18. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2015

Hundetheater (Auszug) – in memoriam Fred Düren

von Eberhard Esche

Es war im Jahre 1963 und in einem Stück von William Shakespeare. „Zwei Herren aus Verona“. Und erleben muß­te es der Schauspieler Fred Düren. Und veranlaßt hatte es der Regisseur Benno Besson. Dennoch trifft sie beide kei­ne Schuld. Den Schauspieler nicht und den Regisseur nicht. Schuld hatte des Hundes Talent. Ich fange an: Düren spiel­te den Clown Lanz, und Lanz hatte mit einem Hund aufzu­treten. So steht es bei Shakespeare. Darum ließ Besson eine Annonce in die Zeitung setzen: Deutsches Theater sucht für eine Inszenierung von Benno Besson einen Hund. Und da Besson meinte, es müsse ein ruhiger Hund sein und Besson nicht nur über Menschenkenntnis, sondern auch über Hun­dekenntnis verfügte, meinte er, ein Hund vom Rentner kön­ne dem entsprechen. Flugs fügte man der Annonce noch den Satz bei möglichst Rentnerhund. Die Annonce war schon 2 Tage später in der Zeitung, und am gleichen Tag waren die Kammerspiele und die danebenliegenden Räume des Deut­schen Theaters ein Hundezwinger geworden. Es hatten sich an die 150 Rentner gemeldet. Die sogar oft über mehrere Hunde verfügten, und so, schätze ich, hatten wir an die 190 meist rasselose Hunde in unseren beiden Theatern.
Spät, aber nicht zu spät, begriff Besson die Macht der Presse und schickte die Herrschaften alle wieder weg, ohne auch nur einen Hund vorsprechen zu lassen. Sich nicht zügelnd, murmelte er: „Rentnerhund stinken nach Rentner, das kann ich in meiner Inszenierung nicht gebrauchen.“ Die­ser unfreundliche Satz wurde nur dadurch gemildert, daß Besson immer ein wenig so tat, als beherrsche er nicht die deutsche Sprache. Gut, die Rentner waren gegangen, die Hunde auch.
Doch wir brauchten einen Hund. Was tun? Horst Büttner hatte die rettende Idee: „Wir haben doch neben dem Thea­ter die Tierklinik der Charite, da können wir doch mal einen Hund fragen.“ Das tat man, und ein Hund sagte zu. Er war ein stiller Hund und war lieb. Er war abgrundtief häßlich, doch wo man ihn hinsetzte, blieb er sitzen, auch Stunden. Ohne Murren und Knurren. Er war fügsam und freundlich und entsprach in jeder Hinsicht der Wunschvorstellung eines jeden Regisseurs der Neuzeit, der sich so den Schau­spieler wünscht. Der Hund war ein Muster der Langmut und Bescheidenheit oder, um nicht um den Brei herumzureden: Der Hund war absolut teilnahmslos. Das aber war die Gold­besetzung für diese Rolle. Denn Lanz sagte von ihm: „Der Hund vergießt keine Träne und spricht während der ganzen Zeit kein Wort, und ihr seht doch, wie ich den Staub mit mei­nen Tränen lösche.“ Mit diesem Hund also trat Düren an jenem Abend, den ich vorhabe zu schildern, auf. Düren stell­te sich in die Mitte der Bühne nahe der Rampe. Der Hund saß neben ihm. Alles wie verabredet. Man nennt das auch inszeniert.
Düren sollte eine kleine Weile ruhig stehen und nicht spre­chen. Düren tat das. Er hielt die vereinbarte Pause. Doch dann läßt er die verklingen und öffnet den Mund, um seinen ersten Satz zu sagen. Doch bevor er den herausbringt, be­ginnen die Leute zu lachen. Düren denkt: Ich habe doch noch gar nichts gesagt, was gibt es da zu lachen. Düren schließt wieder den Mund. Das Lachen verebbt. Düren läßt vereb­ben und öffnet wieder den Mund. Da lachen die Leute wie­der. Noch stärker als beim ersten Mal und länger. Düren läßt den Mund offen und denkt: Ich bin es nicht, dann ist es der Hund. Düren schließt den Mund und wendet seinen Kopf ein wenig nach rechts und senkt ihn nach unten und schaut auf den Hund. Der Hund pinkelt an sein Bein. Dürens Bein. Der Saal tobt. Düren läßt toben. Düren hebt wieder den Kopf. Er blickt stumm in das Publikum. Dann dreht er den Körper nach rechts, zieht die Hundeleine etwas strammer und schleift den Hund, der noch nicht ausgepinkelt hat, zur rechten Seite des Proszeniums. Da kommt er an und bleibt stehen. Dann blickt er wieder stumm ins Publikum. Dann wendet er den Blick zum Hund. Der Hund pinkelt nicht mehr. Die Leute haben sich zur Ruhe gezwungen, nur vereinzel­tes Glucksen tönt noch aus dem Saal. Düren läßt die Ruhe stehen, dann öffnet er den Mund, und der Saal bricht los. So etwas habe ich noch nie erlebt, ein solches unbändiges, ab­solut ungehemmtes Brüllen und Lachen. Im Saal saß eine tobende Meute. Düren denkt jetzt etwas schneller. Er schaut nicht mehr auf den Hund, er schließt nur den Mund und denkt: Jetzt wird der Hund doch nicht geschissen haben? Düren wendet den Kopf nach unten: Der Hund hat geschis­sen. Jetzt ergreift Düren die Initiative, er reißt den Hund an der Leine und steuert wieder den Platz an, den er kurz zu­vor verlassen. Der Hund schleift, auf seinen Hinterläufen sitzend, an der Leine hinter ihm her. Offensichtlich hat der Hund noch nicht ausgeschissen.
Düren erreicht wieder die Mitte der Bühne, der Hund ist noch immer zum Abdrücken bereit.
Düren hebt sein Bein mit der Absicht einen großen Schritt über das erste Malheur zu machen – das Pfützchen. Der Hund ist noch immer nicht fertig. Düren entschließt sich neu, da sich der Hund partout nicht in das Pfützchen ziehen lassen will. Düren wendet und strebt wieder dem soeben verlasse­nen Platz am Proszenium zu. Jetzt läßt der Hund sich nicht mehr ziehen, bereitwillig trottet er neben Düren her. Die Leu­te haben ihr Lachen mit großer Mühe bekämpft, es ist offen­sichtlich, sie haben auch Mitleid mit dem Hund und viel­leicht auch ein wenig mit dem Schauspieler. Düren erreicht den Platz an der Seite der Bühne und bleibt da stehen. Jetzt läßt er den Leuten Zeit. Sich auch. Düren hat bis hierher be­wiesen, daß er so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen ist. Dennoch muß er einmal tief Luft holen. Er tut es, nicht durch den Mund, den hält er geschlossen, er bläht nur die Nüstern, vorsichtig zieht er die Luft ein, er wartet die absolute Ruhe des Saales ab. Düren läßt die Ruhe stehen und die Leute war­ten. Die Leute warten gerne, sie sind sehr still. Und jetzt hält der Schauspieler den Augenblick für gekommen, er kennt sich aus in der Beherrschung eines vollgefüllten Hauses, und tritt einen kleinen Schritt nach vorn – da birst der Saal aus­einander. Menschen stehen auf den Stühlen, andere verlas­sen ihren Sessel und laufen im Gang auf und ab, mögli­cherweise sprechen sie mit sich selbst, weil Lachen auch weh tun kann: „Ich kann nicht mehr.“ – „Hört auf!“ – „Mir tut alles weh.“ – „Ich muß mal.“ – „Ich will nach Hause.“
Düren hatte das ganze Chaos hindurch geschwiegen, er hat­te noch immer kein Wort von Shakespeare gesagt, aber er wußte, er steht in der Scheiße.

Nun aber ist die Geschichte noch immer nicht zu Ende. Zwar hatte der Hund alles erledigt, was er auf der Bühne glaubte erledigen zu müssen. Er hatte die gesamte Palette seines Kön­nens gezeigt. Aber – wie gesagt, Düren hatte noch kein Wort von Shakespeare gesprochen. Er blieb einfach in der Scheiße stehen und blickte stumm, fast ein wenig anklagend in das Publikum. Während des gesamten Vorfalls hatte Fred Düren nicht ein einziges Mal mit der Wimper gezuckt. Er schien, ach, ich will nicht um den Brei herumreden – absolut teil­nahmslos. Und damit ich nicht nur mißverstanden werde – Dürens Meisterschaft bewies sich auch in der Anwendung des Mittels der Beschränkung. Langsam fanden die Men­schen im Saal wieder zu sich. Wer seinen Platz verlassen hatte, nahm ihn wieder ein. Wer sich hilfesuchend in den Arm des Nachbarn gekrallt hatte, löste seine Finger wieder. Man strich sich den Lachschweiß von der Stirn. Man beru­higte sich, wenn auch in Rückfällen. Das Atmen der Men­schen wurde wieder gleichmäßig. Man kehrte wieder zu sich zurück. Das alles wartete Düren mit wirklichem Gleich­mut ab. Der Hund saß still neben ihm. Jetzt endlich war Ruhe im Saal. Düren öffnete den Mund und rief das erste Wort von Shakespeare, und er sprach: „Die ganze Welt ist in großer Verwirrung.“

Damit hatte der Abend seinen Höhepunkt erreicht. Die Sze­ne ist ziemlich am Anfang gelegen, und die Komödie, die noch 3 und eine halbe Stunde lief, bekam keinen Lacher mehr; und die Aufmerksamkeit der Leute auf das Stück war auf Null gefahren. Ein scheißender Hund im Deutschen Theater ist nicht zu überbieten. Durch nichts und nieman­den. Für uns war das bitter. Dem Hund war’s egal.

Aus: Eberhard Esche: Der Hase im Rausch, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2000.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.

Der unvergessene, große Schauspieler Fred Düren ist, 86-jährig, am 2. März 2015 in Israel, wo er seit 1988 lebte, verstorben.

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