18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Die Kirche und das Alte Testament

von Hermann-Peter Eberlein

Unter diesem Titel hat der Berliner Theologieprofessor Notger Slenczka im Jahr 2013 bei einem Graduiertenkolleg einen provokanten Vortrag gehalten und damit eine Debatte losgetreten, die seit einigen Wochen die kirchliche wie theologische Landschaft des deutschen Protestantismus erschüttert und in den Feuilletons weidlich Widerhall findet. Der Vortrag, gemeinsam mit anderen Beiträgen zum selben Thema in einem akademischen Jahrbuch veröffentlicht, fiel hernach Friedrich Pieper in die Hände, einem Pfarrer, der im Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit engagiert ist und bar theologiegeschichtlichen Differenzierungsvermögens einen „theologischen Skandal im gegenwärtigen deutschen Protestantismus“ witterte sowie „die theologische Sackgasse des deutschen Kulturprotestantismus“ beschwor. Daraufhin eskalierte die Debatte: Micha Brumlik vom Zentrum Jüdische Studien in Berlin sprach von einem neuen theologischen Antijudaismus und wiederholte die gängige, aber trotzdem in ihrer Pauschalisierung falsche These vom „Weg kulturprotestantischer Theologie in den Judenhass des NS-Staats“; der Münchner Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf, einer der Vordenker gegenwärtiger liberaler Theologie, Präsident der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft und gelegentlich bissiger Kritiker seiner Kirche, nannte Pieper einen „kirchlichen Möchtegern-Ayatollah“ und distanzierte sich zugleich von Slenczkas „konventionell gearbeiteten, ahistorischen Referaten“. Der scheidende Moderator des Reformierten Bundes, Peter Bukowski, hat in seinem Abschiedsvortrag gegen jede liberale Theologie, die vom menschlichen Bewusstsein ausgeht, wieder einmal die „Gegenständlichkeit des Glaubensgrundes“ behauptet. Die Berliner Theologische Fakultät entzweite sich in öffentlichen Stellungnahmen, wobei Christoph Markschies, ehemaliger Präsident der Humboldt-Universität, sich durch einen platten Vergleich der Ansichten Slenczkas mit „Thesen, die durch Nazi-Theologen vertreten wurden“, besonders meinte profilieren zu müssen. Das hat schließlich mehrere evangelische Landesbischöfe veranlasst, bei aller Distanzierung zu Slenczka eine Versachlichung der Debatte anzumahnen und vor der „Nazi-Keule“ zu warnen.
Ich will die Auseinandersetzung nicht weiter entfalten – Slenczkas Antworten und Erklärungen sind auf seiner Homepage an der Humboldt-Universität dokumentiert. Ich kann auch die Geschichte nicht nachzeichnen, in der die christliche Theologie über zwei Jahrtausende ihr Verhältnis zum Judentum beziehungsweise die Verhältnisbestimmung von hebräischer Bibel und Neuem Testament unter immer wieder anderen geistigen Voraussetzungen oft problematisch genug reflektiert hat. Ich will nur Kernsätze von Slenczkas Vortrag vorstellen und auf zwei Themenkomplexe eingehen: den Antisemitismus- beziehungsweise Antijudaismus-Vorwurf und die Frage nach einem Kanon religiöser Schriften überhaupt – die Frage nach einer im Grundsatz autoritären oder antiautoritären Theologie und Kirche. Darum nämlich, nicht um das Judentum, geht es im Kern der Sache.
Das Alte Testament sollte „eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben. Um diese These zu belegen, steckt Slenczka die Kontexte der Fragestellung ab und skizziert exemplarische Antworten auf das Problem seit Paulus, wobei er besonders bei Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack und Rudolf Bultmann verweilt – alle drei Repräsentanten eines durch das Feuer der Aufklärung gegangenen, modernen Christentumsverständnisses, das die historische Abhängigkeit des Christentums von seinen jüdischen Wurzeln, aber auch seine Distanz zum Judentum ernst zu nehmen gelernt hat. „Damit wird aber das Alte Testament zu einem Dokument einer Religionsgemeinschaft, die mit der Kirche nicht identisch ist. Die Kirche ist sich dessen bewusst, dass sie dieser Religionsgemeinschaft entsprungen ist und zum Verständnis ihrer eigenen Texte des religionsgeschichtlichen Hintergrundes der alttestamentlichen Überlieferung bedarf. Gerade um des Respektes vor dem Selbstverständnis des Judentums willen identifiziert sich die Kirche aber nicht mit dem Judentum in der Weise, wie“ der Jude Paulus das noch für die christliche Gemeinschaft seiner Zeit tun konnte – mit „der Behauptung, dass die Erwählungsgeschichte Gottes mit seinem Volk über das Judenchristentum in der Kirche aus Juden und Heiden sich fortsetze und (vorläufig) nicht in der Geschichte des Teils des Judentums, das nicht zum Glauben an Christus gekommen ist“.
Gerade letztere Denkfigur – die gemeinsame Erwählung von Juden und Christen – dominiert nun allerdings die gegenwärtige kirchliche Mehrheitsposition im Umgang mit dem Judentum, freilich mit dem Unterschied, dass eine bleibende Erwählung der Juden vorausgesetzt wird (so etwa der Grundartikel der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland). Damit wird zwar dem Judentum eine eigenständige religiöse Dignität zugesprochen, allerdings mit Hilfe einer christlich-theologischen Prämisse. Respekt vor dem Judentum wird aber nicht dadurch gewonnen, dass ihm christliche Theologen von oben herab einen heilsgeschichtlichen Rang zuerkennen (den sie ihm zuvor jahrhundertelang abgesprochen haben), sondern im schlichten zivilisierten Umgang miteinander auf gleicher Ebene, der den Anderen gerade in seinem Anderssein akzeptiert und von ihm lernt. Genau in diese Richtung zielt Slenczka – antijudaistisch, gar antisemitisch kann ich das nicht finden.
So bekommen die alttestamentlichen Schriften bei Slenczka den Rang von Apokryphen – nach Luther: nützlich und gut zu lesen, aber eben nicht kanonisch. Doch was qualifiziert überhaupt Schriften als kanonisch? Dass sie Urkunden einer göttlichen Offenbarung und insofern heilige, als Norm und Richtschnur einer Glaubensgemeinschaft vorgegebene Texte sind. Doch diese Voraussetzung kann eine liberale Theologie nicht teilen, die theologische, auch biblische, Sätze als Selbstauslegung religiöser Individuen versteht. Mit Friedrich Wilhelm Graf gesprochen: „Texte sind […] nicht heilig, weil ein Gott sie geschrieben hat, sondern weil fromme Menschen ihnen einst besondere Orientierungskraft zur Selbstdeutung in einer Erinnerungsgemeinschaft zuerkannten.“ Diese Deutungskraft kann auch schwinden – oder aber andere Texte übernehmen ihre Funktion. Texte, auf die sich eine Glaubensgemeinschaft bezieht, müssen also immer wieder historisch und sachlich geprüft und eventuell in ihrer Bedeutung neu bestimmt werden. Das gilt aber im Christentum nicht nur für die alttestamentlichen Schriften, sondern auch für die neutestamentlichen – eine Konsequenz, die Slenczka im Unterschied etwa zu Schleiermacher und Harnack, aber auch schon zu Luther vermeidet, wodurch er in das Dilemma einer Abstufung zwischen den beiden Bibelteilen gerät, die ihm den Antijudaismusvorwurf eingetragen hat. Dabei hat auch er von Harnack und Bultmann gelernt: Entweder die historische Nähe zu Jesus Christus qualifiziert bestimmte Stücke frühchristlicher Literatur als maßgebend für die Kirche – dann ist der Kanon prinzipiell offen: Neue Schriften, in der Wüste geborgen, könnten hinzutreten (wie etwa das Thomasevangelium, das sehr alte Zeugnisse der Jesusüberlieferung enthält), andere ausscheiden. Oder die unmittelbare Ansprache an die menschliche Existenz bestimmt ihren Wert – auch sie ist nicht gebunden an bestimmte Texte, sondern subjektiv und formiert sich zwischen den Subjekten in einer Gemeinschaft immer wieder neu (wobei die identitätsstiftende Funktion gemeinsam tradierter Literatur nicht unterschlagen werden soll). Die Rede von einem autoritativ vorgegebenen Kanon, der im Gestus göttlicher Offenbarung daherkommt, ist in einem durch die Aufklärung hindurchgegangenen Christentum obsolet. Alles ist apokryph.
Der Urvater des modernen Protestantismus, Friedrich Schleiermacher, hat in seiner zweiten Rede über die Religion 1799 gesagt: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.“ Hier scheint mir der Ansatzpunkt zu sein, den es radikal weiterzuführen gilt. Wenn denn eine heilige Schrift nicht als göttliche Autorität betrachtet wird, sondern als Poesie, als Ausfluss menschlichen religiösen Bewusstseins – will sagen: des Bewusstseins eigener Begrenztheit angesichts Gottes und der Ewigkeit –, ist die Kirche nicht mehr ein Raum, in dem autoritär eine autoritäre Offenbarung ausgelegt wird, sondern ein Freiraum, in dem Menschen einander ihre existentiellen Erfahrungen in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Nun sind freilich die wenigsten von uns begnadete Poeten. Wir leihen uns die Texte, die Bilder, die Musik anderer. Jeder entliehene Text hat dann seinen Platz in der Kirche, wenn er geeignet ist, gerade in dieser Gemeinschaft das Ureigene konkreter menschlicher Existenz im Kosmos adäquat zur Sprache zu bringen, wenn es ihm gelingt, den Horizont zu erweitern, wenn er plausibel ist, wenn er schön ist – in einer christlich gestimmten Gemeinschaft wird dabei immer ein Bezug auf das Hoffnungspotential gegeben sein, das seine Quelle in Christus hat. Einen Kanon, eine Richtschnur, braucht es nicht.