dann auch: Nicht mehr die Wirtschaftsordnung ist eine Funktion der Gesellschaftsordnung, sondern umgekehrt – die Gesellschaftsordnung eine Funktion der Wirtschaftsordnung. Letztere hat sich somit verselbständigt und schließlich aus dem sozialen Kontext herausgelöst, womit die ursprüngliche Einbettung aufgehoben wurde, das heißt Märkte wurden in der kapitalistischen Produktionsweise gewissermaßen aus der Gesellschaft „entbettet“; modern könnte man auch von einer Desintegration sprechen. Das und anderes klinge außerordentlich zeitgemäß, befand die Runde.
Was habe Polanyi denn nun geschrieben? Ein historisches Werk? Ja, auch. Dabei machte er aber den Fehler, bei Rückgriffen auf die englische Sozialgeschichte Wesentliches „aus einer verhältnismäßig kleinen Dokumentation abgeleitet“ zu haben, was der heutigen Forschung nicht mehr stand hielte; speziell was das so genannte Elite-Masse-Schema anginge. Er sei der Masse auf den Leim gegangen; wie übrigens auch Friedrich Engels, der dem frühen Proletariat assistierte, eine „demoralisierte“, „elende“, „versklavte“, „unwissende“ und „bestialisierte“ Masse zu sein, „ganz unfähig zu selbstständiger Aktion…, dem … höchstens von außen her, von oben herab Hülfe zu bringen war“.
Zu Protokoll zu geben ist, dass gegen diese Tirade von der notwendigen „Versittlichung“ (Werner Conze) der Masse geradezu ein Kompliment für menschliche Kompetenz gesetzt wurde – nämlich die Worte aus dem „Kommunistischen Manifest“, wonach „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Wobei dem Protokollanten natürlich sofort einfiel, wie stark das Engels’sche Dogma von der Erweckung der Massen und die entsprechende Praxis selbst in sonst hellen Köpfen Verwirrung stiften konnte: Der Dichter Stephan Hermlin schreibt in seinem „Abendlicht“ (1982), dass „unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, sich einer befand, der folgendermaßen lautete: ‚An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft … tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist‘. Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt“.
Oder habe Polanyi doch eher eine „Erzählung“ verfasst? Erzählungen oder auch „Narrative“ – sonst üblicherweise gebraucht, hier nach der Erinnerung des Protokollanten wohl nicht – transportieren in anthropologischer Perspektive eine auf Geschichte bezogene Entwicklung; sowohl deren Inhalt als auch Subtext. So wird in die erzählte Realität „Sinn“ gebracht; es erinnert an Theodor Lessings „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (1919): Nicht die Geschichte selbst habe einen verborgenen Sinn oder einen Kausalzusammenhang, sondern erst die Geschichtsschreibung stifte im Nachhinein einen Sinn. Die „Erzählung“ so als Rohstoff für die „Transformation“?
Der Protokollant vermag sich nicht mehr genau erinnern, ob der Name Jean-François Lyotards fiel; er gehört aber hierhin! In seiner Studie „Das postmoderne Wissen“ (1979) begründet Lyotard seine These von Delegitimierung der „großen Erzählungen“, zugleich dazu auffordernd, Politik an den wirklichen Interessen der Menschen in ihren realen Lebenszusammenhängen auszurichten, am Individuellen, dem Heterogenen eben, dem Unhintergehbaren. Erzählungen seien ideologisch-politische Konstrukte, deren letztes die marxistische „Rahmenerzählung“ von der Emanzipation des Proletariats war, das sich als Klasse über alle anderen erheben sollte. Lyotards Thesen, das sahen seine marxistischen Kritiker in Deutschland richtig, entzogen ihrem intellektuellen Alleinvertretungsanspruch auf kritische Gesellschaftstheorie die Basis. Tatsächlich erwiesen sich seine Thesen als prophetisch. Heute sind die verschiedenen sozialen Bewegungen nicht mehr aus der Politik wegzudenken. Abstrakte Politikkonzepte haben keine Konjunktur. Postmoderne, das ist Lyotards Botschaft, sei kein Plädoyer für Chaos und Beliebigkeit, sondern eine Anleitung zur Reorganisation der Gesellschaft unter Berücksichtigung ihrer realen Vielfältigkeit und der Individualität der Menschen.
Mit eben Geschriebenem ist der Protokollant zwar über das am Ort Gesagte hinausgegangen, liefert aber so die Stichworte für eine abschließende Runde zum Ende der Veranstaltung: Es fehle – so wurde festgestellt – an Praxen und Akteuren, die sich der Alltäglichkeit, aber namentlich auch der „Ängste“ der Menschen annähmen. Es wurde keine schale Revolutionsrhetorik mehr bemüht, sondern ein Umdenken hin zum (Wieder-)Aufbau lokaler, an Alltagsproblemen ansetzender Netze postuliert – ehrenamtliche Arbeit in der Gewerkschaft, im Wohngebiet, im Sportverein, unter Kindern und Jugendlichen; Selbstbefähigungs- und Lernprozesse zu ermöglichen im Hier und Jetzt und nicht in Utopia! Die freie Entwicklung eines jeden als die Bedingung für die Förderung der Gesellschaft und nicht die Hermlin’sche Verkehrung, die zugleich eine des „Systems“ war. So wird „Transformation“ aus der Perspektive des Alltags möglich. Nicht das Übliche!