18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Querbeet (LI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Hunde, die Eier lecken, ein Jakobiner an der Moldau, Mephisto hinterm Wenzelsplatz und Rosas rosa Startlöcher…

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Hoppla, der etwas ältere stämmige Herr mit breitem Kreuz und strammem Brustkorb geht auch mit seinen 84 Jahren noch locker durch als Kerl. Dazu die silbergraue Mähne, Bart, sinnliche Lippen. Und unter buschigen Brauen die großen Augen, die noch immer so jungenhaft blicken können; oder durchtrieben spöttisch, schalkhaft, verschmitzt. Auch aashaft grinsen können sie. Das hat was Verwegenes, womöglich Schwerenöterisches. – Ja doch, allein schon die körperliche Präsenz von Mario Adorf wirkt magnetisch. Und dann diese Stimme! Modulierend zwischen dunkel samtig und ruppig rau. Dieser Mann kann verführerisch flüstern, aber auch ein Fußballstadion nieder brüllen. Nach seinem verpatzten Vorsprechen an der Münchner Falckenberg-Schauspielschule war er schon unten durch, da sprach die Aufnahmekommission doch noch das rettende Urteil: „Nehmen wir ihn halt zur Probe; der Bursche hat Kraft und Naivität.“
Genau erkannt! Es ist diese goldene Mischung, die bis heute Adorfs Aura prägt, seine phänomenale künstlerische Wirkung – ob im Film oder auf der Bühne und ganz gleich, ob er nun schwere Schurken, diffuse Finsterlinge, tollkühne Abenteurer, saftige Machos, wilde Schürzenjäger oder komische Liebhaber spielt. Dabei hat er das Spielen, das er als „Handwerk“ betrachtet, weniger in Schulen erlernt als beim aufmerksamen Zuschauen großer Kollegen; erst als Statist im Zürcher Schauspielhaus, dann (1955-1962) im Ensemble der Münchner Kammerspiele. Dort waren der Schauspieler Friedrich Domin und der Regisseur Fritz Kortner prägend. Dort entdeckte ihn der weltberühmte US-Regisseur Robert Siodmak und besetzte ihn in seinem Film „Nachts, wenn der Teufel kam“ – eine beispiellose Kino- und TV-Karriere begann; bis heute sind es rund 200 Filme.
Siodmaks Casting in einer Kneipe bestand in der harmlosen Aufforderung, doch mal so richtig „beese“ zu gucken. Und Siodmaks „Schauen Sie mal böse“ gibt denn auch das Motto für Mario Adorfs „Geschichten aus seinem Schauspielerleben“, die er aus mehreren seiner süffig zu lesenden Erinnerungsbüchern zusammengetragen hat für eine Vortragstour durch Deutschland (im Februar in Berlin im Renaissancetheater, Hannover, Bremen, Mannheim, Mainz).
Ja, Adorfs Abend ist köstlich und herzbewegend, lehrreich, kraftvoll und gespickt mit saftiger Komik, die ihm frech, dabei hinterrücks tiefsinnig über die Lippen kommt und durchaus heftig an das frühe schöne Diktum „naiv“ erinnert. Bleibt doch die Schauspielerei für diesen Künstler letztlich immer und im weitesten Sinne Komödiantentum. Dafür müsse er, so sein Credo, immerzu mit unverstelltem, also naivem Blick aufs wirkliche Leben schauen. Wie das so ablief in seinem reichen Künstlerdasein, davon präsentiert Adorf eine ziemlich verrückte, saukomische und gelegentlich auch bitterernste Mischung von Geschichten, Anekdoten, Katastrophen, Glückseligkeiten. Berühmtheiten wie Rühmann und Albers kommen vor (beide werden hinreißend parodiert, auch ein Albers-Liedchen wird geträllert), daneben Wessely, Hörbiger, Heinrich George. Und es geht um Alkohol, Texthänger, Hunger, Armut, Boxen, Wurzen, Sprechtechnik, um Schiller („Carlos“ wird zitiert), um offene Hosenställe, Versprecher, Intendanten, Shakespeare (den berühmten Shylock-Monolog gibt’s im deklamatorischen Kortner-Stil), um diverse Kino- und Bühnentode, um den römischen Papa, die rheinische Mama, um die Kindheit im katholischen Waisenhaus in der Eifel, ums richtige Lachen oder Grienen und warum sich ein Rüde die Eier leckt. Und es geht um die scheinbar harmlosen, doch eigentlich grundsätzlichen Weisheiten seines, Gott hab‘ ihn selig, Zürcher Kollegen Domin: Das wichtigste am Schauspieler sei, dass er eine eiserne Gesundheit habe. „Und dass er stets gut riecht.“

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Großes Getrödel auf der Bahnstrecke Berlin-Prag; es dauert allein schon sein Weilchen, bis man endlich (über Umleitungen) an die Elbe kommt. Dann gemächlich durchs Elbsandsteingebirge; dann in der Ferne Burg Melnik. Melnik „am Zusammenfluss“. Immer wieder kommt mir beim Burg-Blick aus dem Fernzug der DDR-Schlagersänger Lutz Jahoda in den Sinn mit seiner böhmischen Polka. Refrain: „Links fließt die Moldau, rechts fließt die Elbe, Melnik liegt am Zusammenfluss…“ Dann die kleine Station Nelahozeves; hier hält der Zug seltsamerweise immer Tempo, man muss gut aufpassen, um für einen Augenblick das Schloss zu sehen. In Nelahozeves wurde 1841 Antonin Dvorak geboren – Gedenksekunde. Schließlich Prag, mal wieder, auf ganz kurz.
Nebel, Nässe, alles grau in grau. Im Café Slavia gibt’s noch immer eine Raucherecke (nicht mehr lange, stöhnt der Kellner). Starker Kaffee, starke Torten zu für unsereins schwachen Preisen. Der Gang auf die Toilette gleicht dem pompösen Abstieg in eine Krypta, alles feinstes Art-Déco, Jedes Lämpchen, jeder Türgriff echt Messing. Das Klo als Gesamtkunstwerk – wie das ganze Café. Genuss komplex, einschließlich Panoramablick grau in grau auf die prunkende Neo-Renaissance des Nationaltheaters, auf Moldau, Hradschin. In der Dämmerung mit Straßenbahn 22 auf die Burg, die guten alten Tatra-Wagen, unverwüstlich wie Panzer. Oben hübsch kostümierte Ehrenwachen; der Tschechen allerliebster Sinn für Folkloristisches. Dann eine großartige Überraschung: Die Illumination des Veitsdoms! Mächtige Scheinwerfer von außen auf Gotik knallen lassen, das kann jeder, das tun auch die Prager. Aber: In den tausenden Fialen haben sie obendrein noch tausende Kleinscheinwerfer versteckt. So entsteht ein faszinierendes Spiel aus Licht und Schatten, die filigran gegliederte Haut aus Stein gleicht einer riesigen, raffiniert geklöppelten Spitzendecke. Von Ferne gleißt ein grandioser Monumentalbau, aus der Nähe ein feinst ziseliertes Steinwerk.
Abends im Nationaltheater am Graben mit billigsten Billets (100 Kronen). Hoch oben auf der zweiten Galerie ohne Sichtbehinderung Dvoraks wuchtig mit Chor und Ballett angelegte Revolutionsoper „Die Jakobiner“ von 1889, inszeniert als historisches Spektakel im Geschichtsunterricht einer Schule aus der Zeit um 1889. Ist ganz lustig ohne dabei die Wirkungen des groß und effektvoll angelegten Werks allzu sehr zu schmälern. Das Publikum feiert das hinreißend Musikalische und bleibt ansonsten eher unberührt.
Am Abend darauf Premiere „Mefistofeles“ von Arrigo Boito in der neubarocken Staatsoper hinterm Wenzelsplatz (früher Smetana-Theater, noch früher Deutsches Theater). Die Boito-Premiere eröffnete ein bemerkenswertes, von der deutschen Nachbarschaft freilich unbemerktes Festival der nicht wenigen tschechischen Opernhäuser, die mit jeweils einer ihrer bemerkenswertesten Produktion in Prag gastieren. Große Sache!
Diesmal teuerste Billets (1.000 Kronen) für Loge 23 im ersten Rang, in den beiden Pausen gibt’s überraschenderweise und extra serviert fürs Logenpublikum Rotwein und Prosecco in Strömen, Häppchen und Knabberzeug in Massen.
Boitos monumentale „Faust“-Adaption nach Goethe, an der Mailänder Scala 1868 uraufgeführt, hat großes Orchester (Dirigent: Marco Guidarini), große Chöre, braucht starke Stimmen (Mefisto: Stefan Kocan, Faust: Daniel Magdal, Margherita: Christine Vasileva). Die Intendanz hat an nichts gespart, Komparsen und Ballett und mehrere Prager Chöre kommen zum Einsatz im vornehmlich durch geschickten Einsatz von Licht gegliederten Bühnen-Leerraum. Die bekannte Geschichte (Teufelsbündnis, Gretchentragödie, klassische Walpurgisnacht) wird von Regisseur Ivan Krejci klar erzählt und kommt ohne Bühnenbildnaturalismus aus – eine vielgestaltige Lichtregie sowie die Kostümwerkstätten leisten ganze Arbeit. Dazu die wirkungsvollen Arrangements der Massen (Chöre, Ballett, Statisterie) und der Solisten – hinreißend wie das Orchester. Nach dem wuchtigen Finale bringt das Schließpersonal vom Parkett Blümchen für die Solisten und schleppt von Honoratioren gestiftete Blumenkörbe auf die Bühne – die Rampe gleicht dem Strand eines Blütenmeers. Da staunt der Ausländer. Staunenswert auch das Interesse des intelligent und originell geführten Prager Opernbetriebs an bei uns eher links liegen gelassenen Perlen des Repertoires. Und staunenswert natürlich das Leistungsniveau der staatlich subventionierten Prager Opernhäuser ‑ zwei höchst anspruchsvolle Werke, zwei signifikante Beispiele.

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Ein Film von Rosa von Praunheim, ein Film für die schwule Gemeinschaft und ihre Freunde vom frühen Frontmann im Kampf um die Emanzipation gleichgeschlechtlich Liebender. Das Pseudonym R.v.P. nahm der 1942 als Holger Mischwitzky Geborene an in Verbundenheit zum Ort, in den er als Zwölfjähriger kam: den Frankfurter Stadtteil Praunheim. Das Pseudonym trägt aber auch – und das vor allem ‑ im Gedenken an die von den Nazis verfolgten Homosexuellen, die im KZ verschwanden und dort mit einem rosa Winkel am Oberarm ihres Sträflingsanzugs gebrandmarkt wurden.
Der Film heißt „Praunheims Memories“ und erzählt von Rosas Jugend eben dort (erster Kuss, erstes Fummeln, erste Liebe, erste Kunst in Form von Bildern und Gedichten und kurzen Filmchen für den Hessischen Rundfunk); dann, nach dem Abi, vom Studium an der Offenbacher Kunstschule. Danach ging P. nach West-Berlin an die Hochschule für Bildende Künste, studierte dort „Freie Malerei“ und initiierte um 1967 die Schwulenbewegung. Seither gilt er als Schwulenpapst. Und mit dem 1971 uraufgeführten Film trefflichsten Titels „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ avancierte er neben Fassbinder zum berühmtesten schwulen politischen Künstler. Und nach dem Mauerfall wurde er Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg.
Doch davon ist in „Memories“ nicht die Rede. Im reportagehaften Ton geht es sonderlich um den frühen Praunheim in Praunheim und Umgebung. Um alte Freunde, Lehrer, Galeristen, Kumpels, um, und das vor allem, um die frühe Bunderepublik. Und um R.v.P. als wilden Teenager, seine Anfänge als verrücktes Kunst-Huhn und notorisch Unruhe stiftender Politnik, der sich mutig offen zum Schwulsein in eher schwulenfeindlicher Zeit. Eine kleine Zeitreise. Ein sentimental-sarkastisches Zurück in den frühen BRD-Zeitgeist und seiner Zäsur 1968. Bei allem grellen P-Trash und P-Blödsinn doch ziemlich interessant, sonderlich für (vergleichsweise brav) eingeborene Ostler, und nicht nur für die von der schwulen Sorte.