17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Wake up!

von Frank Ufen

Viele Blinde leiden unter Schlafstörungen, weil ihre innere Uhr schlecht funktioniert. Denn die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin wird von Lichtsensoren in der Netzhaut reguliert, die auf die Messung von Helligkeitsunterschieden spezialisiert sind. Doch was passiert, wenn Menschen mit intakter Netzhaut tagsüber ständig nur Sonnenlicht in winzigen Dosen, abends und nachts hingegen dauernd übermäßig viel Kunstlicht ausgesetzt sind? Dann – konstatiert der Wissenschaftsjournalist Peter Spork – ist die Gefahr äußerst groß, dass die „master-clock“ im Zwischenhirn aus dem Takt gerät und der Körper seine eigenen Rhythmen nicht mit den zyklischen Prozessen in der Außenwelt synchronisieren kann. Weshalb er dann nicht mehr weiß, ob es gerade Morgen, Mittag, Abend oder Nacht ist.
Eigentlich – behauptet Spork – weiß der menschliche Körper ziemlich genau, wie viel Zeit jeweils vergangen ist und wann er sich mit welchen Aufgaben wie lange zu beschäftigen hat. Dieses intuitive Wissen sei allerdings dem Bewusstsein weitgehend verborgen. Außerdem würden die aufeinander abgestimmten Rhythmen der einzelnen Organe und Zellen nach wie vor mit der Rotation der Erde in Einklang stehen, und das die Menschen der Gegenwart leitende Zeitgefühl sei ein Überbleibsel aus steinzeitlichen Verhältnissen.
In Ländern wie Kroatien, Island, Tansania oder Jamaika gibt es einen derartigen Mangel an Lehrkräften oder Schulen, dass man sich nicht anders zu helfen gewusst hat, als die eine Hälfte der Schüler vormittags, die andere Hälfte nachmittags und abends zu unterrichten. Jeweils nach einer Woche tauscht die eine Gruppe mit der anderen. Dieser rotierende Zweischichten-Unterricht hat laut Spork für die Schülerinnen und Schüler die segensreiche Folge, dass sie viel öfter ausschlafen können.
Der übliche Schulbeginn um 8.00 Uhr hingegen bedeute, dass den allermeisten Jugendlichen abverlangt werde, ständig mit viel zu wenig Schlaf auskommen zu müssen. Spork vermutet, dass dieser anhaltende Schlafmangel in etlichen Fällen zu ADHS oder Fettsucht führt. In seinen Augen ist es deswegen zwingend erforderlich, sich die Erkenntnisse der Chronobiologie zunutze zu machen und den Unterricht für die Mittelstufe frühestens um 9.00 Uhr, denjenigen für die Oberstufe nicht vor 10.00 Uhr anfangen zu lassen.
Überall – erklärt Spork – wird heute nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern dem Großteil der Bevölkerung ein Zeitregime aufgezwungen, das sich rücksichtslos über die dem Körper innewohnenden Uhren hinwegsetzt. Nach Spork sprechen eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass dieser Umstand zur Entstehung von Stoffwechselstörungen, Diabetes, Fettsucht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs ebenso beiträgt wie zur Ausbreitung von Depressionen, Süchten und Burnoutsymptomen. Als Gegenmaßnahmen fordert Spork unter anderem, die Sommerzeit sofort abzuschaffen, die Schicht- und Nachtarbeit so weit wie irgend möglich einzuschränken und tagsüber nur noch kaltweiße, abends und nachts nur noch warmgelbe Leuchtmittel zu verwenden.
Peter Spork neigt dazu, nur solche Forschungsergebnisse anzuführen, die seine Hypothesen zu bestätigen scheinen. Das lässt sich allerdings verschmerzen. Ein exzellentes populärwissenschaftliches Buch, das in erster Linie verdeutlicht, dass es sich früher oder später rächen wird, wenn man auf Dauer die Nacht zum Tage und den Tag zur Nacht macht.

Peter Spork: Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft, Carl Hanser Verlag, München 2014. 248 Seiten, 18,90 Euro.