18. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2015

Das „westfälische Fräulein“

von Renate Hoffmann

„Ich mag und will jetzt nicht berühmt
werden, aber nach hundert Jahren
möcht ich gelesen werden.“
(Annette von Droste-Hülshoff)

Um die Dichterin aufzusuchen, hätte ich den Weg, historisch betrachtet, anders nehmen sollen. So aber wanderte ich von Münster zuerst zum Rüschhaus, dem Ort, den Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) in späterer Zeit, dann aber zwanzig Jahre lang, bewohnte. – Wie sie es beschrieb, das Münsterland im Westfälischen, so fand ich es trotz moderner Eingriffe noch vor: „In hohem Grade friedlich, hat [es] doch nichts vom Charakter der Einöde, vielmehr mögen wenige Landschaften so voll Grün, Nachtigallenschlag und Blumenflor angetroffen werden.“ – Nur die Nachtigallen schlugen nicht an diesem sonnigen, kühlen, tauigen Morgen.
Die Allee zum Rüschhaus (Rüschen sind Binsen) stimmt ländlich-festlich und führt zu einem Anwesen mit zwei Gesichtern. Architektonisch ungewöhnlich, wohl überlegt und schmuckvoll aus Feldbrandziegeln und Sandstein errichtet. Man trifft auf die bäuerliche spätbarocke Front des Hauses und vermutet nicht, dass sich rückwärtig ein herrschaftlicher Landsitz auftut. Idee und Ausführung stammten von Johann Conrad Schlaun (1695-1773), Militärangehöriger von hohem Rang, begehrter Oberbaumeister und Architekt von hohem Können. Mit dem Rüschhaus erfüllte er sich einen Wunsch und schuf seinen privaten Sommersitz. Schlaun gelang die glückliche Verbindung von westfälischem Bauernhaus und Landvilla; zu Geselligkeit und Erholung ebenso geeignet wie zu landwirtschaftlicher Nutzung.
Im Jahre 1825 kaufte Clemens August von Droste-Hülshoff (1760-1826), Annettes Vater, das Rüschhaus. Und im Jahr darauf, nach Clemens Augusts Tod, bezog es die Mutter Louise Therese, geborene von Haxthausen (1772-1853), mit ihren beiden Töchtern Maria Anna, genannt Jenny (1795-1859) und Anna Elisabeth, genannt Annette. – Die drei Damen kamen von der etwa sechs Kilometer entfernten Stammburg Hülshoff herüber. Dort siedelten nun die beiden Brüder mit Familie.
Im Rüschhaus gestaltete sich das Leben fortan einfacher, zuweilen auch einsamer als drüben in der Burg. Dennoch befindet Annette: „Es ist doch ein lieber heimlicher Ort, das Rüschhaus! […] zwar klein wie ein Mauseloch – aber doch sehr lieb!“ In diesem „Mauseloch“, umgeben von Wald, Wasser und Weiden, beschreitet die sensible, mit wachen Sinnen ausgestattete, hochbegabte Frau von bald dreißig Jahren unbeirrt weiter den Weg zur meisterlichen Autorin deutscher Sprache.
Nicht durch das mächtige „Deelentor“, durch die Küche betrete ich das Haus. Ein großer Raum, zweckdienlich eingerichtet. Im Rauchfang über der offenen Feuerstelle konnte auch geräuchert werden. Schlachten, kochen, speisen, für alles war hier vorgesorgt; man lebte auf dem Lande! – Von der Küche zur „Deele“ mit Kuh- und Pferdestall und den Kammern für Knecht und Magd.
Die bescheidene Suite der Dichterin liegt im Zwischengeschoss. Durch kleine Fenster in halber Höhe fällt das Licht gedämpft in ihr Wohn- und Arbeitszimmer. Bäume schauen herein. Es ist die von Annette geschätzte Abendseite. Nach einer Zeichnung – wahrscheinlich von ihr angefertigt – konnte man die Ausstattung annähernd wieder herstellen. Der Vergleich mit einem „Schneckenhaus“, den die Droste selbst traf, bestimmt die Atmosphäre.
Vormalige Besucher erinnern sich. Elise Rüdiger (1812-1883), Schriftstellerin, Freundin und Vertraute: „Es war merkwürdig charakteristisch – klein, schmal und niedrig, […] Ein winzig kleiner Flügel […] und von der Dichterin sehr geliebt“ (sie war sehr musikalisch und verfügte über eine gute Gesangsstimme). […] „Auf dem großen schwarzen Sofa pflegte sie mit untergeschlagenen Füßen zu sitzen, um abwechselnd zu träumen, zu dichten und zu schreiben.“ – Levin Schücking (1814-1883), Schriftsteller, Journalist, Freund, Anreger und Bewunderer: „Auf nichts weniger deutete die ganze Umgebung als darauf, daß hier eine ‚schriftstellernde Dame’ wohne.“ Adele Schopenhauer (1797-1849), Schriftstellerin und Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer, besuchte das Rüschhaus im April 1840: „Wir leben winterlich, klösterlich still und sacht – […] Da ruhe ich denn aus, an der Seite des geistreichsten Wesens, das ich unter Frauen kenne.“
An den Wänden Familienbilder und das Porträt einer älteren Frau in bäuerlicher Tracht. Maria Catharina Plettendorf (1765-1845), die Amme. Sie hatte der zu früh geborenen Annette das Leben gerettet, weshalb diese ihr zeitlebens die Treue hielt. – Die angrenzenden Zimmer beherbergen das Schlafgemach und einen Sammlungsraum. Die Droste, wissbegierige, vielfach interessierte und exakte Naturbeobachterin war folgerichtig auch eine Sammlerin. Schückung über gemeinsame Spaziergänge: „Sie führte dabei zumeist ihren leichten Berghammer bei sich und wir kehrten selten heim, ohne daß mir alle Taschen von allerlei Kieseln, Feuersteinen und anderen Raritäten gestarrt hätten.“
Er beschreibt sie auch, die zarte, oft von Zweifeln geplagte, zur Schwermut neigende ‚dichtende Dame’, denn er kannte sie gut: „Ihr Äußeres machte einen eigentümlichen Eindruck. Diese wie ganz durchgeistigte, leicht dahinschwebende […] Gestalt hatte etwas Fremdartiges, Elfenhaftes; sie war fast ein Gebilde aus einem Märchen“, und er spricht von ihren „merkwürdigen blauen Augen“, die er auch „Nixenaugen“ nannte. Sie waren in hohem Grade kurzsichtig; eine Behinderung beim Schreiben und Lesen. – Man attestierte ihr ungewöhnlichen Verstand und ein „aufgeregtes Gemüt.“
Dem Tagesprogramm im Rüschhaus musste sich Annette notgedrungen unterordnen und Pflichten übernehmen. Die Mutter, eine couragierte Frau, verlangte es, und die Tochter „muckste nicht, in der Hälfte eines Verses abzubrechen, was mich manchen guten Gedanken, und manchen eben gefundenen Reim gekostet hat.“ Die Familie nahm wenig Anteil an ihrem dichterischen Schaffen und sah darin eher eine „spleenige“ Laune.
Trotz alledem entstanden während dieser Jahre eine Fülle von Gedichten, Liedern, Vers-Epen und Balladen. Und Prosaarbeiten. Manches blieb Fragment. Nicht aber die Novelle „Die Judenbuche“. Auf einer wahren Begebenheit beruhend, schildert die Dichterin ein soziales Gefüge, in dem Macht, Gewalt, Rechtlosigkeit über Gemeinschaftssinn und Wahrheitsgehalt triumphieren. Es herrscht ein Wolfsgesetz: Töten, um nicht getötet zu werden. Sie nennt es „Ein Sittengemälde aus dem gebirgigen Westphalen“. Im Morgenblatt für gebildete Leser erscheint es 1842 in Fortsetzungen; mitbegründend Annettes späten Ruhm. („Nur als ich entmutigt ganz, / Gedanken flattern ließ wie Flocken, / Da plötzlich fiel auf meine Locken / Ein junger, frischer Lorbeerkranz“.)
Sie knüpft, zum geistigen Austausch, Kontakte in Münster und anderwärts; lernt Freiligrath kennen und kannte die Brüder Grimm, denen sie Märchen zuspielt hatte. Annette besucht literarische Salons. Und geht auf Reisen.
Ich gehe in den herrschaftlichen Teil des Rüschhauses. Der Gartensaal gewährt den Blick ins Grüne, in den Barockgarten, der nach einem bestehenden Plan Schlauns 1983 rekonstruiert wurde. Annette erlebte ihn anders, als Blumen- und Nutzgarten, von dessen Schönheit sie schwärmte, und der oftmals Einzug in ihre Gedichte hielt. – Im „Italienischen Zimmer“ herrscht Intimität. Der kleine Salon ließ sich beheizen, ein Vorzug für kalte Tage. Das „Italienische“ bezieht sich auf die französische Originaltapete von 1826. Sie lockt mit einer Ideallandschaft zum Golf von Neapel.
Ich verlasse die Hausherrin und nehme die Zeilen über den „Dichter“ mit: „[…] Meint ihr, die Träne brenne nicht? / Meint ihr, die Dornen stechen nicht? / Ja, eine Lamp’ hat er entfacht, / Die nur das Mark ihm sieden macht; / Ja, Perlen fischt er und Juwele, / Die kosten nichts – als seine Seele.“ – Auf der Hauptallee wandere ich zur Burg Hülshoff, wo alles begann. Auch möchte ich dort Annettes großes Porträt im blauen Kleide sehen (gut gewählt zu ihrem blonden Haar!) und in ihre „merkwürdigen Augen“ schauen.