18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Ausgebrannt?

von Heino Bosselmann

Obwohl die Berliner Republik im Ergebnis all der forcierten Gerechtigkeits-, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungskampagnen längst zum Wohlfühlland avanciert sein müsste, häufen sich gegenteilige Signale. Die Dauerpräsenz der Themen Burn-out-Syndrom und Depression in den Medien setzte spätestens mit dem Selbstmord des Nationaltorwarts Robert Enke vor fünf Jahren ein. Seitdem reißen die Ursachenforschungen und all die Ratgebereien zum Problem nicht ab.
Mittlerweile sprechen die Tatsachen: Dass 1,63 Millionen Menschen Rente wegen verminderter Erwerbstätigkeit erhielten, liegt nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung (DRV) vor allem an psychischen Erkrankungen wie Depression und Angstzuständen. Diese waren in 42,1 Prozent der Fälle für vorzeitige Verrentung verantwortlich. Erst mit einem Anteil von knapp 14 Prozent folgen orthopädische Beschwerden, dann Krebs-, Herz- und Kreislauferkrankungen. Noch 1996 ging nur jeder Fünfte wegen seelischer Leiden in die Frührente, aber jeder Vierte wegen Schwierigkeiten mit Skelett und Muskulatur.
„Die Zunahme der Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Erkrankungen ist seit etwa 15 Jahren die bei weitem auffälligste Entwicklung“, heißt es in einem Bericht der DAK. Weiter: „Die Betroffenenquote, also der Anteil der Beschäftigten, die wegen psychischer Diagnosen krankgeschrieben waren, wächst im betrachteten Zeitraum um 131 Prozent. […] Von einem AU-Volumen nahe null im Jahr 2004 erfährt das Burn-out-Syndrom einen steilen Aufstieg und verzeichnet im Jahr 2012 zehn Fehltage pro hundert Versicherte.“ Tendenz steigend. Jüngst meldet der „Depressionsatlas“ der 4,1 Millionen Versicherte betreuenden Techniker-Krankenkasse, dass die auf Depressionsdiagnosen zurückzuführenden Fehlzeiten gegenüber dem Jahr 2000 um 70 Prozent gestiegen seien. Die Verschreibungen von Antidepressiva-Tagesdosen hätten sich gar verdreifacht.
Nach Vermutung der Rentenversicherung liegt das an drei Gründen: Seelisches Leiden sei heutzutage stärker enttabuisiert. Außerdem diagnostizierten die Ärzte sie eher, während ihrerseits die Patienten dies so akzeptierten. Letztlich: Der Wandel der Arbeitswelt von vorwiegend physischer Belastung zu psychischer führe zu höheren Ausfallraten. 36 Prozent der neu hinzugekommenen Erwerbsminderungsrentner sind unter 50 Jahre alt, was im übrigen zu geringen Renten, also zu Altersarmut führt.
Alle sind sich einig: Die Arbeitsbelastungen würden wachsen und mit ihnen der Stress. Während jene, die Arbeit haben, permanent Höchstleistungen bringen müssten, werden die anderen gerade unglücklich dadurch, dass sie, als „Abgehängte“ an die Flexüle der Transfer-Gesellschaft gelegt, zur Untätigkeit verdammt seien.
Wenngleich diese Annahme rundum abgenickt wird, darf man fragen, ob es sich so verhält. Folgernder Einspruch: Die deutsche Arbeitsgeschichte kennt Phasen extremer Hochbelastungen bei vergleichsweise geringen Erlösen. Beispiele für das 19. und 20. Jahrhundert wären schnell bei der Hand. Psychosomatische Erkrankungen waren währenddessen allerdings nie Thema; und den Begriff Stress mochte es wohl gegeben haben, nicht aber als Modewort im Dauergebrauch.
These: Was die Menschen stresst und ausbrennen lässt, dürfte weniger mit arbeitsmedizinisch messbarer Belastung zusammenhängen als vielmehr mit der bedrückenden Wahrnehmung, allzu sinnentleert einer Beschäftigung nachgehen zu müssen, die auf Arbeitgeberseite ausschließlich aus Verwertungsinteressen erfolgt, aus Arbeitnehmersicht aber lediglich noch dem Erwerb von Existenzmitteln dient.
Es gibt dafür einen Begriff, der nicht erst von Marx, sondern bereits von Schelling und Hegel stammt: Entfremdung. Er muss hier nicht erläutert werden. Wichtiger erscheint, dass die Ursachen gegenwärtiger Entfremdungsphänomene nicht nur an engen ökonomischen Zwängen festzumachen wären, sondern vielmehr überhaupt in einem empfundenen Mangel an Sinn und Sinngebung begründet liegen. – In Verkehrung eines Gedankens von Albert Camus: Wir können uns Sisyphos eben nicht immer als glücklichen Menschen vorstellen, schon gar nicht, wenn wir selbst in dessen Rolle sind.
Zum Vergleich: Die Nachkriegsgesellschaft West entwickelte ihr Selbstwertgefühl an Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Ebenso baute die DDR etwas auf. Die stalinistische, dann poststalinistische Ideologie ihrer paar Jahrzehnte mag man zu recht kritisieren, aber viele Menschen, die im Land blieben, inspirierte sie, so wie überhaupt die Systemauseinandersetzung im Kalten Krieg hüben wie drüben die Gesellschaften geradezu konstituierte. Auf der einen Seite: Freiheit statt Sozialismus! Auf der anderen: Sozialismus als Menschheitsbefreiung!
Übrig blieb davon in Europa die eine Welt des Westens. Sie feiert sich als demokratisch und als Bewahrerin der historisch vor recht langer Zeit erstrittenen Menschen- und Bürgerrechte. Aber sie versachlicht immer umfassendere Bereiche und sieht ihr Heil darin, alles und jeden in noch effizientere Verwertungsprozesse einzubeziehen, die in Bezug auf Motivation, Sinnsuche und Glücksbedürfnisse eigentlich nur eines bereithalten – den Konsum. Erfüllbar für jene, die über Einkommen verfügen, immer noch ersehnt von denen, die keines mehr haben.
Darüber hinaus mag manche ein ökologisches Bewusstsein antreiben oder die Suche nach einem alternativen Lebensstil. Aber eine Gesellschaft insgesamt kann das kaum inspirieren. Zumal die Nation als über Jahrhunderte entwickelter Identifikationsraum unter dem Generalverdacht eines verhängnisvollen Sonderweges steht und durch „Europa“ oder die globalisierte „Weltgemeinschaft“ abgelöst werden soll. Beides jedoch sind Abstrakta beziehungsweise Theoreme, mit denen sich der Mensch seinen räumlichen und geistigen Relationen nach schon rational kaum und emotional gar überhaupt nicht verbinden kann. – Und was den engeren Arbeitsprozess abgeht, so denke man neu über die Demagogie der klare ökonomische Sachverhalte verschleiernden Unfugsbegriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach.
Man frage insbesondere Heranwachsende im Jugendalter, was sie bewegt, worauf sie Lust haben, womit sich sinnfüllend ihr Leben verbindet, und man wird wenig hören. Andererseits aber war während der Elbflut 2013 zu erleben, wie diese jungen Leute nach Erlebnis und Bewährung streben und wie sie aus einem Hunger nach echter Leistung für etwas Konkretes, Greifbares, Mitmenschliches zur Höchstform auflaufen, ja geradezu Heldenmut entwickeln! Wo denn sonst gibt es dergleichen noch?
Schulprojekte, Ehrenämter, Bekenntnisübungen zur „Demokratie“ und die gängigen Inszenierungen nach Geschmack des Bundespräsidenten mag man anerkennen, aber sie animieren keine Alltags- und Gesellschaftskultur, die sich krank, müde und ausgebrannt fühlt, weil ihr als Anregung nur die „Effizienzsteigerung des Standorts Deutschlands“ bleibt, die manche zwar eine Menge gewinnen, andere aber das Wichtigste verlieren lässt. Und zwar nicht nur materiell.