18. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2015

lit.Cologne 2015. Impressionen

von Alfons Markuske

In ihrem 15. Jahr hat sich die lit.Cologne (11. bis 21. März 2015) längst als größtes europäisches Literaturfest etabliert. Nahezu eine Million Besucher über die Jahre sind eine Bilanz, die für sich selbst spricht. Und auch dieses Mal war es im Hinblick auf die teilnehmenden Schriftsteller und Publizisten sowie Sprecher/Schauspieler ein Jahrmarkt der Überraschungen und der Superlative.
Offiziell begann das Festival wieder mit der Verleihung des Deutschen Hörbuchpreises 2015. Das habe sich bewährt und solle auch künftig so bleiben, meinten die Veranstalter, und ihnen soll nicht widersprochen werden. Präsentiert von Götz Alsmann durfte man sich auf einen sehr unterhaltsamen Abend freuen und wurde nicht enttäuscht.
Ein Markenzeichen der lit.Cologne ist nicht nur ihr „klassisches“ Format – Schriftsteller wird zu seinem jüngsten Opus interviewt und liest daraus Auszüge; handelt es sich um fremdsprachige Autoren, übernehmen Schauspieler einen Teil der Lesung –, sondern sind zum Beispiel auch Themenabende. Darunter dieses Mal „Der Dichter: Klatschmaul und Gossip Girl“. Veranstaltungsort war das Literaturschiff, und während dieses durch die Wasser des Rheins glitt, exemplifizierten Annette Frier und Jürgen Tarrach Truman Capotes Diktum, alle Literatur sei letztendlich Klatsch, höchst amüsant und informativ. Das begann in der Antike, unter anderem mit Ovid, umfasste die Heroen der Weimaraner Klassik (Lessing, Schiller, Goethe) und machte bei Thomas Mann, Ernest Hemingway und dem jüngst verstorbenen Fritz J. Raddatz noch längst nicht Halt. Ein schon qua Profession Klatsch affiner Moderator, der FAZ-Journalist Andreas Platthaus, trug das Seinige zum Gelingen bei.
Ein brillantes interpretatorisches Feuerwerk fackelten Nina Kunzendorf und Gustav Peter Wöhler zum Thema „Willst Du mit mir gehen?“ ab – mit literarischen Liebeserklärungen, auch misslungenen, aus europäischer Prosa und aus Briefwechseln der vergangenen 200 Jahre. Unfreiwillige Komik inbegriffen – etwa wenn die zärtlichen Anreden Heinrich von Kleists in seinen Episteln an die geliebte Henriette Vogel, von frevelnder Hand ebenso naht- wie respektlos aneinander gereiht, zum Vortrag gebracht wurden. Kleists „Jettchen“ blieb dem Dichter da im Übrigen nichts schuldig. Und Moderator Jörg Thadeusz ergänzte Kunzendorf und Wöhler aufs Vortrefflichste.
Nicht minder rissen Anke Engelke und Roger Willemsen ihr Publikum mit. Ihr Thema: „My Favourite Things“. Die beiden gestalten seit einigen Jahren jeweils am 31. Dezember den Übergang vom alten ins neue Jahr auf WDR 5, indem sie sich gegenseitig und das Publikum dazu mit Musik überraschen, die sie lieben und über die sie leidenschaftlich parlieren können, wobei alle Genregrenzen zwischen Klassik, Jazz, Weltmusik, Hip-Hop, Rhythm and Blues und Singer-Songwriting munter und radikal übersprungen werden. Da trifft unter Umständen Vivaldis „Sommer“ in der eigenwilligen Interpretation der russischen Straßenmusiker-Combo Kanon aus Köln auf irischen Dudelsack und auf barocke Blockflöte samt Fagott von Telemann. Klingt schräg, ist überraschend mitreißend – Crossover der etwas anderen Art. Dieses Format gefiel den lit.Cologne-Machern, aber es passt eigentlich nicht so recht zu einem Literaturfestival. Es sei denn, man kombiniert jedes Musikstück mit einem literarischen Text. Gesagt, getan. Da wurde etwa der wohl coolsten Einspielung ever played von „La Paloma“ durch Gil Evans der Abschnitt über die Girrvögel (Tauben) aus „Brehms Tierleben“ beigestellt. Wie gesagt, klingt schräg, aber …
Doch natürlich hatte die lit.Cologne zuvorderst wieder Literatur zu bieten.
Eine Entdeckung dabei – des Nigerianers Chigozie Obiomas Erstling „Der dunkle Fluss“, verlegt vom Aufbau Verlag. Aus vier Brüdern werden Feinde, einer wird zum Mörder, so könnte man den Inhalt auf eine reißerische Kurzformel bringen, und wenn sich das Buch damit gut verkaufte, wäre das auch in Ordnung. Denn zahlreiche Leser sind Obioma, der diese Familientragödie aus der jüngsten Vergangenheit seines auch derzeit wieder von Bürgerkrieg und Terror (Boko Haram) heimgesuchten Landes in einem üppigen Erzählwerk ausbreitet, zu wünschen. Margarete von Schwarzkopf jedenfalls machte mit ihrer einfühlsamen Befragung des erst 29-jährigen, sehr schlagfertigen, auch witzigen Autors neugierig auf das ganze Buch. Und die Lesung durch Christian Brückner, „The Voice“, war einmal mehr ein Hörgenuss von höchsten Graden.
Dass Schauspieler auch singend, gern mit eigener Band, durch die Lande ziehen, ist längst nicht mehr ungewöhnlicher, als dass Mimen sich auch, verschriftlichen, vorzugsweise mit autobiographischem Touch. Dass sie dabei allerdings auch Literatur abliefern, ist die Ausnahme. Manfred Krug und Mario Adorf etwa ist das gelungen. Und Robert Seethaler, der allerdings auch nach seinem fünften Roman („Ein ganzes Leben“) selbst noch nicht recht glauben mag, dass Schriftsteller mittlerweile eine ebenfalls auf ihn zutreffende Berufsbezeichnung ist. Und Hans Zischler, der nach Sachbüchern, einem Kinderbuch und einem Comic nun seinen ersten „nicht bebilderten“ Prosatext vorgelegt hat: „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“. Als Bettina Böttinger die beiden, Seethaler und Zischler, zu diesen ihren jüngsten Werken befragte, war en passant auch zu erfahren, dass jene dünnen, meist bunt bedruckten Blätter, in die Orangen und Mandarinen teilweise immer noch eingeschlagen sind, ein eigenständiges Sammelgebiet darstellen. Sogar ein Museum gibt’s, in Salzgitter. Nicht minder interessant, wie Zischler das über jeden Schriftsteller immer wieder hereinbrechende Problem des ersten Satzes gelöst hat: Er griff auf etwas Vorhandenes zurück. In diesem Fall auf ein Rätsel, wie sie speziell im 19. Jahrhundert sehr beliebt waren: „Ich zog da aus / wo Lumpen einkehrten, / zog in ein Haus, / bewohnt von Gelehrten.“ Das Rätsel wird im Text des Buches übrigens nicht gelöst, bleibt aber trotzdem nicht offen …
Seit Maj Sjöwall und Per Walhöö zwischen 1965 und 1975 ihren Krimi-Dekalog um den Kommissar Martin Beck vorgelegt hatten, entert eine nicht enden wollende Phalanx schwedischer Thriller-Autoren immer wieder aufs Neue die deutschsprachigen Bestsellerlisten. Eines der jüngsten Gewächse firmiert unter Erik Axel Sund – ein Pseudonym, hinter dem sich Jerker Eriksson und Hakan Axlander Sundquist verbergen. Deren vorschriftstellerische Erwerbsbiografien weisen deutliche Merkmale aus der Rubrik „gescheiterte Existenz“ auf. Nun haben sich die Bände ihrer Victoria-Bergman-Trilogie, zwischen Juli und September 2014 überhaupt erst auf Deutsch bei Goldmann erschienen, hierzulande bereits über eine Millionen Mal verkauft, wie Moderator Günter Keil im Gespräch mit den beiden vermerkte, und die erwerbsbiografischen Malaisen dürften damit Vergangenheit sein. Da U-Literatur heute aber zuallererst Ware und der breite Publikumsgeschmack längst vordergründig auf Thrill getrimmt ist, sagen Verkaufszahlen über die mögliche literarische Qualität der Druckerzeugnisse wenig aus. Dazu erbrachte die uninspiriert plappernde Befragung der Autoren durch Keil leider ebenfalls nur wenig Erhellendes, und auch Vorleserin Nina Petri hatte nicht ihren stärksten Tag. Bleibt die Verleihung des Special Award 2012 der Schwedischen Krimiakademie an Erik Axel Sund, was zu der Vermutung Anlass gibt, dass der Wälzer von 1500 Seiten zumindest kein Langweiler zu sein scheint. Denn als einen solchen Wälzer legten die Autoren das Manuskript ursprünglich vor. Der schwedische Verleger hielt diese Form für den sichersten Weg zum kommerziellen Suizid, weswegen dann eine Trilogie daraus wurde.
Nach den Veranstaltungen konnte man im Café im Schokoladenmuseum einen Absacker nehmen und dabei mit manchem prominenten Teilnehmer fast auf Tuchfühlung gehen: Schriftsteller, Vorleser und Moderatoren lassen dort mit schöner Regelmäßigkeit den Abend ausklingen.