von Ulrich Kaufmann
„Oskar Maria Graf ist bei uns (in der DDR – Anm. U.K.) durchaus aufgelegt worden. Viele Leute werden Grafs Geschichten über die ‚Mitmenschen’ gelesen haben; nur müssen Sie berücksichtigen, dass diese Leser kaum auf den Namen des Verfassers achten. Wie oft habe ich das bei der Benutzung meiner Arbeiten von Durchschnittslesern erlebt.“ Dies schrieb mir am 8. April 1978 Erwin Strittmatter, der durch die (von dem Münchner Regisseur Jo Baier glänzend verfilmte) „Laden“-Trilogie endgültig zu einem gesamtdeutschen Erzähler von Rang wurde. In dem genannten Graf-Band gibt es gleich drei Charakterstudien von Bäckergesellen, darunter auch seine Meistererzählung „Der Quasterl“. Diese dürfte den jungen Autor Strittmatter, der eine Generation nach Graf gleichermaßen den Weg vom Bäcker zum Erzähler wagte, außerordentlich interessiert haben.
„Mitmenschen“ war der einzige Band Oskar Maria Grafs, welcher ausschließlich in der DDR erschien. In den Jahren 1950 und 1959 (dann in einem besser ausgestatteten Leineneinband) kam diese Erzählungssammlung heraus. Ulrich Dittmann, über Jahrzehnte umsichtiger und hochengagierter Vorsitzender der Graf-Gesellschaft, hat dieses längst vergriffene Buch als letzten und 12. Band seiner kleinen Werkreihe in der „edition manacensia“ nunmehr für ganz Deutschland verfügbar gemacht. Über Jahre brachte Dittmann jene Graf-Texte heraus, die etwas im Schatten von „Wir sind Gefangene“, „Das bayrischen Dekameron“, „Bolwieser“, „Anton Sittinger“ oder „Das Leben meiner Mutter“ standen. Um „Nebenwerke“ handelt es sich bei den in Dittmanns Graf-Reihe präsentierten Texten deshalb nicht.
Der Sammlung „Mitmenschen“ ist keinesfalls ein in den Nachkriegsjahren hastig oder gar beliebig zusammengestellter Band. Vielmehr zeigt der ausgewiesene Editor, wie genau Graf über Jahre hinweg dieses Buch plante und komponierte. Zwischen 1937 und 1950, als der ins Exil getriebene und in der Diaspora verbliebene Erzähler, „Mitmenschen“ zusammenstellte, wollte er sich und seinen Lesern die „verlorene Wirklichkeit“, die Realität, aus der er „gewaltsam gerissen“ wurde, erinnernd bewahren. Wie seine „Kalendergeschichten“ von 1929 hat der Volkserzähler auch diesen Band mit 14 Prosatexten seinem Lebensweg folgend zweigeteilt: „Menschen aus meiner Jugend auf dem Dorfe“ und „Menschen aus der Stadt und der weiten Welt“. Betonen muss man durchgehend den autobiographischen Gehalt der Geschichten. In der Widmung heißt es: „Die Menschen, von denen hier erzählt wird, haben wir gemeinsam erlebt. Darum schenke ich dieses Buch meiner Schwester Nanndl.“ Es bleibt mir bis heute schleierhaft, warum ich diesen Band in den siebziger Jahren in meiner umfangreichen Arbeit zum autobiographischen Werk Grafs so stiefmütterlich behandelt habe.
Anna Seghers – in dem Zyklus „Die Kraft der Schwachen“ – und Graf – in dem vorliegenden Buch – gehören zu jenen Autoren, die Georg Büchners Credo folgten, wonach sich der Schriftsteller in das „Leben des Geringsten“ hineinversetzen solle. Gerade in den Dorfgeschichten ist dies Graf mehrfach gelungen, etwa in der Erzählungen „Der Schmalzerhans“ und „Der Hängestrick“. Zu Grafs Dorfprosa des ersten Teils gehört ebenso das wunderbare Porträt „Der Lehrers Männer“, ein Text, den der Autor zu seinen stärksten rechnete. Über Dittmanns These, Grafs Text sei der „einzige in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“, der ein „positives Lehrerbild“ enthalte, ließe sich trefflich streiten. Vielleicht ist Alfred Wellms gewichtiger und kurz nach der Wende verfilmter Erzähltext „Pause für Wanzka“ (1968) im Osten indessen vergessen und im Westen niemals angekommen.
Zu den umfangreicheren und inhaltlich gewichtigsten Erzählungen des Bandes gehört neben dem „Quasterl“ und dem „Männer“ (im ersten Teil) eine köstliche Studie über seinen Urfreund Georg Schrimpf: „Ein barockes Malerporträt“. Schrimpf schuf ein indessen berühmtes Bild des frühen Graf, das – welch glänzende Gestaltungsidee – das Cover des Buches ziert. Der vorzüglich kommentierte Band könnte Graf-Erstleser an dessen umfangreiches Erzählwerk heranführen oder aber den „Kenner“ anregen, den einen oder anderen Klassiker aus Grafs Feder wieder zur Hand zu nehmen. Der Band „Mitmenschen“, auch wenn die meisten Texte an anderer Stelle gedruckt waren und sich manches wie eine Vorstudie zum großen Mutterroman beziehungsweise zu einem niemals geschriebenen Buch über den Vater lesen ließe, ist ein gewichtiges eigenständiges Werk, das mit beträchtlicher Verspätung einen Ehrenplatz in der Werkbiografie Oskar Maria Grafs verdient.
Überlassen wir dem Dichter, einstmaligem Graf-Lektor sowie erstem Erwin-Strittmatter-Preisträger Wulf Kirsten das Schlusswort: „Oskar Maria Graf blieb mein Schriftsteller. Ich sammelte seine Bücher, nahm mir seinen ‚Helden’ Johann Otto Schönleber zum Vorbild und wurde ein ‚unentwegter Zivilist’. Die ‚Aurora’-Ausgabe der ‚Mitmenschen’ (Aufbau-Verlag 1950), inzwischen ein abgegriffener, verblichener Pappband mit gebräuntem holzhaltigem Papier, gehört zu dem ersten Bücherdutzend meiner Sammlung. Dieser Band ist mein liebstes Graf-Buch geblieben.“
Oskar Maria Graf: Mitmenschen. Text der Erstausgabe von 1950, Allitera Verlag, München 2015, 215 Seiten, 16,90 Euro.
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